Wenn das Staatsorakel befragt wird, ist das für Tibeter ein ganz besonderes Ereignis. Im indischen Exil, in der Bergstadt Dharamsala, stimmen tibetische Mönche das Medium ein, indem sie Langhörner blasen und Gebete sprechen. Ein Mönch ist auserwählt worden, um als Medium des Orakels zu dienen. Er trägt ein langes, farbiges Gewand. Sobald er in Trance gerät, wird er eine Botschaft des tibetischen Schutzgottes Pehar Gyatso wiedergeben. Was dem Staatsorakel dabei über die Lippen kommt, sind Laute einer Sakralsprache, die nur einige wenige Gelehrte dechiffrieren können.
"Das Nechung-Orakel ist das wichtigste religiöse Orakel im tibetischen Buddhismus. Es ist eine Art Resonanzkörper des tibetischen Schutzgottes. Es gibt noch zwei weitere Orakel, die zwischen den Gläubigen und den Schutzgottheiten vermitteln: das Gadong- und das Shugden-Orakel. Aber das Nechung ist das offizielle Staatsorakel", sagt Dorje Damdu vom tibetischen Kulturinstitut in Neu-Delhi.
Das Staatsorakel in Tibet
Staatsorakel kennt man in Tibet seit dem 17. Jahrhundert. Ursprünglich im Nechung-Kloster im tibetischen Lhasa ansässig, ist dieses Orakel heute im neu errichteten Kloster gleichen Namens in Dharamsala beheimatet.
"Wenn die Zeremonie in Gang kommt, sitzt das Medium auf einem Stuhl ohne Lehnen, damit es sich frei bewegen kann. Die Mönche schlagen ihre Trommeln, bis das Orakel den Kopf hin und her wirft, sein Körper von unkontrollierbaren Zuckungen erfasst wird und es schließlich spricht", sagt Dorje Damdu.
Das Staatsorakel wird immer dann befragt, wenn der Dalai Lama und die Exilregierung der Tibeter in Indien wichtige religiöse und politische Entscheidungen treffen.
1959 etwa. Damals marschierten die Chinesen in Lhasa ein. Es ging darum, ob der Dalai Lama in Tibet bleiben oder nach Indien fliehen sollte. Das Nechung-Orakel wurde um Rat gebeten. In Trance forderte das Medium den Dalai Lama damals eindringlich dazu auf, sofort das Land zu verlassen. Es beschrieb sogar den Fluchtweg nach Indien. Doch nicht immer lag das Staatsorakel richtig: 1904 gab das Orakel den Rat, sich auf einen militärischen Konflikt mit der britischen Armee einzulassen. Ein Krieg, der mit einer Niederlage der tibetischen Soldaten endete.
Delphi als Mittelpunkt der Welt
Anders als das tibetische Staatsorakel sind andere Orakel in Vergessenheit geraten.
"Das antike Griechenland und das Römische Reich waren eine Welt voller Orakel. Den Orakeln vertraute man. Es hieß, mithilfe eines Orakels könne man am Wissen der Götter teilhaben", sagt die Historikerin Professor Julia Kindt von der Universität Sydney.
Das bekannteste Medium der Antike war das Orakel von Delphi im antiken Griechenland.
"Das Orakel von Delphi hat eine über 1000-jährige Geschichte, von 850 vor Christus bis in die späte Antike. Es hat etwa 600 Fragen beantwortet, so die Überlieferung. Wirklich beeindruckend!", sagt Kindt.
Delphi galt lange Zeit als Mittelpunkt der Welt. Hier wurde der Gott Apollon verehrt. Apollon teilte sich Ratsuchenden durch das weibliche Medium Pythia mit.
"Als Orakel bezeichnet man zunächst einmal jene Institution, wo die Weissagung stattfindet, also einen Tempel zum Beispiel oder einen Schrein. Aber auch die Person, die an diesem Ort wirkt, wird Orakel genannt", sagt Kindt. "In der Antike handelte es sich dabei meist um eine Frau. Bevor dieses Orakel befragt werden konnte, musste eine Art Steuer gezahlt werden. Wenn man Pech hatte, bekam man eine Antwort, die mit der Frage nichts zu tun hatte."
Gelegentlich kamen auch Staatsmänner nach Delphi, etwa um herauszufinden, ob sie einen Krieg gegen ein anderes Land riskieren sollten. Doch die meisten Ratsuchenden waren einfache Leute.
"Es kam vor, dass das Orakel die Ratsuchenden aufforderte, ihre Frage noch einmal zu überdenken und dann selbst zu einer Entscheidung zu kommen. Manchmal schrieben die Menschen ihre Anliegen auf kleine Bleitafeln und übergaben sie dem Medium. Tausende dieser Bleitafeln sind überliefert. Sie belegen, dass die Leute überwiegend persönliche Fragen gestellt haben. Zum Beispiel: Ist es das Richtige für mich zu heiraten? Oder auch: Werde ich einmal Kinder bekommen?"
"Rinder-Orakel" in Kambodscha und Thailand
Bis heute wenden sich Menschen mit ihren Fragen an Orakel. In Kambodscha zum Beispiel gibt das sogenannte "Rinder-Orakel" Auskunft darüber, wie die nächste Ernte ausfallen wird. Bei dieser uralten Zeremonie wird Rindern des Königshofes eine Auswahl verschiedener Futtersorten angeboten. Wenn die Tiere sich für Reis, Bohnen und Mais entscheiden, sind alle erleichtert.
Auch im benachbarten Thailand finden diese Zeremonien statt - zuletzt im Beisein des damaligen Kronprinzen, mehrerer Astrologen und zweier Ochsen. Die Rinder entschieden sich für das "richtige" Futter. Damit war für viele Thais klar: Die verheerende Dürreperiode wird bald zu Ende gehen.