Das Massaker in den Lagern von Sabra und Shatila war nur im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen jener Jahre möglich. Im Libanon tobte seit 1975 ein Bürgerkrieg, mittendrin unter anderem die PLO von Yassir Arafat. Dann, am 6. Juni 1982, kamen die Israelis. Verteidigungsminister Ariel Sharon wollte vor allem die PLO im Libanon vernichten und so nebenbei auch noch eine israelfreundliche Regierung an die Macht bringen. Im Süden des Landes war seit 1978 eine UN-Beobachtertruppe stationiert. Ihr damaliger Sprecher Timor Goksel erinnert sich noch ganz genau an den Tag, als die Truppen Sharons kamen.
"Als wir die Grenze überschritten, merkten wir, dass wir ganz schön in der Scheiße steckten. Kilometerlang waren die militärischen Konvois der Israelis mit Stromgeneratoren. Wir wussten, die wollten länger im Libanon bleiben. Genau um 10.35 Uhr standen die ersten israelischen Panzer vor dem holländischen UN-Checkpoint. Die sechs holländischen Soldaten warfen Panzersperren auf die Straßen und legten immerhin zwei Panzer der Israelis lahm. Dann konnten die Holländer nichts anderes mehr tun, als Souvenir-Fotos zu machen. So begann der Krieg."
In seiner Beiruter Wohnung beugt sich der libanesische Ex-General Amin Hotet über die Landkarte. Der bis heute hoch geachtete schiitische Militärfachmann hat noch jedes Detail des Vormarsches der israelischen Truppen in seinem Kopf.
"Der israelische Vorstoß an der Küste stieß auf keinen nennenswerten Widerstand. In drei Tagen waren sie schon in Sidon. Das gesamte Gebiet südlich von Sidon, Jezzine und Hasbaya nahmen die Israelischen Truppen praktisch kampflos ein. Ein israelischer Offizier meinte damals voller Stolz, wir sind in den gesamten Süden Libanons bis Zahrani vorgestoßen, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben."
Für die Israelis war es am Anfang wie ein Picknick-Ausflug. Nach zwölf Tagen standen sie vor den Toren der libanesischen Hauptstadt. Den Westteil Beiruts, die Hochburg der bewaffneten PLO-Kämpfer, hatten israelische Truppen umzingelt. Keine drei Monate später befanden sie sich mitten im Sumpf des libanesischen Bürgerkrieges. Die Spazierfahrt war zu Ende. Zu sehr hatte sich Sharon auf die Aussagen der radikalen, christlichen Falangisten unter Führung von Beshir Gemayel verlassen. Das Schwarz-Weiß-Denken, hier die guten Christen, dort die bösen Muslime mit der PLO - es funktionierte im Libanon überhaupt nicht. Anfang September 1982 überschlugen sich dann die Ereignisse. Yassir Arafat musste mit seinen PLO-Kämpfern Libanon verlassen. Am 14. September kam Beshir Gemayel, der Hauptverbündete Sharons und designierte neue Präsident, in Beirut bei einem Attentat ums Leben. Einen Tag später drangen israelische Truppen nach Westbeirut ein und kesselten die Lager Sabra und Shatila ein, in denen palästinensische und libanesische Zivilisten lebten. Niemand durfte mehr raus. Am 16. September ließen die Israelis dann ihre christlichen Verbündeten in die Lager hinein. Der erste Radiobericht des damaligen ARD-Korrespondenten ließ erahnen, was danach passiert ist.
"Hier ist Gerd Schneider in Beirut. Wie viele Menschen wirklich bei den Massakern in den Palästinenserlagern Sabra und Shatila ums Leben gekommen sind, wird man wahrscheinlich nie genau feststellen können. Ich selbst habe heute morgen etwa 100 Leichen gesehen."
Mit Billigung der Israelis, unter ihrem Schutz und mit ihrer Hilfe wüteten die christlichen Mörderbanden zwei Tage in den Lagern und danach noch in dem nahegelegenen Sportstadion. Mit einem britischen Korrespondenten kam Yachyiah Itani als einer der ersten an den israelischen Posten vorbei und in die Lager hinein.
"Ich sah etwa 500 Leichen. Die meisten wurden nicht erschossen, sondern mit Messern, Schwertern oder mit Äxten umgebracht. Wir waren nur ungefähr 300 Meter die Straße heruntergegangen. Dann konnte ich das nicht mehr aushalten und fuhr nach Hause. Bis heute kann ich das nicht vergessen. Diese furchtbaren Bilder werden immer in meinem Gedächtnis bleiben."
