Der Wald - das sind der Staatsforst von Verdun und der Staatsforst von Mort Homme, im Department Meuse in Nordfrankreich, der eine rechts, der andere links der Maas nördlich der lothringischen Stadt Verdun. Beide zusammen bedecken eine Fläche von 12.416 Hektar. Das sind 0,14 Prozent des nicht bewirtschafteten europäischen Waldes. Immerhin.
Der Wald, von dem hier die Rede ist, ist ein sehr junger Wald. Erst seit 1929 wachsen auf seinem Boden Schwarzkiefern, die bis 1933 auf 5.000 Hektar angepflanzt wurden und Rottannen, die 3.500 Hektar einnehmen. Seit 1974 gibt es in ihm auch Buchen, hier und da, in nicht ganz so großem Umfang wie die Nadelhölzer.
Zwischen diesen Anpflanzungen und dort, wo sie nicht vorgenommen wurden, findet sich undurchdringliches Gehölz, von wilden Rosen und Waldreben durchwachsen, aus Lärchen, Eichen, Ebereschen, aus Weißdorn und Sanddorn, Wacholder und Holunder, von Wildblumen und Sumpfgewächsen am Rande schillernder Tümpel durchwirkt - verkrüppelt, niedrig, wuchernd, dunkel und duftend, geheimnisvoll, unbetretbar...
Amtliche Verlautbarung
Die Gegend um Verdun ist stets ein waldreiches Gebiet gewesen. Im Zuge der Industrialisierung jedoch wurde selbst der dichte Argonner Wald erheblich dezimiert. Dieser Trend konnte im 20. Jahrhundert durch Zugewinne aufgehalten werden. Denn das Terrain, auf dem sich heute die Staatsforste Verdun und Mort Homme befinden, war noch nach der Jahrhundertwende zu zwei Dritteln anders genutzt: Hier befanden sich Äcker, Straßen, Wiesen, Obstbaumplantagen und Dörfer wie Fleury, Vaux oder Douaumont.
Dieses Areal wurde in den Jahren 1929 bis 1933 in einer im europäischen Raum bis dato beispiellosen Aktion wiederaufgeforstet, und zwar zunächst ausschließlich mit Nadelgehölzen, um die zerstörte Humusschicht des Bodens wiederherzustellen. Wo sonst Wüste gewesen wäre, heißt es in einer amtlichen Veröffentlichung, konnte somit nach 60 Jahren bereits mit der Anpflanzung der anspruchsvolleren Laubhölzer begonnen werden. Wo die natürliche Entwicklung drei oder vier Jahrzehnte benötigt hätte, bewirkte menschlicher Eingriff eine Besserung bereits in kürzester Zeit.
Vom Waldmachen I
Wie umfangreich, lautet da die Frage, muss eine Zerstörung sein, damit menschlicher Eingriff so große Besserung bewirken kann? Ein was oder ein wer zerstört einen Humus - diese kostbaren dreißig Zentimeter, diese hauchdünne Haut mit ihren empfindlichen Kapillaren, mit ihren Bakterien und Pilzen, Milben und Asseln, Springschwänzen und Regenwürmern?
Die Schwarzkiefern und Rottannen des Staatsforstes von Verdun und Mort Homme stehen auf einem Boden, der 1916 seines Humus verlustig ging. Sie stehen auf einem Boden, der mancherorts bis in zehn Meter Tiefe um und um gewühlt wurde. Sie stehen auf der Höhe des Mort Homme, des Toten Mannes, die vor 1916 um sechzehn Meter höher in die Landschaft ragte. Sie stehen auf der Côte 304, die aus ähnlichen Gründen heute eigentlich Höhe 297 heißen müsste. Sie stehen auf den fein zermahlenen Trümmern des Dorfes Fleury. Sie stehen über dem eingestürzten Bunkernetz unter dem ehemaligen Dorf Douaumont. Sie stehen auf den Überresten der Tunnelsysteme Gallwitz und Kronprinz. Sie stehen über einem Betonbunker im zerstörten Dorf Haumont, der bei seinem Einsturz 80 französische Soldaten und zwei Maschinengewehre unter sich begrub.
