Die Reise mit dem Bus von Kiew nach Tschernobyl in die Sperrzone rund um das ehemalige Atomkraftwerk, organisiert von der staatlichen ukrainischen Agentur Inter Inform, dauert eine gute Stunde. Sie beginnt mitten in der tobenden Millionenmetropole Kiew. Und fängt harmlos an. Zuerst ist es eine etwas holprige Fahrt aus einer Großstadt in die Provinz. Dann: Ausgedehnte Mischwälder und unbestellte Felder. Mittendrin marode verfallende Dörfer, in denen nur die goldenen Zwiebeltürme der orthodoxen Kirchen in der Frühlingssonne glänzen. In Ivankiv, einer Kleinstadt 20 Minuten vor der Todeszone, strahlt die Vorbeifahrenden ein großes Lenin-Denkmal an. Ein letztes Zeichen der Zivilisation. Dann wird es auf den langen, immer geradeaus führenden Alleen menschenleer.
Plötzlich eine Art Grenzanlage. Daneben ein Feld. Noch im Bus, erzählt Kraftwerksingenieur und Dolmetscher Oleg Blastschuk, eine makabre Geschichte.
"Im Jahr 96, zehn Jahre nach der Katastrophe, nachdem sich die Böden erholt haben, wurden 60 Hektar Hafer angebaut. Unmittelbar am Kontrollpunkt, unmittelbar an der Grenze des Sperrgebiets. Man hatte die Hoffnung sehr hohe Erträge zu erreichen, von einem, sagen wir, Bio-Hafer. Man hat dann den Bio-Hafer analysiert und festgestellt, dass die Messdaten den Messdaten der Atomabfällen entspricht, was Strontium-Gehalt angeht."
Gemessen wurde das in einem unabhängigen Kiewer Labor. Zwei Kilobecquerel pro Quadratkilometer beträgt in Deutschland die normale Strahlenbelastung mit dem radioaktiven Isotop Strontium. Das unter anderem Knochenkrebs und eine erhöhte Fehlgeburtsrate verursacht. Im Umkreis von Tschernobyl ist der Boden jedoch, bis heute, um das 15- bis 20-fache höher belastet.
Schlagartig wird einer Gruppe deutscher Touristen klar, dass es eine Reise in eine andere Zeit wird. Das eigentlich Gefährliche: Radioaktivität kann man nicht sehen. Nicht riechen. Nicht fühlen. Nicht schmecken.
"Das Schlimmste an der ganzen Situation ist, ist die Ungewissheit wo ist was. Man sieht es nicht, man weiß es aber. Und da wir viel mehr wissen als die Ukrainer sogar, ist es ein seltsames Gefühl. Aber ich habe keine Angst."
"Wir sind jetzt am Kontrollpunkt Putitjatkin."
Man sieht ein Postenhaus, einen rot weißen Schlagbaum. Und ein verrostetes Schild. "DANGER" steht drauf. Daneben prangt das Radioaktivitätszeichen.
Ganz nach sowjetischer Art, kontrollieren uniformierte Posten grimmig die Pässe. Was ein bisschen lächerlich wirkt, da man 100 Meter neben dem Checkpoint, einfach so über's Feld in die Sperrzone laufen könnte.
"Ja, das wurde 1986 eingerichtet. Die Fahrzeuge die hier verkehrten, durften nicht einfach so das Gebiet verlassen. Weil man davon ausging, dass sie alle kontaminiert waren. Deswegen gab es hier diesen Checkpoint. Bis hierher durfte man fahren, aber nicht weiter."
Wolodymyr Usatenko ist ein Augenzeuge der Katastrophe und war einer der ersten Liquidatoren des Kraftwerks. So nannte man damals die Katastrophenhelfer, die von den Sowjets zwangsverpflichtet wurden. Usatenko musste den Schutt des zerstörten Atommeilers beiseite räumen.
"Es gab auch eine Auto-Waschanlage. Für Fahrzeuge die rein und raus fuhren, aber nicht zu stark kontaminiert waren."
Die Katastrophe, erzählt der 60-jährige Wolodymyr Usatenko, ein kleiner Mann mit zerfurchter Haut,
"hat meinen Charakter sehr verdorben. Ich wollte, dass so was nie wieder passiert und wurde daher Politiker. Bei den ersten demokratischen Wahlen hat man mich ins Parlament gewählt, und war Strahlenschutzbeauftragter."