Die 29-jährige Naval Abu Rudaina kniet auf dem Boden ihrer kleinen Wohnung im Lager Sabra, deren Mauersteine durch Mörtel notdürftig zusammengehalten werden. Sie blättert in alten Zeitungen mit Berichten über das Massaker und zieht vergilbte Bilder ihrer bei dem Blutbad ermordeten 16 Familienangehörigen aus einem Umschlag.
"Wir waren im Haus, als sie kamen. Sie holten meinen Vater raus und schlugen ihm mit der Axt den Kopf ab. Er wurde auf der Straße getötet, wo sie die Männer in langen Reihen aufstellten, bevor sie sie umbrachten. Sie ermordeten auch meine Schwester, die im siebten Monat schwanger war. Dann schnitten sie ihr den Bauch auf und erdrosselten das ungeborene Baby."
Wer heute durch die engen Gassen von Sabra und Shatila geht, über denen die Stromdrähte lose von Haus zu Haus baumeln, trifft immer noch viele Menschen, die das grausame Geschehen von vor 25 Jahren so beschreiben wie die junge Naval. All diese persönlichen Erlebnisse und unzählige von Akten hat das Institut für palästinensische Studien in Beirut 20 Jahre lang ausgewertet. Das Massaker von Sabra und Shatila ist auf diese Weise lückenlos dokumentiert, berichtet Institutsleiter Sakr Abu Fakhr.
"Nach unseren genauen Recherchen gehen wir davon aus, dass die Zahl der Getöteten 1400 nicht übersteigt. Darunter sind 900 Palästinenser, 120 bis 130 Libanesen und Syrer sowie Algerier und andere Araber. Von etwa 300 immer noch vermissten Menschen wissen wir nicht, ob sie in den Lagern gestorben sind oder woanders umgebracht wurden. Die Milizen der Force Lebanese ermordeten damals jeden Palästinenser, den sie auf der Straße oder woanders fanden."
Die christlichen Milizen hatten die Palästinenser in den Flüchtlingslagern ermordet. Nicht die israelischen Soldaten, die im Juni in den Libanon eingedrungen und innerhalb von Tagen bis Beirut vorgerückt waren. Im offiziellen Israel lehnte man jede Verantwortung für die Massaker ab. In der Knesset, Israels Parlament, sagte Verteidigungsminister Ariel Sharon, eine Woche nach dem Blutbad:
"Ich bin nicht gekommen, um diese schreckliche Tragödie zu erklären. Denn sie gehört zu einer Welt finsterer Triebe und nicht zu uns. Sie gehört zu jenen, die die Massaker verübt haben, und ich hoffe, dass sie ihre Strafe erhalten werden."
Tatsächlich gibt es bis heute keinen schlüssigen Beweis dafür, dass israelische Soldaten eigenhändig an den Massakern beteiligt waren, erklärt der Journalist Amnon Kapeliouk. Für die französische Tageszeitung Le Monde berichtete er damals über die israelische Invasion in den Libanon. Und schon im Dezember 1982 legte er ein Buch über das Blutbad von Sabra und Shatila vor.
"Die Israelis wurden von Eli Hobeika informiert, der ihr Verbündeter war. Er hat ihnen Bericht erstattet, und sie wussten, wie viele Leute ermordet wurden. Ich habe das in meinem Buch über das Massaker beschrieben. Die Israelis, die außen rum waren und aufpassten, wussten alles. Israel hat ihnen die Türen geöffnet und ihnen Bulldozer zur Verfügung gestellt. Israel hat die Nacht beleuchtet mit Leuchtmunition. Alles, was die Falangisten wollten, haben sie bekommen."
Israel hatte den Falangisten die Wege geebnet und die Türen geöffnet. Wochenlang hatten die Truppen das Hauptquartier der PLO in Beirut bombardiert. Tausende Zivilisten kamen dabei ums Leben. Das Ziel war klar: Sharon wollte die PLO, die Terroristen, wie es damals hieß, aus dem Nachbarland vertreiben.
"Sein Interesse war es, die Palästinenser zu vertreiben, die PLO zu vertreiben. Es war die Lösung der palästinensischen Frage. Und ohne Massaker wäre es nicht gegangen. Also hat man jemanden gesucht, der das macht. Die Israelis mussten gar nicht selbst in die Lager reingehen, sie mussten sich nicht die Hände schmutzig machen, denn das haben ja andere gemacht."
