Seit Joseph Conrads "Heart of Darkness" ist der Kongo Sinnbild für Grausamkeit, Schrecken, rohe Gewalt. Die Figur des Mr. Kurz steht für kolonialistische Gräueltaten. In dieses Herz der Finsternis haben sich Ende des 19. Jahrhunderts nur wenige Ausländer gewagt.
Jahrelang hat David van Reybrouck für sein Buch "Kongo" recherchiert, zehn Mal ist er dorthin gefahren. "Kongo" ist 783 Seiten dick, eine Mischung aus Reisereportage in der Ich-Form, Wirtschaftskrimi, Landschaftsbeschreibung, Geschichtsbuch, Kriegsberichterstattung, Porträt - und Interviewsammlung. Was die Vergangenheit angeht, so beruft sich van Reybrouck vor allem auf afrikanische Historiker und Politikwissenschaftler. Was die Gegenwart angeht, so hat er mit unzähligen Zeitzeugen gesprochen: mit Jazzmusikern, Kriegsveteranen, Politikern, Kindersoldaten, Geschäftsfrauen, Rappern, Anhängern von Kabila, Mobuto, Lumumba. Und deren Stimmen lassen den Kongo so ganz anders klingen, als wir es bisher aus Sachbüchern gehört haben. Wie Liao YiWu in "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser - Chinas Gesellschaft von unten" lässt auch van Reybrouck all jene zu Wort kommen, denen sonst niemand Gehör schenkt. Sein ältester Interviewpartner, Etienne Nkasi gibt sein Geburtsjahr mit 1882 an.
Oft begann er einen Satz und hörte mittendrin auf, mit dem erstaunten Blick von Jemanden, der etwas aus dem Schrank holen will, aber plötzlich nicht mehr weiß, was er sucht. Es war ein Kampf gegen das Vergessen. Nkasi hatte fünf Frauen gehabt. Oder sechs. Oder sieben. Darüber herrschte keine Einigkeit. Er selbst weiß es auch nicht mehr. Im Innenhof saßen immer ein paar Angehörige. Auch über den Umfang seiner Nachkommenschaft schwankten die Schätzungen. Vierunddreißig Kinder war die am häufigsten genannte Zahl.
Der Kongo ist eines der Länder, das unendlich reich an Rohstoffen ist. Es könnte ein wohlhabendes Land sein. Doch die meisten Menschen sind bitterarm. Die Rohstoffe waren schon immer der Fluch, unter dem der Kongo litt. Nicht Segen. Von den ersten furchtbaren Tagen bis zum flirrenden Heute.
Berlin 1884/85. Afrikakonferenz. Die europäischen Kolonialmächte teilen Afrika unter sich auf. Das riesige Gebiet um den Kongo herum wurde zum Privateigentum des belgischen Königs Leopold II. erklärt. Denn in dessen Auftrag hatte Henry Morton Stanley als erster Weißer den Fluss befahren und Handelsmissionen gegründet. Van Reybrouck schildert, wie der Monarch aus Brüssel sich als Menschenfreund ausgegeben hatte, der sich energisch gegen die Sklaverei einsetzen wollte. Was folgte, war für die Kongolesen nicht minder schrecklich als ein Leben in Sklaverei: 125 Jahre unendliches Grauen: Folter, Vergewaltigung, Genozid, Korruption. Die Welt gierte nach Kautschuk und die Kongolesen wurden zum Gummizapfen in die Wälder getrieben. Wer nicht genug ablieferte, der wurde mit der Peitsche gefoltert, die Hände wurden ihm abgehackt. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt, Frauen und Kinder als Geiseln genommen. Über zehn Millionen Menschen sollen unter der Herrschaft Leopold II. ums Leben gekommen sein. 1908 wurde der Kongo an Belgien überschrieben.