Jedes Gespräch dreht sich von nun an nur noch um Halbwertzeiten, Plutonium, Strontium, Geigerzähler. Und Radioaktivität.
"Es gibt keinen Grund Angst zu haben. Schon deswegen, weil unsere Route einen Besuch der richtig kontaminierten Stellen gar nicht vorsieht. Mehr noch, man müsste sogar eine ganze Weile dort verweilen, um überhaupt erst eine richtige Dosis zu erhalten. Wobei, wenn Sie Interesse hätten, ich könnte Ihnen schon einige Flächen zeigen."
Der Boden ist hochkontaminiert. Aber nicht nur durch die Explosion des Tschernobyl Reaktors, sondern weil man überall auch Bauschutt der Kraftwerksruine, verstrahlte Baugeräte oder anderen verstrahlten Müll einfach irgendwo im Boden vergraben hat.
Dann wird der Schlagbaum lässig hochgehoben, und wir dürfen hinein. Und sind drin. In der 2600 Quadratkilometer großen Sperrzone, an der Grenze zu Weißrussland, in die man nur mit geschlossenen Jacken und festen Schuhwerk darf.
"Daran halt ich mich. Ich schaufel mir auch nicht die Hände voller Sand in die Taschen, um zuhause die Proben analysieren zu lassen. Soweit würde ich dann doch nicht gehen."
Erzählt Hans Jürgen Kuhn. Ein grüner Beamter auf Reisen. Schlaksiger Typ. Jeans, Fleecepulli, Outdoorjacke. Er will sich ein Bild über die Situation in Tschernobyl machen.
Dann taucht das Ortsschild Tschernobyl auf. Und man ist in dem Ort, den man bisher nur aus den Nachrichten kannte. Mehr als Tausend Menschen leben hier. Wirkt auf den ersten Blick wie ein ukrainischer Allerweltsort. Es gibt Geschäfte, Werkstätten, sogar eine Ortsverwaltung. Doch die ist nicht für die normale Dorfbevölkerung. Denn die gibt es nicht. Stattdessen gibt's nur Wachpersonal, das penibel darauf aufpasst, dass keiner der Besucher, einfach so und unerlaubt, aus dem Bus aussteigt und durch den Ort läuft.
"Also bevor wir losgehen, möchte ich Sie um folgendes bitten, gehen sie nicht auf unbefestigten Pfaden. Im Grunde mehr werden sie auch nicht sehen. Dieses Erlebnis ist das nicht wert. Sie können irgendwelchen Schmutz anhaften lassen und haben nur Probleme davon. Alles andere werden wir sehen."
Das staatliche Informationsbüro das über die Atom-Katastrophe informieren soll, ist in einem schäbigen und herunter gekommenem zweistöckigen Gebäude untergebracht. Es hat spätsowjetischen Charme. Sieht eher aus, wie die örtliche Parteizentrale: Das Linoleum ist durchgetreten, an vergilbten Wänden sind unleserliche Landkarten, illustre Tier-Fotos und ein Bauplan des Kraftwerks angebracht. Nichts weiter. Über die Katastrophe, über die Folgen erfährt man nichts. So als ob man lediglich in einem Naturreservat unterwegs wäre.
"Das sind jetzt einige Verhaltensregeln, die sie mir nachher unterschreiben müssen,"
verkündet mürrisch der offizielle Reise-Führer Jewgeni Jenutschenko. Und erklärt was man zu tun und zu lassen habe.
"Es ist verboten Alkohol zu trinken, Drogen zu nehmen. Sie dürfen nichts berühren, keine Pflanzen pflücken und mit nach Hause zu nehmen. Sie dürfen sich nirgends auf den Boden setzen, nirgendwo anlehnen."
Der knapp 40-jährige Jewgeni Jenutschenko ist ein strenger Aufpasser. Redet wenig, meistens schweigt er. Nur wenn es etwas zu verbieten gibt, meldet er sich schroff zu Wort. Für seinen Job bekommt er monatlich rund 300 Euro. Das ist fast das Doppelte was beispielsweise Lehrer in der Ukraine verdienen.
"Ab hier ist es strikt verboten das Kraftwerk aufzunehmen."
Unverständnis und höhnisches Gelächter bei der deutschen Reisegruppe. Die wenigsten halten sich an die Auflagen.
"Machen wir natürlich. Ich halt das Ding da so rüber, das merkt der gar nicht. Siehste ich hab schon eins gemacht."
"It's forbidden areas. Not make a foto. … Aber wenn sie schon Fotos machen, dann mit dem Rücken zum Kraftwerk."