Gebrauchsanleitung
Wie zerstört man einen Humus? Vielleicht so: Man nehme den Wald von Caures im Februar 1916. Man nehme hinzu auf einer Länge von gut einem Kilometer und in einer Tiefe von vielleicht 800 Metern zwei französische Jägerbataillone - etwa 1.200 Mann. Man konfrontiere diese 1.200 Mann in ihren von vorhergegangenen Angriffen fast plattgewalzten Schützengräben mit einer Übermacht von vier deutschen Infanterieregimentern und deren Waffen.
Man denke sich unter diesen Waffen etwa 40 schwere Batterien, sieben Feldartilleriebatterien und 50 Minenwerfer. Man lasse auf dieses schmale Kampfgebiet 80.000 schwere Geschosse niedergehen - das sind vielleicht 10.000 Tonnen Eisen, Blei, Kupfer, die von Nitrotoluol zerfetzt und in die Luft, in den Boden, in die Leiber getrieben werden. Man lasse pro Minute 20 Stück dieser Geschosse explodieren, den Boden aufreißen, die so geschaffenen Trichter mit dem nächsten Einschlag wieder zuschütten, bis der Boden jene von Fotos vertraute Dünung angenommen hat, aus der hier und da ein verkohlter Baumstumpf wie ein überdimensionierter Spargel ragt.
Man übertrage solches auf ein Gebiet von schätzungsweise 26.000 Hektar. Man versuche, sich vorzustellen, wie auf dieses Gebiet weit über 20 Millionen Granaten und Minen niedergehen: 240.000 Abschüsse und Einschläge pro Tag oder 10.000 Explosionen in der Stunde.
Mythen
In zehn Monaten - vom Februar bis zum Dezember 1916 - entstand bei Verdun eine 260 Quadratkilometer große Wüste, ein riesiger, stinkender Schutthaufen, ein Leichenfeld. Diesen Boden betraten um die zweieinhalb Millionen Soldaten mitsamt Waffen, Baumaterial, Gepäck, Schanzgerät, Rationen. Wie viele Menschen in diesem Boden verblieben sind, verdeckt der Mythos von Verdun, demzufolge der Erste Weltkrieg hier die größte Anzahl von Toten pro Quadratmeter hinterlassen habe. Wahrscheinlich sind während der Kampfhandlungen um die 6.000 Männer pro Tag auf dem Schlachtfeld umgekommen, 300.000 insgesamt, Deutsche und Franzosen fast gleichauf. Nicht alle liegen dort begraben. Aber viele.
Vom Waldmachen II
Der Wald ist Kulturlandschaft besonderer Art: Künstlich ist sogar die Urwüchsigkeit dort, wo der Wald bis heute unbetretbar ist. Damit dieser Wald entstehen konnte, mussten zunächst andere Kulturlandschaften beseitigt werden, zum Beispiel die Dörfer und Bauwerke, die dort zuvor den Boden besetzt hielten. Und das ging etwa so:
Im Januar 1916 begannen deutsche Pioniertrupps, die Kirchtürme in den Etappendörfern zu sprengen, um zu verhindern, dass die feindliche Artillerie diese weithin sichtbaren Bauwerke als Orientierungspunkte für die Justierung ihres Geschützfeuers nahm. Auch historische Bauwerke wie die Abtei von Montfauçon, die im Laufe von Jahrhunderten sieben Eroberungen und Zurücknahmen mehr oder weniger heil überstanden hatte, mussten den Erfordernissen des modernen Krieges weichen. Das Dorf Fleury und das Werk Thiaumont wechseln im Sommer 1916 viermal den Besitzer. Das Dorf Samogneux ist von französischer Armee mit gewaltigem Aufwand im Februar genommen worden - in Verkennung dessen, dass es entgegen anderslautenden Gerüchten noch in französischer Hand ist.
Nach diesem Hin- und Herwogen bietet keines der umkämpften Gebiete besondere Vorzüge mehr. Alles ist die gleiche Stein- und Schlammwüste, bloßes Terrain, das um jeden Preis zu halten sich beide Seiten verpflichtet haben. Es ging um nichts, oder vielmehr: um ein paar Meter Boden. Nackten Boden, von allen - fast allen - menschlichen Zutaten befreiten Boden. Der Boden, in dem heute die Wälder von Verdun und Mort Homme wurzeln.