David van Reybrouck schildert das kühl, ganz und gar unideologisch. Kongolesische Aufseher waren nicht minder grausam als belgische Kolonialbeamte. 1960 wird der Kongo unabhängig. Es gibt ganze 18 Akademiker im Kongo, keinen einzigen Arzt, keinen Offizier, keinen Ökonomen. Die Politiker sind unerfahren - und uneins. Der erste Präsident Lumumba wird - mit Hilfe des CIA und des belgische Geheimdienstes ermordet. Lumumba trägt bei van Reybrouck keinen Heiligenschein. Er hat einen flackernden Blick und redet wirr vor der UNO. Er ist einfach überfordert. Von 1965 - 1997 herrscht Mobuto Sese Seko. Van Reybrouck gelingt ein packendes Porträt des Herrschers mit der Leopardenmütze, der mit ausländischem Geld unterstützt wurde und im Inland ein Schreckensregime führte, ein Kleptokrat, korrupt und grausam. Und doch erlebt der Kongo in den ersten Jahren seiner Regentschaft auch den wirtschaftlichen Aufschwung. Dann schafft Mobuto im großen Stil Geld ins Ausland. Nach seinem Sturz scheint jeder gegen jeden zu kämpfen. Ein Kampf um kongolesische Bodenschätze, um Minen. Millionen von Kongolesen verlieren ihr Leben.
Die zweite Phase des Krieges dauerte lange an, weil viele daran verdienten, nicht nur die großen multinationalen Konzerne weit weg, nicht nur gerissenen Händler in kleinen klimatisierten Büros, nicht nur die militärischen Machthaber in den Nachbarländern, sondern jeder auf jeder Stufe der Pyramide. Bauern in Nord- und Südkivu verließen ihre kläglichen kleinen Felder, Kinder liefen in Massen von der Schule weg, sogar Lehrer ließen ihren Job in Stich. 'Uns ist klar, dass das Graben nach Coltan keine Lösung für unsere Alltagsprobleme ist,' sagten einige Schürfer, 'aber hier verdienen wir viel mehr als früher.' Profitstreben war nicht der Grund für den Krieg gewesen, doch da nun so viele davon profitierten, dauerte er an. Geschäft und Krieg hielten einander im Klammergriff: Die Wirtschaft war militarisiert, die Gewalt kommerzialisiert.
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Van Reybrouck bleibt stets kühler Beobachter, er richtet nicht, er empört sich nicht, er interpretiert nicht. Er ist ein brillanter Schreiber. "Kongo" ist frei von jedem Klischee, frei von Exotismus. Er hält sich zurück, lässt seine Interviewpartner reden. Was sie sagen, erwartet man so nicht. Aber es klingt erschreckend ehrlich. Ein Kindersoldat erzählt, dass der Krieg für ihn ein Rausch, ein Fluch, ein verbotener Genuss war, ein Spaß, der den Tod mit sich brachte, aber eben doch ein Spaß.
Der Auftritt des Musikers Werrason, des nationalen Idols, des Inbegriffs kongolesischer Coolness, ist kein politisches Statement. Er wird zu einem Triumphzug für den Bierbrauer, der Werrason sponsert. Der Marktanteil der Biersorte steigt von 32 auf 75 Prozent. Van Reybroucks"Kongo" endet mit einer Reise nach China. Wieder verfügt der Kongo über einen begehrten Rohstoff: Coltan. Diamanten, Gold, Edelhölzer gibt es auch. China baut im Kongo Kupfer ab. Kongolesen hingegen reisen nach Südchina, kaufen Handys und verkaufen sie ihm Kongo weiter - für ein Vielfaches dessen, was sie in China gekostet haben. Und Tomatenmark. Und Textilien. Van Reybrouck interessiert sich für einen Stringtanga, der mit der angolanischen Flagge bedruckt ist.
Schnüre und Dreiecke haben die Nationalfarben Rot und Schwarz; das kommunistische Logo - ein Zahnrad, ein Buschmesser und ein Stern im jubelnden Gelb des Tagesanbruchs - ist in der Höhe des Schambeins aufgedruckt. Als ich mich vorsichtig nach dem Preis erkundige, erfahre ich, dass sie nur in Tausendermengen verkauft werden.