Plötzlich steht man vor dem Sarkophag des Reaktors 4, der vor 25 Jahren explodiert ist. Ein verstörendes Bild. Sieht aus wie ein Schiff im Trockendock. Von hier ist radioaktives Material in die Atmosphäre gelangt, das mindestens zweihundert Hiroshima Atombomben entsprach, erläutert Tschernobyl Spezialist Wolodymyr Usatenko.
"Also im Gebäude blieben nur 30 Prozent. 70 Prozent des radioaktiven Materials ging um die ganze Welt. Bis heute hat man das in der Ukraine nicht richtig untersucht. Denn die Atomlobby ist hier sehr mächtig. Die Atomindustrie will bis heute nicht zugeben, dass man in Tschernobyl versagt hat. Auch weil so niemand haftbar gemacht werden kann."
Bedenklich piept und fiept der Geigerzähler.
Der Sarkophag, der 1986 eilig aus Stahlplatten und Beton errichtet wurde, ist instabil. Innen drin: 180 Tonnen strahlende Masse und reichlich kontaminiertes Wasser. Die Hülle ist porös. Daher soll jetzt eine neue her. Eine Bogenkonstruktion, die außerhalb des Kraftwerks gebaut werden soll, um sie dann Stück für Stück über den alten Sarkophag zu schieben. Erst Anfang September letzten Jahres wurden dazu die Vereinbarungen unterschrieben.
Dann geht es durch die komplett tote Trabantenstadt Pripjat. 48.000 Menschen haben hier mal gelebt. Eine Stadt, die extra für die Kraftwerksangestellten gebaut wurde. Nach der Katastrophe hat man sie geräumt. Heute ist es eine Ruinen- und Geisterstadt. Wie nach der Apokalypse. Meterhoch wuchert das Unkraut. Um das Moos, macht man einen besonders großen Bogen. Weil es besonders belastet sein soll. An manchen Stellen sieht man noch alte verblichene Sowjetinsignien, so strahlt noch immer auf dem ehemaligen Hotel der rote Stern. Auch wenn der mittlerweile etwas verblasst ist. Auf einem Rummelplatz rosten Karussell, Autoscooter und Riesenrad vor sich hin. Schaukeln baumeln im Wind. Ein Vergnügungspark, auf dem nie ein Kinderlachen zu hören war. Denn am 1. Mai 1986 sollte er eröffnet werden. Doch dann ereignete sich, nur wenige Tage zuvor, die atomare Katastrophe. Bilder an die sich Dolmetscher Oleg Blastschuk nie gewöhnen kann.
"Es ist das Traurigste was ich je gesehen habe. Und es ist ein Zeichen der großen Lüge. Für mich ist das ein Symbol für die Sowjetunion, für den Staat der auf der Lüge aufgebaut ist. Und das immer noch gepflegt wird. Wir haben noch viele Spuren des real-existierenden Sozialismus, der Sowjetunion. Das ist sehr belastend."
Wenn man aus dem Sperrgebiet Tschernobyl wieder raus will, muss man durch diverse Checkpoints. Und am Ende durch eine Endkontrolle am Dosimeter sowjetischer Bauart. Das ist ein riesiger Geigerzähler, und sieht aus wie eine Flughafen-Sicherheitsschleuse.
"Sie sehen hier ein Schema, das anzeigt, welche Körperteile möglicherweise kontaminiert sind. Erst wenn die Lämpchen grün leuchten sind sie sauber. Und erst dann öffnet sich die Schranke und sie können durch."
Extrem unheimlich. Denn nur wer sich unterwegs nicht kontaminiert hat, darf das Sperrgebiet verlassen. Der Mitreisende Hans Jürgen Kuhn gibt sich betont gelassen:
"Also besonders vertrauenswürdig scheint mir das nicht zu sein, was die Dosismessung angeht. Gibt doch das Gefühl von dem, man kümmere sich darum, dass niemand verseucht hier rauskommt."
Nachdem sich der Bus wieder Richtung Kiew nähert, kann man die Erleichterung der deutschen Reisegruppe geradezu mit Händen greifen. Die Anspannung löst sich. Man scherzt ... .
"Jetzt sind wir raus. Merkt man sofort. Gleich geht es uns viel besser."
Auf der Rückfahrt nach Kiew sieht man alte Frauen, die am Rand der Straße Stände aufgebaut haben. Um Obst, Gemüse und Pilze verkaufen. Um ihre karge Rente von rund 70 Euro monatlich aufzubessern. Dinge, die kein Westeuropäer anfassen würde. Hier ist die Not aber groß. Und kauft oder verkauft, radioaktiv verseuchtes Essen.