Bodenbefreiung
Landwirtschaft findet sich dort, wo keine Wälder stehen. Landwirtschaft ist ein sozusagen natürlicher Widersacher des Waldes, ist dem Wald feind. Denn Dörfer, Äcker, Wiesen bedürfen des von Bäumen befreiten Bodens. Wo Wälder sind, gedeiht keine Landwirtschaft. Wo es Wälder geben soll, kann keine menschliche Ansiedlung bestehen. Wälder also bedürfen des von Dörfern, Äckern und Wiesen befreiten Bodens. Dies ist 1916 geschehen.
Das ehemalige Schlachtfeld rechts der Maas wurde nach 1918 von der französischen Regierung zur "Zone Rouge" erklärt. Zunächst mussten Kriegsgefangene das Gelände säubern. Dreißig bis vierzig Tonnen Kriegsmaterial sind innerhalb von zehn Jahren von jedem Hektar entfernt worden. Doch damit ist der Boden noch längst nicht von allen Hinterlassenschaften des Krieges befreit. Die Aufräumungsarbeiten waren mit Lebensgefahr verbunden, denn immer wieder explodierten Blindgänger, wie jene unzähligen Granaten, die französische Artillerie im März 1916 vom Bois Bourrus aus auf deutsche Trupps am linken Maasufer regnen ließ und die im weichen Uferschlamm ohne zu detonieren versanken. Auch auf anderen, weniger heiß umkämpften Abschnitten der Verdun-Front gab es Nachkriegsverluste unter der Zivilbevölkerung - so etwa, wenn ein Bauer beim Pflügen auf eines der vielen im Boden verbliebenen aktiven Geschosse traf.
Die Spuren sind allgegenwärtig. Man kann die große Schlacht vor fast hundert Jahren noch an den Eindrücken erahnen, die Artillerieeinwirkung und Schützengräben bis heute in der Landschaft hinterlassen haben. Und bestimmt lagern noch viele Tonnen Sprengstoff im Boden. In manchen Abschnitt dieser riesigen Müllkippe hat man, so heißt es, nach 1918 selbst die Kriegsgefangenen nicht hineingeschickt. Man hätte sie zu Todeskandidaten gemacht.
Geschichtsloser Raum
Nicht nur dort, wo Menschen bis heute keinen Fuß hinsetzen sollten, ist das Gebiet der Schlacht von Verdun aus dem Kontinuum herausgerissen. Es ist ein mit Geschichte getränkter und umso geschichtsloserer Raum. Die Zeit ist stillgestellt. Die Menschen haben sich diesen Boden derart unterworfen, dass sie sich nun von seiner künftigen Nutzung ausgeschlossen haben. Er ist aus dem Fortschritt, der beständigen Umwälzung herausgesprengt und kann, auf der Grundlage von Verwüstung und Verseuchung, ein ungestörtes Eigenleben entwickeln.
Der Wald von Verdun und Mort Homme illustriert auf besonders paradoxe Weise das Verhältnis von Krieg und Natur. Der Wald, der, ungeachtet aller Kultivierung und Bewirtschaftung, noch als Naturmacht erscheinen mag gegenüber menschlichen Ansiedlungen oder Ackerbau, hat sich hier als gefräßiges Ungeheuer entpuppt und zeigt ein wenig romantisches Gesicht.
Dreierlei hat er sich einverleibt: Einmal die Überreste des alten Waldes, der nach getaner Arbeit des Krieges nur noch in Stümpfen aus der Schlammwüste ragte. Zum anderen die Überreste der zerstörten menschlichen Ansiedlungen und Bauwerke, der Dörfer und Befestigungen. Drittens aber hat er, neben den Menschen, den Soldaten, auch alle anderen Paraphernalia des Krieges verschlungen. Der Wald wurzelt in einem Boden, der nicht nur Totenteile enthält, sondern womöglich auch Sedimente der verschiedenen Giftgase, die im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden - Chlorgas, Lost, Phosgen. Hinzu kommen Masut-Öl, das in den Feuerwerfern verbrannt wurde; Chlorkalk zum Desinfizieren der Leichen; Metalle jeglicher Art, Waffen, Stacheldraht, Planken, Befestigungen für die Schützengräben und so weiter und so fort.