Literaturhinweis:
David van Reybrouck: Kongo. Eine Geschichte. Aus dem Flämischen von Waltraud Hüsmert Suhrkamp. 783 Seiten, 29,95 Euro
Jahrelang hat David van Reybrouck für sein Buch "Kongo" recherchiert, zehn Mal ist er dorthin gefahren. "Kongo" ist 783 Seiten dick, eine Mischung aus Reisereportage in der Ich-Form, Wirtschaftskrimi, Landschaftsbeschreibung, Geschichtsbuch, Kriegsberichterstattung, Porträt - und Interviewsammlung. Was die Vergangenheit angeht, so beruft sich van Reybrouck vor allem auf afrikanische Historiker und Politikwissenschaftler. Was die Gegenwart angeht, so hat er mit unzähligen Zeitzeugen gesprochen: mit Jazzmusikern, Kriegsveteranen, Politikern, Kindersoldaten, Geschäftsfrauen, Rappern, Anhängern von Kabila, Mobuto, Lumumba. Und deren Stimmen lassen den Kongo so ganz anders klingen, als wir es bisher aus Sachbüchern gehört haben. Wie Liao YiWu in "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser - Chinas Gesellschaft von unten" lässt auch van Reybrouck all jene zu Wort kommen, denen sonst niemand Gehör schenkt. Sein ältester Interviewpartner, Etienne Nkasi gibt sein Geburtsjahr mit 1882 an.
Oft begann er einen Satz und hörte mittendrin auf, mit dem erstaunten Blick von Jemanden, der etwas aus dem Schrank holen will, aber plötzlich nicht mehr weiß, was er sucht. Es war ein Kampf gegen das Vergessen. Nkasi hatte fünf Frauen gehabt. Oder sechs. Oder sieben. Darüber herrschte keine Einigkeit. Er selbst weiß es auch nicht mehr. Im Innenhof saßen immer ein paar Angehörige. Auch über den Umfang seiner Nachkommenschaft schwankten die Schätzungen. Vierunddreißig Kinder war die am häufigsten genannte Zahl.
Der Kongo ist eines der Länder, das unendlich reich an Rohstoffen ist. Es könnte ein wohlhabendes Land sein. Doch die meisten Menschen sind bitterarm. Die Rohstoffe waren schon immer der Fluch, unter dem der Kongo litt. Nicht Segen. Von den ersten furchtbaren Tagen bis zum flirrenden Heute.
Berlin 1884/85. Afrikakonferenz. Die europäischen Kolonialmächte teilen Afrika unter sich auf. Das riesige Gebiet um den Kongo herum wurde zum Privateigentum des belgischen Königs Leopold II. erklärt. Denn in dessen Auftrag hatte Henry Morton Stanley als erster Weißer den Fluss befahren und Handelsmissionen gegründet. Van Reybrouck schildert, wie der Monarch aus Brüssel sich als Menschenfreund ausgegeben hatte, der sich energisch gegen die Sklaverei einsetzen wollte. Was folgte, war für die Kongolesen nicht minder schrecklich als ein Leben in Sklaverei: 125 Jahre unendliches Grauen: Folter, Vergewaltigung, Genozid, Korruption. Die Welt gierte nach Kautschuk und die Kongolesen wurden zum Gummizapfen in die Wälder getrieben. Wer nicht genug ablieferte, der wurde mit der Peitsche gefoltert, die Hände wurden ihm abgehackt. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt, Frauen und Kinder als Geiseln genommen. Über zehn Millionen Menschen sollen unter der Herrschaft Leopold II. ums Leben gekommen sein. 1908 wurde der Kongo an Belgien überschrieben.