Die Falangisten, so Kapeliouk, wollten die Flüchtlinge ermorden und vertreiben und die Lager einebnen. An ihrer Stelle sollte ein Zoo errichtet werden. Dieser Plan kam auch dem israelischen Verteidigungsminister entgegen. Denn Sharon wollte nicht nur die bewaffneten PLO-Kämpfer aus dem Libanon vertreiben. Alle Palästinenser, auch die Zivilisten, die Flüchtlinge also, sollten das Land verlassen. Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery war damals der Herausgeber und Chefredakteur der links-liberalen Wochenzeitschrift Ha´olam hazeh. Schon Monate vor dem israelischen Einmarsch in den Libanon veröffentlichte er, nach einem langen Gespräch mit Sharon, den geheimen Plan des Verteidigungsministers:
"Der Plan von Ariel Sharon war, im Libanon einen maronitisch-christlichen Diktator einzusetzen, die Palästinenser aus dem Libanon nach Syrien zu vertreiben, damit die Syrer sie weiter vertreiben nach Jordanien. Dort sollten die Palästinenser eine Revolution machen gegen den König, eine palästinensische Republik in Jordanien ausrufen und daher den Konflikt in einen Konflikt zwischen zwei Staaten Israel und Palästina, Palästina jenseits des Jordan verwandeln. Das Massaker war ein klarer Bestandteil dieses Planes. Nämlich wie bringt man die Palästinenser dazu, aus dem Libanon zu fliehen nach Syrien? Es war nicht ein Massaker von Maroniten verursacht, bei dem Israel zugesehen hat. Es war ein Massaker, das von Israel bestellt war."
Die Mönche des Klosters des Heiligen Antonius von Qozhaya, es ist das älteste Kloster der maronitischen Christen im Libanon. Schwer zugänglich liegt es in den Bergen im Nordosten des Landes und klammert sich an einen steilen Hang, sein Abt ist Antoine Tahan:
"Wissen Sie, ein Maronit zu sein, das ist eine Mission. Es gibt uns seit 1400 Jahren - mindestens -, und wenn wir über die Maroniten sprechen, sprechen wir über eine Kultur, ein Erbe, eine Tradition, eine Religion. Wir sind hier, um das wahre Bild der Kirche und der maronitischen Menschen abzubilden."
Die Berge des Libanon-Gebirges sind das Kernland der Maroniten. Hierher waren sie einst gekommen, aus dem syrischen Orontes-Tal, vor etwa eintausend Jahren, auf der Flucht vor den Byzantinern. Da sie mit Rom uniert waren, blickten die Maroniten stets nach Westen. Sie sahen sich lange als die Gründer und Wächter des Libanons, eines aus ihrer Sicht christlich geprägten Landes, das mit den Nachbarstaaten wenig gemein hatte. Das Gefühl, anders zu sein, manifestierte sich Mitte der 30er Jahre auch in der Entstehung einer maronitisch-nationalen Bewegung, der Falangisten. Ihr Gründer: Pierre Gemayel. Für Pierre Gemayel und die Falangisten verkörperten die Palästinenser einst alles, was man an arabischen Moslems ablehnte - auch eine Reaktion darauf, dass die PLO im Libanon zu einem Staat im Staate geworden war. Der britische Journalist Robert Fisk kannte Gemayel gut.
"Die Falangisten traten im Bürgerkrieg für Ordnung ein, wir müssen Ordnung haben, wir müssen diese palästinensischen Terroristen in den Lagern stoppen. Immer ging es darum, dass die Palästinenser Müll-Menschen seien, die man im Libanon abgeladen habe. Und so sahen sich die Falangisten immer mehr als die eigentlichen Libanesen, die Phönizier, die zivilisierten Menschen - im Gegensatz zu den unzivilisierten Moslems und Palästinensern. Dieses Über-Rassen-Element, dass die einen reinblütige Libanesen, aber die anderen, die Palästinenser, Müll- und Untermenschen sind - das hatte einen faschistischen Unterton."
Kein Wunder: Pierre Gemayel hatte sich einst in Deutschland inspirieren lassen:
"Als ich ihn das letzte Mal vor seinem Tod traf, fragte ich ihn vor allem nach den Verbindungen zwischen den Falangisten und Nazi-Deutschland. Ich hatte gehört, dass er von den Olympischen Spielen 1936 in Berlin begeistert gewesen sei. Er sagte: "Ja, ich war dort. Ich war sehr davon beeindruckt, dass es Ordnung in Deutschland gab, und ich dachte damals, dass auch wir im Libanon solche Ordnung brauchen". Es gibt ein altes Foto des ersten uniformierten Treffens der Falangisten 1936 in Beirut, und da machen sie alle den Nazi-Gruß."