Kulturdünger
Der menschenfressende Wald ist nachgerade das Sinnbild jenes von Modris Eksteins sogenannten spezifischen "Vitalismus", demzufolge noch aus der schlimmsten Zerstörung neues Leben wachse - eine Vorstellung, die während und nach dem Ersten Weltkrieg auf allen Seiten eine große Rolle spielte. Der Bericht eines der vielen, die in den 20er Jahren das Schlachtfeld von Verdun besuchten:
"Es ist Frühling. Die Natur deckt die Erde mit einem dünnen Tuch. Primeln schießen saftig in die Höhe und wackeln im Winde. Diese Schlüsselblumen sind viel voller und größer denn anderswo. Sie haben guten Boden."
Die Botschaft: Was immer der Mensch sich und seinesgleichen antun mag, wie sehr er auch mit seiner Selbstvernichtung seine Umgebung mitzerstört - am Ende siegt die Natur in ihrem ewigen Kreislauf und nährt sich auch noch, sinnfälligerweise, von den Überresten ihrer Vernichter. Alles ist wieder gut.
Diese idyllische, ja entlastende Hoffnung auf die Selbstheilungskräfte der Natur ist nicht nur, heutigem Empfinden nach, widerwärtig, sie ist auch, wenn man einmal zusammenfassend betrachtet, was sich über den Boden des Waldes von Verdun in Erfahrung bringen lässt, falsch. Noch Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war, so will es die Legende, die Chance dort um ein vielfaches größer, sich eine gefährliche Infektion zuzuziehen. Das mag bezweifelt werden. Doch eines ist gewiss: dass das Schlachtfeld nach 1918 einen guten, gesunden, fruchtbaren Boden gehabt habe, kann ernsthaft nicht behauptet werden. Nicht nur Pietät verhinderte seine Wiederbesiedlung durch die einst vertriebenen Bauern. Er war für Landwirtschaft nicht mehr geeignet, war verseucht und vergiftet und er ist es wahrscheinlich noch heute.
Topografie des Krieges
Mit dem Ersten Weltkrieg hat sich etwas drastisch verändert, was man erst seither "Kriegslandschaft" zu nennen gewohnt ist - zuvor hatte man von "Theater" wie in theatrum belli gesprochen. Diese Naturalisierung des ja erstmals (den amerikanischen Bürgerkrieg beiseitegelassen) im hohen Maße mechanisierten Krieges entsprach indes nicht nur dem Geist der Zeit, sondern fand, sozusagen, Nahrung auf dem Schlachtfeld selbst, in der Art und Weise, wie der Krieg in den Boden selbst eindrang und wie der Boden sich über das Geschehen legte.
Vom Sprengen des Gartens I
Die Massengräber, Tausende davon, zwischen Wiese, Rübenfeld und Wald; die Monumente, Totenhallen, Kapellen, Denkmäler und Felder weißer Kreuze bis an den Horizont, unter denen die Leichenteile von Neufundländern, Engländern, Kanadiern, Franzosen, Südafrikanern, Deutschen liegen - manchmal vielleicht sogar der Männer, deren Namen oben auf den Kreuzen und Steinen steht, mitsamt Rang, Geburts- und Todestag: Das ist die Somme und ihre Gräber. Die ziehen noch immer, 100 Jahre später, die Menschen in die ansonsten nicht mit Attraktionen gesegnete Picardie im Norden Frankreichs.
Frühere Reisende berichten von der umwölkten Stimmung, die über diesem Landstrich hänge; von wortkargen und misstrauischen Bauern, deren Pflüge noch heute auf alte Blindgänger träfen, auf Stacheldraht und Knochen, auf Geschoßhülsen, Bajonette, Koppel, auf menschliche und andere Teile der großen Maschinerie, die hier wütete; von einem Geruch nach rostigem Eisen sogar. Und gegen Abend lasse die tief stehende Sonne noch die Umrisse der Schützengräben erkennen.