David van Reybrouck schildert das kühl, ganz und gar unideologisch. Kongolesische Aufseher waren nicht minder grausam als belgische Kolonialbeamte. 1960 wird der Kongo unabhängig. Es gibt ganze 18 Akademiker im Kongo, keinen einzigen Arzt, keinen Offizier, keinen Ökonomen. Die Politiker sind unerfahren - und uneins. Der erste Präsident Lumumba wird - mit Hilfe des CIA und des belgische Geheimdienstes ermordet. Lumumba trägt bei van Reybrouck keinen Heiligenschein. Er hat einen flackernden Blick und redet wirr vor der UNO. Er ist einfach überfordert. Von 1965 - 1997 herrscht Mobuto Sese Seko. Van Reybrouck gelingt ein packendes Porträt des Herrschers mit der Leopardenmütze, der mit ausländischem Geld unterstützt wurde und im Inland ein Schreckensregime führte, ein Kleptokrat, korrupt und grausam. Und doch erlebt der Kongo in den ersten Jahren seiner Regentschaft auch den wirtschaftlichen Aufschwung. Dann schafft Mobuto im großen Stil Geld ins Ausland. Nach seinem Sturz scheint jeder gegen jeden zu kämpfen. Ein Kampf um kongolesische Bodenschätze, um Minen. Millionen von Kongolesen verlieren ihr Leben.
Die zweite Phase des Krieges dauerte lange an, weil viele daran verdienten, nicht nur die großen multinationalen Konzerne weit weg, nicht nur gerissenen Händler in kleinen klimatisierten Büros, nicht nur die militärischen Machthaber in den Nachbarländern, sondern jeder auf jeder Stufe der Pyramide. Bauern in Nord- und Südkivu verließen ihre kläglichen kleinen Felder, Kinder liefen in Massen von der Schule weg, sogar Lehrer ließen ihren Job in Stich. 'Uns ist klar, dass das Graben nach Coltan keine Lösung für unsere Alltagsprobleme ist,' sagten einige Schürfer, 'aber hier verdienen wir viel mehr als früher.' Profitstreben war nicht der Grund für den Krieg gewesen, doch da nun so viele davon profitierten, dauerte er an. Geschäft und Krieg hielten einander im Klammergriff: Die Wirtschaft war militarisiert, die Gewalt kommerzialisiert.
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Van Reybrouck bleibt stets kühler Beobachter, er richtet nicht, er empört sich nicht, er interpretiert nicht. Er ist ein brillanter Schreiber. "Kongo" ist frei von jedem Klischee, frei von Exotismus. Er hält sich zurück, lässt seine Interviewpartner reden. Was sie sagen, erwartet man so nicht. Aber es klingt erschreckend ehrlich. Ein Kindersoldat erzählt, dass der Krieg für ihn ein Rausch, ein Fluch, ein verbotener Genuss war, ein Spaß, der den Tod mit sich brachte, aber eben doch ein Spaß.
Der Auftritt des Musikers Werrason, des nationalen Idols, des Inbegriffs kongolesischer Coolness, ist kein politisches Statement. Er wird zu einem Triumphzug für den Bierbrauer, der Werrason sponsert. Der Marktanteil der Biersorte steigt von 32 auf 75 Prozent. Van Reybroucks"Kongo" endet mit einer Reise nach China. Wieder verfügt der Kongo über einen begehrten Rohstoff: Coltan. Diamanten, Gold, Edelhölzer gibt es auch. China baut im Kongo Kupfer ab. Kongolesen hingegen reisen nach Südchina, kaufen Handys und verkaufen sie ihm Kongo weiter - für ein Vielfaches dessen, was sie in China gekostet haben. Und Tomatenmark. Und Textilien. Van Reybrouck interessiert sich für einen Stringtanga, der mit der angolanischen Flagge bedruckt ist.
Schnüre und Dreiecke haben die Nationalfarben Rot und Schwarz; das kommunistische Logo - ein Zahnrad, ein Buschmesser und ein Stern im jubelnden Gelb des Tagesanbruchs - ist in der Höhe des Schambeins aufgedruckt. Als ich mich vorsichtig nach dem Preis erkundige, erfahre ich, dass sie nur in Tausendermengen verkauft werden.
Literaturhinweis:
David van Reybrouck: Kongo. Eine Geschichte. Aus dem Flämischen von Waltraud Hüsmert Suhrkamp. 783 Seiten, 29,95 Euro