Im Bürgerkrieg ab 1975 ging der bewaffnete Arm der Falangisten in den Forces Libanaises auf, und man verbündete sich mit den Israelis. In Israel wurden einige der Milizionäre ausgebildet.
"Niemand wurde im Libanon der Prozess gemacht, Libanon hat auf die Jahre von Gewalt nur mit Amnestiegesetzen reagiert. Dieses Amnestiegesetz hat es unter anderem auch erlaubt, dass alle ehemaligen warlords, Kriegsherren, heute als Politiker zurückgekehrt sind und heute wieder in der Regierung sitzen - es ist Walid Jumblatt, es ist Nabih Berri, es ist Samir Geagea, es ist Michel Aoun - alle sind wieder da."
Monika Borgmann lebt in Beirut. Für ihren Film "Massaker" machte sie sechs der Milizionäre von Sabra und Shatila ausfindig und führte stundenlange Interviews mit ihnen. Robert Fisk, der seit Jahrzehnten aus dem Libanon berichtet, glaubt, dass die Libanesen nach dem Ende des Bürgerkriegs letztlich keine andere Wahl hatten.
"Im Krieg war jeder ein Kriegsverbrecher. Wenn du dann das Land wieder aufbauen willst - nur mit sauberen Leuten -, dann wirst du keinen finden. Das ist das Problem."
Es war erst das Massaker von Sabra und Shatila, das auch die breite Öffentlichkeit in Israel aufrüttelte. Ran Cohen, führender Politiker der linken Meretz-Partei und damals Reserveoffizier erinnert sich.
"Ich erfuhr von dem Massaker, als auch alle anderen Bürger Israels und der Welt davon erfuhren. Langsam wurde klar, und das Entsetzen darüber war groß, dass das Blutbad unter den Augen der israelischen Armee geschehen war. Obwohl die Mörder selbst nicht die israelischen Soldaten waren. Wir waren sehr entsetzt darüber und begannen sofort, eine große Demonstration zu organisieren. Es wurde die größte Demonstration, die es jemals in der Geschichte des Staates Israel gab. Den Demonstranten war klar, dass wir im Libanon die Verantwortung trugen und dass unter unserem Schutz ein so schreckliches Massaker verübt wurde, an Frauen und Kindern und alten Leuten, an unschuldigen Zivilisten. Das konnte das israelische Gewissen nicht ertragen."
Als die Demonstration der 400.000 ging die Massenkundgebung von Tel Aviv in die Geschichte Israels ein. Hunderttausende Demonstranten versammelten sich einen Tag vor Yom Kippur, dem jüdischen Versöhnungstag, auf dem zentralen Platz in Tel Aviv und forderten den Rücktritt Sharons. Es war der Anfang einer neuen Protestbewegung. Doch war das Blutbad an den palästinensischen Flüchtlingen ein Einschnitt auch im politischen Leben Israels? Der Friedensaktivist Uri Avnery ist skeptisch.
"Leider nicht. Die Demonstration war sehr eindrucksvoll, die war echt, die war authentisch, sie war spontan. Die Hunderttausende, die da waren, die waren echt, die waren erschüttert. Ich bin nicht sicher, wenn heute so etwas passieren würde, ob wir noch Hunderttausende zusammenbringen würden zu so einer Demonstration. Denn seitdem ist Israel sehr verroht. Man hat sich gewöhnt an Greueltaten, man hört beinahe täglich Geschichten, die einen erschüttern sollten, aber das damals war echt."
Wie immer am Jahrestag des Massakers wird der bekannteste Schriftsteller Libanons, Elias Khoury, mit einigen wenigen Palästinensern und Libanesen auch dieses Jahr wieder Blumen auf dem Platz des Massengrabes niederlegen. Ein Gedenken im europäischen Sinne wird es nicht geben. Warum das nicht so ist, beschreibt Khoury, der sich wie kaum ein anderer mit der palästinensischen Seele beschäftigt hat.