1918 glaubte man, die Spuren des Krieges würden nie vergehen. 1918 hoffte man, die Spuren blieben immer gegenwärtig, zur Belehrung der Menschen: die zerstörte Tuchhalle im zerstörten Ypern. Die zerschossene Kathedrale von Amiens. Und die Basilika von Albert, so, wie sie bis kurz vor Kriegsende aussah, für beide Seiten von tiefer Symbolik. Die goldene Madonna mit Kind, hoch oben auf dem Neubau, stand nach Beschuss nicht mehr aufrecht und strahlend, sondern hing abgeknickt herunter, so, als würfe sie sich selbst oder den Sohn Gottes angesichts der schauderhaften Geschehnisse jeden Moment in den Abgrund. Das meiste ist wieder aufgebaut. Auch Péronne, an dessen Rathaus die deutschen Truppen bei ihrem Abzug ein Schild hinterlassen hatten: "Nicht ärgern, nur wundern."
Troglodyten
Mancherorts kann man die weich gespülten Konturen der ehemaligen Schützengräben hüben und drüben des Niemandslandes noch erkennen, dieser neuen Kriegsortschaften, die Horden von Höhlenbewohnern beherbergten. Im Laufe des Krieges entwickelte sich eine Schützengrabenphilosophie der Nationalcharaktere, wonach die Gräben der Franzosen zynisch, effizient und vorübergehend angelegt seien, die der Engländer amateurhaft und planlos, die der Deutschen hingegen sauber, pedantisch und dauerhaft.
Die Höhlenbewohner lebten in einer Welt, die zwischen Belgien und dem Elsass nur aus Erdwällen und Tunnelsystemen bestand. Tatsächlich hätte man die Strecke zwischen Nieuport und Mulhouse wohl zu Fuß durch das verbundene System der Schützengräben bewältigen können. Ein englischer Soldat fantasierte beim Geräusch feiernder Deutscher im Schützengraben gegenüber, die dabei ihre Essensnäpfe aneinanderschlugen, dieses Geräusch setze sich wie eine riesige Welle, wie eine laute Post, bis nach Belfort und Mulhouse fort.
Heimaterde
Eine Epoche, die Zeit der Pax Britannica, war zu Ende gegangen, die nun im Rückblick verklärt erschien - bezeichnenderweise in Metaphern der Natur, deren Idylle in den finsteren Erdlöchern umso nachhaltiger wirken musste, als sich hier nur ein sehr beschränkter Ausblick auf den Himmel eröffnete. Doch die Existenz im Bauch der Erde, im Angesicht nur des Himmels, bedeutete für sensible Gemüter vielmehr eine Entwertung, eine Vernichtung der Natur. So etwa für den Maler Paul Nash, der plötzlich, an der Westfront, den Realismus der modernistischen Manier erkennt. Nash schreibt 1917 nach Hause:
"Sonnenuntergang und Sonnenaufgang sind die reine Blasphemie, sie machen sich über die Menschen lustig. Nur der schwarze Regen aus den blaugeschlagenen und geschwollenen Wolken die ganze bittre schwarze Nacht hindurch passt zu der Atmosphäre eines solchen Landes. Der Regen peitscht, der stinkende Schlamm nimmt ein bösartiges Gelb an, die Granattrichter füllen sich mit grün-weißem Wasser, die Straßen und Wege sind zentimeterhoch mit Schleim bedeckt, die schwarzen sterbenden Bäume triefen und schwitzen und das Artilleriefeuer hört niemals auf."
Natur ist nichts mehr, bei dem man sich sicher fühlen kann. Natur ist keine Heimat mehr.
Niemandsland
Für den amerikanischen Autor Paul Fussell, der ein viel beachtetes Buch über die Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs vor allem in der britischen Literatur geschrieben hat, sind die Schützengräben der Westfront Ausgangspunkt der polarisierten Weltsicht, die dem 20. Jahrhundert seinen Totalitarismus beschert hat. Die Schützengräben und das Niemandsland, die Unsichtbarkeit des Feindes, ein auf nackten Boden und den Himmel zusammengeschnurrter Kosmos und die sinnlichen Sensationen von Leichengestank und Geschützdonner erzeugten Bilder eines furchterregenden Gegenübers: eines Feindes, dessen man ja nicht mehr ansichtig wurde.