Nach dem Ausflug in Tschernobyl bleibt noch lange ein Unbehagen übrig. Weil man mit eigenen Augen sehen und in aller Deutlichkeit erleben konnte, was passiert, wenn Menschen die Hybris ihres eigenes Handelns nicht mehr im Griff haben.
Plötzlich eine Art Grenzanlage. Daneben ein Feld. Noch im Bus, erzählt Kraftwerksingenieur und Dolmetscher Oleg Blastschuk, eine makabre Geschichte.
"Im Jahr 96, zehn Jahre nach der Katastrophe, nachdem sich die Böden erholt haben, wurden 60 Hektar Hafer angebaut. Unmittelbar am Kontrollpunkt, unmittelbar an der Grenze des Sperrgebiets. Man hatte die Hoffnung sehr hohe Erträge zu erreichen, von einem, sagen wir, Bio-Hafer. Man hat dann den Bio-Hafer analysiert und festgestellt, dass die Messdaten den Messdaten der Atomabfällen entspricht, was Strontium-Gehalt angeht."
Gemessen wurde das in einem unabhängigen Kiewer Labor. Zwei Kilobecquerel pro Quadratkilometer beträgt in Deutschland die normale Strahlenbelastung mit dem radioaktiven Isotop Strontium. Das unter anderem Knochenkrebs und eine erhöhte Fehlgeburtsrate verursacht. Im Umkreis von Tschernobyl ist der Boden jedoch, bis heute, um das 15- bis 20-fache höher belastet.
Schlagartig wird einer Gruppe deutscher Touristen klar, dass es eine Reise in eine andere Zeit wird. Das eigentlich Gefährliche: Radioaktivität kann man nicht sehen. Nicht riechen. Nicht fühlen. Nicht schmecken.
"Das Schlimmste an der ganzen Situation ist, ist die Ungewissheit wo ist was. Man sieht es nicht, man weiß es aber. Und da wir viel mehr wissen als die Ukrainer sogar, ist es ein seltsames Gefühl. Aber ich habe keine Angst."
"Wir sind jetzt am Kontrollpunkt Putitjatkin."
Man sieht ein Postenhaus, einen rot weißen Schlagbaum. Und ein verrostetes Schild. "DANGER" steht drauf. Daneben prangt das Radioaktivitätszeichen.
Ganz nach sowjetischer Art, kontrollieren uniformierte Posten grimmig die Pässe. Was ein bisschen lächerlich wirkt, da man 100 Meter neben dem Checkpoint, einfach so über's Feld in die Sperrzone laufen könnte.
"Ja, das wurde 1986 eingerichtet. Die Fahrzeuge die hier verkehrten, durften nicht einfach so das Gebiet verlassen. Weil man davon ausging, dass sie alle kontaminiert waren. Deswegen gab es hier diesen Checkpoint. Bis hierher durfte man fahren, aber nicht weiter."
Wolodymyr Usatenko ist ein Augenzeuge der Katastrophe und war einer der ersten Liquidatoren des Kraftwerks. So nannte man damals die Katastrophenhelfer, die von den Sowjets zwangsverpflichtet wurden. Usatenko musste den Schutt des zerstörten Atommeilers beiseite räumen.
"Es gab auch eine Auto-Waschanlage. Für Fahrzeuge die rein und raus fuhren, aber nicht zu stark kontaminiert waren."
Die Katastrophe, erzählt der 60-jährige Wolodymyr Usatenko, ein kleiner Mann mit zerfurchter Haut,
"hat meinen Charakter sehr verdorben. Ich wollte, dass so was nie wieder passiert und wurde daher Politiker. Bei den ersten demokratischen Wahlen hat man mich ins Parlament gewählt, und war Strahlenschutzbeauftragter."
Jedes Gespräch dreht sich von nun an nur noch um Halbwertzeiten, Plutonium, Strontium, Geigerzähler. Und Radioaktivität.
"Es gibt keinen Grund Angst zu haben. Schon deswegen, weil unsere Route einen Besuch der richtig kontaminierten Stellen gar nicht vorsieht. Mehr noch, man müsste sogar eine ganze Weile dort verweilen, um überhaupt erst eine richtige Dosis zu erhalten. Wobei, wenn Sie Interesse hätten, ich könnte Ihnen schon einige Flächen zeigen."