"Das Problem mit der palästinensischen Erinnerung, mit dem Andenken ist - und ich habe das festgestellt, als ich meine Novelle 'The Gate of the Sun' geschrieben habe - du schreibst nicht wirklich über Geschichte. Die palästinensische Tragödie ist eben keine Vergangenheit. Sie ist immer noch aktuell. Das sieht man doch in Gaza, dem Westjordanland und auch in den Camps im Libanon. Die Vergangenheit ist so präsent, dass sie eben nicht als Vergangenheit wahrgenommen und begangen wird. Das ist das Problem mit der palästinensischen Geschichtsbewältigung."
"Als wir die Grenze überschritten, merkten wir, dass wir ganz schön in der Scheiße steckten. Kilometerlang waren die militärischen Konvois der Israelis mit Stromgeneratoren. Wir wussten, die wollten länger im Libanon bleiben. Genau um 10.35 Uhr standen die ersten israelischen Panzer vor dem holländischen UN-Checkpoint. Die sechs holländischen Soldaten warfen Panzersperren auf die Straßen und legten immerhin zwei Panzer der Israelis lahm. Dann konnten die Holländer nichts anderes mehr tun, als Souvenir-Fotos zu machen. So begann der Krieg."
In seiner Beiruter Wohnung beugt sich der libanesische Ex-General Amin Hotet über die Landkarte. Der bis heute hoch geachtete schiitische Militärfachmann hat noch jedes Detail des Vormarsches der israelischen Truppen in seinem Kopf.
"Der israelische Vorstoß an der Küste stieß auf keinen nennenswerten Widerstand. In drei Tagen waren sie schon in Sidon. Das gesamte Gebiet südlich von Sidon, Jezzine und Hasbaya nahmen die Israelischen Truppen praktisch kampflos ein. Ein israelischer Offizier meinte damals voller Stolz, wir sind in den gesamten Süden Libanons bis Zahrani vorgestoßen, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben."
Für die Israelis war es am Anfang wie ein Picknick-Ausflug. Nach zwölf Tagen standen sie vor den Toren der libanesischen Hauptstadt. Den Westteil Beiruts, die Hochburg der bewaffneten PLO-Kämpfer, hatten israelische Truppen umzingelt. Keine drei Monate später befanden sie sich mitten im Sumpf des libanesischen Bürgerkrieges. Die Spazierfahrt war zu Ende. Zu sehr hatte sich Sharon auf die Aussagen der radikalen, christlichen Falangisten unter Führung von Beshir Gemayel verlassen. Das Schwarz-Weiß-Denken, hier die guten Christen, dort die bösen Muslime mit der PLO - es funktionierte im Libanon überhaupt nicht. Anfang September 1982 überschlugen sich dann die Ereignisse. Yassir Arafat musste mit seinen PLO-Kämpfern Libanon verlassen. Am 14. September kam Beshir Gemayel, der Hauptverbündete Sharons und designierte neue Präsident, in Beirut bei einem Attentat ums Leben. Einen Tag später drangen israelische Truppen nach Westbeirut ein und kesselten die Lager Sabra und Shatila ein, in denen palästinensische und libanesische Zivilisten lebten. Niemand durfte mehr raus. Am 16. September ließen die Israelis dann ihre christlichen Verbündeten in die Lager hinein. Der erste Radiobericht des damaligen ARD-Korrespondenten ließ erahnen, was danach passiert ist.
"Hier ist Gerd Schneider in Beirut. Wie viele Menschen wirklich bei den Massakern in den Palästinenserlagern Sabra und Shatila ums Leben gekommen sind, wird man wahrscheinlich nie genau feststellen können. Ich selbst habe heute morgen etwa 100 Leichen gesehen."
Mit Billigung der Israelis, unter ihrem Schutz und mit ihrer Hilfe wüteten die christlichen Mörderbanden zwei Tage in den Lagern und danach noch in dem nahegelegenen Sportstadion. Mit einem britischen Korrespondenten kam Yachyiah Itani als einer der ersten an den israelischen Posten vorbei und in die Lager hinein.
"Ich sah etwa 500 Leichen. Die meisten wurden nicht erschossen, sondern mit Messern, Schwertern oder mit Äxten umgebracht. Wir waren nur ungefähr 300 Meter die Straße heruntergegangen. Dann konnte ich das nicht mehr aushalten und fuhr nach Hause. Bis heute kann ich das nicht vergessen. Diese furchtbaren Bilder werden immer in meinem Gedächtnis bleiben."
Die 29-jährige Naval Abu Rudaina kniet auf dem Boden ihrer kleinen Wohnung im Lager Sabra, deren Mauersteine durch Mörtel notdürftig zusammengehalten werden. Sie blättert in alten Zeitungen mit Berichten über das Massaker und zieht vergilbte Bilder ihrer bei dem Blutbad ermordeten 16 Familienangehörigen aus einem Umschlag.