Dieses Grauen wurde verstärkt durch das militärische Ritual des Morgen- und Abendappells, zu dem man schweigend über die Wüste des Niemandslandes in Richtung Feind blickte, um sich schaudernd vorzustellen, dass sich dort drüben eine graue Linie erhebt und im Nebel und Zwielicht langsam näher kommt. Monate-, jahrelang sahen englische Soldaten zweimal am Tage mit Angst und Erschütterung das, was über ein Jahrhundert lang der romantischen Poesie als Zeichen von Hoffnung und Frieden galt - Sonnenauf- und -untergang. Das Zwielicht, so Fussell, wurde zum Charakteristikum des Ersten Weltkriegs.
Heutige Historiker sehen das anders. Gewiss, die Sensation eines "leeren Schlachtfeldes" war eine der neuen Erfahrungen, die der Erste Weltkrieg bereit hielt. Das Verhängnis aber war nicht der konkrete Feind, mit dem man ja das gleiche Schicksal teilte, sondern die rasende Maschinerie des industrialisierten Krieges. Nicht nur zu Weihnachten gab es versöhnende Momente zwischen den gegnerischen Soldaten. Man hasste nicht, jedenfalls nicht außerhalb des Angriffs. Man litt, einer wie der andere. Der Schrecken des Ersten Weltkriegs gehört zum gemeinsamen Erfahrungsgepäck der Europäer und deshalb dürfen sie auch gemeinsam trauern.
Heilige Erde
Das Naturhafte des Krieges, die Natur im Krieg, der Krieg als Gestalter der Natur, die Natur als Siegerin über die Zerstörung - all dies spielte in der Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges unter Zeitgenossen, aber auch unter Nachgeborenen eine große Rolle. Ein triumphalistischer Vitalismus, demzufolge aus jedweder Zerstörung die Auferstehung folge, war allerdings nicht jedermanns Sache. Die Schriftstellerin Vera Brittain beklagte, wie viele Besucher der Schlachtfelder der Westfront in den 20er Jahren, dass man vom Grauen nichts mehr zu sehen bekomme, von jener zerstörten Landschaft, die schon 1917 Ziel von Schlachtfeldbesichtigungen war, organisiert von Michelin oder Pickford.
Man glaubte damals an das Aufklärerische des Grauens, aber ebenso an das Faszinierende, das Heilige dieser Erde, die doch auch von englischem Blut getränkt war. Ein junger britischer Offizier entwickelte bereits 1915 die Vision eines Pilgerpfads durchs Niemandsland, an dessen Rand Bäume gepflanzt werden sollten - schattenspendende Bäume, aber auch Obstbäume: Damit, so die Begründung, der Boden nicht gänzlich brach liege. Winston Churchill schlug im Januar 1919 der britischen Imperial War Commission vor, von den Belgiern das in Schutt und Asche gelegte Ypern zu kaufen. Die Begründung:
"Einen heiligeren Platz für die britische Rasse gibt es auf der ganzen Welt nicht."
Klatschmohn
Bei den Briten ist die Mohnblume Symbol für den Ersten Weltkrieg - weil poppies damals an der Somme das ausgebrannte Schlachtfeld wie eine rote Flamme bedeckt haben sollen. Vielen britischen Zeitgenossen aber erschien dieser Sieg der Natur, gerade da, wo er etwas Tröstliches darzustellen scheint, als etwas Obszönes. Vera Brittain schrieb nach einem Besuch an der Somme:
"Die Natur hat sich mit der Zeit verschworen, um uns um unsere Erinnerungen zu betrügen; Gras ist über die Granattrichter bei Ypern gewachsen und die kultivierten Felder der fleißigen Bauern haben die Hütten auf den Feldern von Étaples und Camiers ersetzt, in denen ich die Verwundeten gepflegt habe während des großen Rückzugs von 1918."