Der Boden ist hochkontaminiert. Aber nicht nur durch die Explosion des Tschernobyl Reaktors, sondern weil man überall auch Bauschutt der Kraftwerksruine, verstrahlte Baugeräte oder anderen verstrahlten Müll einfach irgendwo im Boden vergraben hat.
Dann wird der Schlagbaum lässig hochgehoben, und wir dürfen hinein. Und sind drin. In der 2600 Quadratkilometer großen Sperrzone, an der Grenze zu Weißrussland, in die man nur mit geschlossenen Jacken und festen Schuhwerk darf.
"Daran halt ich mich. Ich schaufel mir auch nicht die Hände voller Sand in die Taschen, um zuhause die Proben analysieren zu lassen. Soweit würde ich dann doch nicht gehen."
Erzählt Hans Jürgen Kuhn. Ein grüner Beamter auf Reisen. Schlaksiger Typ. Jeans, Fleecepulli, Outdoorjacke. Er will sich ein Bild über die Situation in Tschernobyl machen.
Dann taucht das Ortsschild Tschernobyl auf. Und man ist in dem Ort, den man bisher nur aus den Nachrichten kannte. Mehr als Tausend Menschen leben hier. Wirkt auf den ersten Blick wie ein ukrainischer Allerweltsort. Es gibt Geschäfte, Werkstätten, sogar eine Ortsverwaltung. Doch die ist nicht für die normale Dorfbevölkerung. Denn die gibt es nicht. Stattdessen gibt's nur Wachpersonal, das penibel darauf aufpasst, dass keiner der Besucher, einfach so und unerlaubt, aus dem Bus aussteigt und durch den Ort läuft.
"Also bevor wir losgehen, möchte ich Sie um folgendes bitten, gehen sie nicht auf unbefestigten Pfaden. Im Grunde mehr werden sie auch nicht sehen. Dieses Erlebnis ist das nicht wert. Sie können irgendwelchen Schmutz anhaften lassen und haben nur Probleme davon. Alles andere werden wir sehen."
Das staatliche Informationsbüro das über die Atom-Katastrophe informieren soll, ist in einem schäbigen und herunter gekommenem zweistöckigen Gebäude untergebracht. Es hat spätsowjetischen Charme. Sieht eher aus, wie die örtliche Parteizentrale: Das Linoleum ist durchgetreten, an vergilbten Wänden sind unleserliche Landkarten, illustre Tier-Fotos und ein Bauplan des Kraftwerks angebracht. Nichts weiter. Über die Katastrophe, über die Folgen erfährt man nichts. So als ob man lediglich in einem Naturreservat unterwegs wäre.
"Das sind jetzt einige Verhaltensregeln, die sie mir nachher unterschreiben müssen,"
verkündet mürrisch der offizielle Reise-Führer Jewgeni Jenutschenko. Und erklärt was man zu tun und zu lassen habe.
"Es ist verboten Alkohol zu trinken, Drogen zu nehmen. Sie dürfen nichts berühren, keine Pflanzen pflücken und mit nach Hause zu nehmen. Sie dürfen sich nirgends auf den Boden setzen, nirgendwo anlehnen."
Der knapp 40-jährige Jewgeni Jenutschenko ist ein strenger Aufpasser. Redet wenig, meistens schweigt er. Nur wenn es etwas zu verbieten gibt, meldet er sich schroff zu Wort. Für seinen Job bekommt er monatlich rund 300 Euro. Das ist fast das Doppelte was beispielsweise Lehrer in der Ukraine verdienen.
"Ab hier ist es strikt verboten das Kraftwerk aufzunehmen."
Unverständnis und höhnisches Gelächter bei der deutschen Reisegruppe. Die wenigsten halten sich an die Auflagen.
"Machen wir natürlich. Ich halt das Ding da so rüber, das merkt der gar nicht. Siehste ich hab schon eins gemacht."
"It's forbidden areas. Not make a foto. … Aber wenn sie schon Fotos machen, dann mit dem Rücken zum Kraftwerk."
Plötzlich steht man vor dem Sarkophag des Reaktors 4, der vor 25 Jahren explodiert ist. Ein verstörendes Bild. Sieht aus wie ein Schiff im Trockendock. Von hier ist radioaktives Material in die Atmosphäre gelangt, das mindestens zweihundert Hiroshima Atombomben entsprach, erläutert Tschernobyl Spezialist Wolodymyr Usatenko.