"Wir waren im Haus, als sie kamen. Sie holten meinen Vater raus und schlugen ihm mit der Axt den Kopf ab. Er wurde auf der Straße getötet, wo sie die Männer in langen Reihen aufstellten, bevor sie sie umbrachten. Sie ermordeten auch meine Schwester, die im siebten Monat schwanger war. Dann schnitten sie ihr den Bauch auf und erdrosselten das ungeborene Baby."
Wer heute durch die engen Gassen von Sabra und Shatila geht, über denen die Stromdrähte lose von Haus zu Haus baumeln, trifft immer noch viele Menschen, die das grausame Geschehen von vor 25 Jahren so beschreiben wie die junge Naval. All diese persönlichen Erlebnisse und unzählige von Akten hat das Institut für palästinensische Studien in Beirut 20 Jahre lang ausgewertet. Das Massaker von Sabra und Shatila ist auf diese Weise lückenlos dokumentiert, berichtet Institutsleiter Sakr Abu Fakhr.
"Nach unseren genauen Recherchen gehen wir davon aus, dass die Zahl der Getöteten 1400 nicht übersteigt. Darunter sind 900 Palästinenser, 120 bis 130 Libanesen und Syrer sowie Algerier und andere Araber. Von etwa 300 immer noch vermissten Menschen wissen wir nicht, ob sie in den Lagern gestorben sind oder woanders umgebracht wurden. Die Milizen der Force Lebanese ermordeten damals jeden Palästinenser, den sie auf der Straße oder woanders fanden."
Die christlichen Milizen hatten die Palästinenser in den Flüchtlingslagern ermordet. Nicht die israelischen Soldaten, die im Juni in den Libanon eingedrungen und innerhalb von Tagen bis Beirut vorgerückt waren. Im offiziellen Israel lehnte man jede Verantwortung für die Massaker ab. In der Knesset, Israels Parlament, sagte Verteidigungsminister Ariel Sharon, eine Woche nach dem Blutbad:
"Ich bin nicht gekommen, um diese schreckliche Tragödie zu erklären. Denn sie gehört zu einer Welt finsterer Triebe und nicht zu uns. Sie gehört zu jenen, die die Massaker verübt haben, und ich hoffe, dass sie ihre Strafe erhalten werden."
Tatsächlich gibt es bis heute keinen schlüssigen Beweis dafür, dass israelische Soldaten eigenhändig an den Massakern beteiligt waren, erklärt der Journalist Amnon Kapeliouk. Für die französische Tageszeitung Le Monde berichtete er damals über die israelische Invasion in den Libanon. Und schon im Dezember 1982 legte er ein Buch über das Blutbad von Sabra und Shatila vor.
"Die Israelis wurden von Eli Hobeika informiert, der ihr Verbündeter war. Er hat ihnen Bericht erstattet, und sie wussten, wie viele Leute ermordet wurden. Ich habe das in meinem Buch über das Massaker beschrieben. Die Israelis, die außen rum waren und aufpassten, wussten alles. Israel hat ihnen die Türen geöffnet und ihnen Bulldozer zur Verfügung gestellt. Israel hat die Nacht beleuchtet mit Leuchtmunition. Alles, was die Falangisten wollten, haben sie bekommen."
Israel hatte den Falangisten die Wege geebnet und die Türen geöffnet. Wochenlang hatten die Truppen das Hauptquartier der PLO in Beirut bombardiert. Tausende Zivilisten kamen dabei ums Leben. Das Ziel war klar: Sharon wollte die PLO, die Terroristen, wie es damals hieß, aus dem Nachbarland vertreiben.
"Sein Interesse war es, die Palästinenser zu vertreiben, die PLO zu vertreiben. Es war die Lösung der palästinensischen Frage. Und ohne Massaker wäre es nicht gegangen. Also hat man jemanden gesucht, der das macht. Die Israelis mussten gar nicht selbst in die Lager reingehen, sie mussten sich nicht die Hände schmutzig machen, denn das haben ja andere gemacht."