Doch man hatte sich beim Gedenken an die große Katastrophe zunächst auf den Vitalismus geeinigt, auf die Identifikation von Mensch und Natur, wie George L. Mosse in seinem Buch über den Kult der Gefallenen meint. So konnte man die Zerstörung in die Hoffnung auf Auferstehung verwandeln und das Desaster in den natürlichen Zyklus einbinden. Mosse schreibt:
"Die Natur diente dazu, den Schrecken des Krieges durch die Verbindung von Schönheit und Ordnung zu verschleiern, wie sie auf den rekonstruierten Schlachtfeldern [...] so augenfällig ist. Diese neue Landschaft war ein wesentlicher Bestandteil des Mythos der Kriegserfahrung; sie bedeutete, dass die Erinnerung sich einfacher mit Bewältigung verbinden konnte."
Vom Sprengen des Gartens II
"Some corner of a foreign field/That is for ever England"
Die englischen Soldatenfriedhöfe in der Picardie scheinen diese Zeilen aus einem Gedicht von Rupert Brooke (gestorben 1915 auf dem Weg nach Gallipoli) unterstreichen zu wollen. Sie versammeln Sträucher, Stauden, Gewächse - Rosen vor allem -, die zur Eigenart eines englischen Gartens gehören. Das Bild des pastoralen, unendlich friedlichen, unendlich fernen England, das mancher Soldat mit in sein schlammiges, stinkendes Grab genommen haben dürfte, entfaltet einen duftenden Widerschein auf seinem Grab. "Roses of Picardie" heißt ein beliebtes englisches Soldatenlied.
Die deutschen Soldatenfriedhöfe sehen anders aus als die den Dorffriedhöfen in England nachempfundenen englischen Soldatenfriedhöfe. Die deutsche Kriegsgräberfürsorge verfolgte andere Vorstellungen als die der Imperial War Graves Commission: Sie präferierte den "heroisch-tragischen Geist" anstelle des angeblich verspielten Gestus der Briten und zog den Baum vor als Symbol des "natürlichen" Bündnisses zwischen Zerstörung und Auferstehung. Wahrscheinlich entspricht das dem Empfinden vieler deutscher Soldaten. George Mosse zitiert die Stimme eines Soldaten in einer Schützengrabenzeitung von 1916:
"Der Wald, der die Linien umgibt, teilt das Schicksal mit den Soldaten, die darauf warten, über den Wall vorgehen zu müssen, und wenn Wolken die Sonne verdecken, vergießen die Fichten, wie die Soldaten unter ihnen, Tränen endlosen Schmerzes. Der Wald wird gemordet ebenso wie der Soldat sicherlich sterben wird, der den Angriff anführt."
Der deutsche Gartenarchitekt Willi Lange schlug 1917 vor, die deutschen Soldaten damit zu ehren, dass man jedem Gefallenen in der Heimat eine Eiche pflanzte. Inmitten solcher "Heldenhaine" sollte eine Linde stehen, um die Anwesenheit des Kaisers zu symbolisieren. Bei den Heldenhainen, die schließlich geschaffen wurden, stand indes eine sogenannte "Friedenseiche" im Mittelpunkt und als Monument diente ein Felsblock, der Urkraft und deutsches Schicksal symbolisieren sollte. 1932 wurde ein offizieller Wettbewerb ausgelobt für einen Reichsehrenhain im Waldgelände bei Bad Berka in Thüringen, zwischen Tannroda und Blankenhain, zu dem 1828 Entwürfe eingingen. Die Nationalsozialisten verzichteten auf die Umsetzung.
Epilog
Der menschenfressende Wald: Die Dialektik des Ersten Weltkrieges schuf Raum für ungestörtes Wachsen, weil zuvor der Mensch in einer ungeheuren Vernichtungsaktion alle vorhergegangenen Eintragungen der Kultur in die Natur mit Stumpf und Stiel ausgelöscht hat. Die Natur überwindet alles, ohne zwischen gut und böse zu unterscheiden. Natur ist keine Heimat. Sie war es, im Übrigen, nie.
Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin, arbeitet als freie Publizistin und schreibt unter dem Pseudonym Anne Chaplet Kriminalromane. Nach Büchern wie "Der Betroffenheitskult" und "Handwerk des Krieges" heißt ihre jüngste Veröffentlichung "Angela Merkel. Ein Irrtum".