"Also im Gebäude blieben nur 30 Prozent. 70 Prozent des radioaktiven Materials ging um die ganze Welt. Bis heute hat man das in der Ukraine nicht richtig untersucht. Denn die Atomlobby ist hier sehr mächtig. Die Atomindustrie will bis heute nicht zugeben, dass man in Tschernobyl versagt hat. Auch weil so niemand haftbar gemacht werden kann."
Bedenklich piept und fiept der Geigerzähler.
Der Sarkophag, der 1986 eilig aus Stahlplatten und Beton errichtet wurde, ist instabil. Innen drin: 180 Tonnen strahlende Masse und reichlich kontaminiertes Wasser. Die Hülle ist porös. Daher soll jetzt eine neue her. Eine Bogenkonstruktion, die außerhalb des Kraftwerks gebaut werden soll, um sie dann Stück für Stück über den alten Sarkophag zu schieben. Erst Anfang September letzten Jahres wurden dazu die Vereinbarungen unterschrieben.
Dann geht es durch die komplett tote Trabantenstadt Pripjat. 48.000 Menschen haben hier mal gelebt. Eine Stadt, die extra für die Kraftwerksangestellten gebaut wurde. Nach der Katastrophe hat man sie geräumt. Heute ist es eine Ruinen- und Geisterstadt. Wie nach der Apokalypse. Meterhoch wuchert das Unkraut. Um das Moos, macht man einen besonders großen Bogen. Weil es besonders belastet sein soll. An manchen Stellen sieht man noch alte verblichene Sowjetinsignien, so strahlt noch immer auf dem ehemaligen Hotel der rote Stern. Auch wenn der mittlerweile etwas verblasst ist. Auf einem Rummelplatz rosten Karussell, Autoscooter und Riesenrad vor sich hin. Schaukeln baumeln im Wind. Ein Vergnügungspark, auf dem nie ein Kinderlachen zu hören war. Denn am 1. Mai 1986 sollte er eröffnet werden. Doch dann ereignete sich, nur wenige Tage zuvor, die atomare Katastrophe. Bilder an die sich Dolmetscher Oleg Blastschuk nie gewöhnen kann.
"Es ist das Traurigste was ich je gesehen habe. Und es ist ein Zeichen der großen Lüge. Für mich ist das ein Symbol für die Sowjetunion, für den Staat der auf der Lüge aufgebaut ist. Und das immer noch gepflegt wird. Wir haben noch viele Spuren des real-existierenden Sozialismus, der Sowjetunion. Das ist sehr belastend."
Wenn man aus dem Sperrgebiet Tschernobyl wieder raus will, muss man durch diverse Checkpoints. Und am Ende durch eine Endkontrolle am Dosimeter sowjetischer Bauart. Das ist ein riesiger Geigerzähler, und sieht aus wie eine Flughafen-Sicherheitsschleuse.
"Sie sehen hier ein Schema, das anzeigt, welche Körperteile möglicherweise kontaminiert sind. Erst wenn die Lämpchen grün leuchten sind sie sauber. Und erst dann öffnet sich die Schranke und sie können durch."
Extrem unheimlich. Denn nur wer sich unterwegs nicht kontaminiert hat, darf das Sperrgebiet verlassen. Der Mitreisende Hans Jürgen Kuhn gibt sich betont gelassen:
"Also besonders vertrauenswürdig scheint mir das nicht zu sein, was die Dosismessung angeht. Gibt doch das Gefühl von dem, man kümmere sich darum, dass niemand verseucht hier rauskommt."
Nachdem sich der Bus wieder Richtung Kiew nähert, kann man die Erleichterung der deutschen Reisegruppe geradezu mit Händen greifen. Die Anspannung löst sich. Man scherzt ... .
"Jetzt sind wir raus. Merkt man sofort. Gleich geht es uns viel besser."
Auf der Rückfahrt nach Kiew sieht man alte Frauen, die am Rand der Straße Stände aufgebaut haben. Um Obst, Gemüse und Pilze verkaufen. Um ihre karge Rente von rund 70 Euro monatlich aufzubessern. Dinge, die kein Westeuropäer anfassen würde. Hier ist die Not aber groß. Und kauft oder verkauft, radioaktiv verseuchtes Essen.
Nach dem Ausflug in Tschernobyl bleibt noch lange ein Unbehagen übrig. Weil man mit eigenen Augen sehen und in aller Deutlichkeit erleben konnte, was passiert, wenn Menschen die Hybris ihres eigenes Handelns nicht mehr im Griff haben.