Die Falangisten, so Kapeliouk, wollten die Flüchtlinge ermorden und vertreiben und die Lager einebnen. An ihrer Stelle sollte ein Zoo errichtet werden. Dieser Plan kam auch dem israelischen Verteidigungsminister entgegen. Denn Sharon wollte nicht nur die bewaffneten PLO-Kämpfer aus dem Libanon vertreiben. Alle Palästinenser, auch die Zivilisten, die Flüchtlinge also, sollten das Land verlassen. Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery war damals der Herausgeber und Chefredakteur der links-liberalen Wochenzeitschrift Ha´olam hazeh. Schon Monate vor dem israelischen Einmarsch in den Libanon veröffentlichte er, nach einem langen Gespräch mit Sharon, den geheimen Plan des Verteidigungsministers:
"Der Plan von Ariel Sharon war, im Libanon einen maronitisch-christlichen Diktator einzusetzen, die Palästinenser aus dem Libanon nach Syrien zu vertreiben, damit die Syrer sie weiter vertreiben nach Jordanien. Dort sollten die Palästinenser eine Revolution machen gegen den König, eine palästinensische Republik in Jordanien ausrufen und daher den Konflikt in einen Konflikt zwischen zwei Staaten Israel und Palästina, Palästina jenseits des Jordan verwandeln. Das Massaker war ein klarer Bestandteil dieses Planes. Nämlich wie bringt man die Palästinenser dazu, aus dem Libanon zu fliehen nach Syrien? Es war nicht ein Massaker von Maroniten verursacht, bei dem Israel zugesehen hat. Es war ein Massaker, das von Israel bestellt war."
Die Mönche des Klosters des Heiligen Antonius von Qozhaya, es ist das älteste Kloster der maronitischen Christen im Libanon. Schwer zugänglich liegt es in den Bergen im Nordosten des Landes und klammert sich an einen steilen Hang, sein Abt ist Antoine Tahan:
"Wissen Sie, ein Maronit zu sein, das ist eine Mission. Es gibt uns seit 1400 Jahren - mindestens -, und wenn wir über die Maroniten sprechen, sprechen wir über eine Kultur, ein Erbe, eine Tradition, eine Religion. Wir sind hier, um das wahre Bild der Kirche und der maronitischen Menschen abzubilden."
Die Berge des Libanon-Gebirges sind das Kernland der Maroniten. Hierher waren sie einst gekommen, aus dem syrischen Orontes-Tal, vor etwa eintausend Jahren, auf der Flucht vor den Byzantinern. Da sie mit Rom uniert waren, blickten die Maroniten stets nach Westen. Sie sahen sich lange als die Gründer und Wächter des Libanons, eines aus ihrer Sicht christlich geprägten Landes, das mit den Nachbarstaaten wenig gemein hatte. Das Gefühl, anders zu sein, manifestierte sich Mitte der 30er Jahre auch in der Entstehung einer maronitisch-nationalen Bewegung, der Falangisten. Ihr Gründer: Pierre Gemayel. Für Pierre Gemayel und die Falangisten verkörperten die Palästinenser einst alles, was man an arabischen Moslems ablehnte - auch eine Reaktion darauf, dass die PLO im Libanon zu einem Staat im Staate geworden war. Der britische Journalist Robert Fisk kannte Gemayel gut.
"Die Falangisten traten im Bürgerkrieg für Ordnung ein, wir müssen Ordnung haben, wir müssen diese palästinensischen Terroristen in den Lagern stoppen. Immer ging es darum, dass die Palästinenser Müll-Menschen seien, die man im Libanon abgeladen habe. Und so sahen sich die Falangisten immer mehr als die eigentlichen Libanesen, die Phönizier, die zivilisierten Menschen - im Gegensatz zu den unzivilisierten Moslems und Palästinensern. Dieses Über-Rassen-Element, dass die einen reinblütige Libanesen, aber die anderen, die Palästinenser, Müll- und Untermenschen sind - das hatte einen faschistischen Unterton."
Kein Wunder: Pierre Gemayel hatte sich einst in Deutschland inspirieren lassen:
"Als ich ihn das letzte Mal vor seinem Tod traf, fragte ich ihn vor allem nach den Verbindungen zwischen den Falangisten und Nazi-Deutschland. Ich hatte gehört, dass er von den Olympischen Spielen 1936 in Berlin begeistert gewesen sei. Er sagte: "Ja, ich war dort. Ich war sehr davon beeindruckt, dass es Ordnung in Deutschland gab, und ich dachte damals, dass auch wir im Libanon solche Ordnung brauchen". Es gibt ein altes Foto des ersten uniformierten Treffens der Falangisten 1936 in Beirut, und da machen sie alle den Nazi-Gruß."
Im Bürgerkrieg ab 1975 ging der bewaffnete Arm der Falangisten in den Forces Libanaises auf, und man verbündete sich mit den Israelis. In Israel wurden einige der Milizionäre ausgebildet.
"Niemand wurde im Libanon der Prozess gemacht, Libanon hat auf die Jahre von Gewalt nur mit Amnestiegesetzen reagiert. Dieses Amnestiegesetz hat es unter anderem auch erlaubt, dass alle ehemaligen warlords, Kriegsherren, heute als Politiker zurückgekehrt sind und heute wieder in der Regierung sitzen - es ist Walid Jumblatt, es ist Nabih Berri, es ist Samir Geagea, es ist Michel Aoun - alle sind wieder da."
Monika Borgmann lebt in Beirut. Für ihren Film "Massaker" machte sie sechs der Milizionäre von Sabra und Shatila ausfindig und führte stundenlange Interviews mit ihnen. Robert Fisk, der seit Jahrzehnten aus dem Libanon berichtet, glaubt, dass die Libanesen nach dem Ende des Bürgerkriegs letztlich keine andere Wahl hatten.
"Im Krieg war jeder ein Kriegsverbrecher. Wenn du dann das Land wieder aufbauen willst - nur mit sauberen Leuten -, dann wirst du keinen finden. Das ist das Problem."
Es war erst das Massaker von Sabra und Shatila, das auch die breite Öffentlichkeit in Israel aufrüttelte. Ran Cohen, führender Politiker der linken Meretz-Partei und damals Reserveoffizier erinnert sich.
"Ich erfuhr von dem Massaker, als auch alle anderen Bürger Israels und der Welt davon erfuhren. Langsam wurde klar, und das Entsetzen darüber war groß, dass das Blutbad unter den Augen der israelischen Armee geschehen war. Obwohl die Mörder selbst nicht die israelischen Soldaten waren. Wir waren sehr entsetzt darüber und begannen sofort, eine große Demonstration zu organisieren. Es wurde die größte Demonstration, die es jemals in der Geschichte des Staates Israel gab. Den Demonstranten war klar, dass wir im Libanon die Verantwortung trugen und dass unter unserem Schutz ein so schreckliches Massaker verübt wurde, an Frauen und Kindern und alten Leuten, an unschuldigen Zivilisten. Das konnte das israelische Gewissen nicht ertragen."
Als die Demonstration der 400.000 ging die Massenkundgebung von Tel Aviv in die Geschichte Israels ein. Hunderttausende Demonstranten versammelten sich einen Tag vor Yom Kippur, dem jüdischen Versöhnungstag, auf dem zentralen Platz in Tel Aviv und forderten den Rücktritt Sharons. Es war der Anfang einer neuen Protestbewegung. Doch war das Blutbad an den palästinensischen Flüchtlingen ein Einschnitt auch im politischen Leben Israels? Der Friedensaktivist Uri Avnery ist skeptisch.
"Leider nicht. Die Demonstration war sehr eindrucksvoll, die war echt, die war authentisch, sie war spontan. Die Hunderttausende, die da waren, die waren echt, die waren erschüttert. Ich bin nicht sicher, wenn heute so etwas passieren würde, ob wir noch Hunderttausende zusammenbringen würden zu so einer Demonstration. Denn seitdem ist Israel sehr verroht. Man hat sich gewöhnt an Greueltaten, man hört beinahe täglich Geschichten, die einen erschüttern sollten, aber das damals war echt."
Wie immer am Jahrestag des Massakers wird der bekannteste Schriftsteller Libanons, Elias Khoury, mit einigen wenigen Palästinensern und Libanesen auch dieses Jahr wieder Blumen auf dem Platz des Massengrabes niederlegen. Ein Gedenken im europäischen Sinne wird es nicht geben. Warum das nicht so ist, beschreibt Khoury, der sich wie kaum ein anderer mit der palästinensischen Seele beschäftigt hat.
"Das Problem mit der palästinensischen Erinnerung, mit dem Andenken ist - und ich habe das festgestellt, als ich meine Novelle 'The Gate of the Sun' geschrieben habe - du schreibst nicht wirklich über Geschichte. Die palästinensische Tragödie ist eben keine Vergangenheit. Sie ist immer noch aktuell. Das sieht man doch in Gaza, dem Westjordanland und auch in den Camps im Libanon. Die Vergangenheit ist so präsent, dass sie eben nicht als Vergangenheit wahrgenommen und begangen wird. Das ist das Problem mit der palästinensischen Geschichtsbewältigung."