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Blutiger Bandenkrieg in Marseille

Fast zwei Dutzend Tote alleine in diesem Jahr, Hinrichtungen der Drogenmafia auf offener Straße: Was derzeit in der französischen Hafenstadt Marseille passiert, lässt aufhorchen. Politik und Polizei scheinen handlungsunfähig.

Von Ursula Welter |
    Wer Wahlen gewinnen will, kommt an Marseille nicht vorbei. Auch Nicolas Sarkozy, der abgewählte französische Staatspräsident, hat im Wahlkampf Reden in Marseille gehalten. In der zweitgrößten Stadt des Landes, der nach wie vor bedeutenden Hafenstadt am Mittelmeer. Der Stadt, die im Januar Kulturhauptstadt Europas wird.

    "Marseille hatte natürlich einen katastrophalen Ruf in Frankreich..."

    ... sagt Etienne Jaugey, der die Stadt und die Region seit Jahrzehnten kennt ... .

    "Das ist auch eine Stadt, die sehr stark von den Kolonien lebte ... "

    Asien und Nordafrika lieferten die Zutaten für florierende Geschäfte in der Stadt.

    " ... und das alles ist mit dem Verlust der Kolonien runtergekommen und danach war Marseille nur noch eine Stadt von Gangstern und sehr schlechtem Ruf und miserablen ökonomischen Bedingungen."

    Der Verlust der Kolonien damals, hohe Streikbereitschaft der Hafenarbeiter heute – Gründe für den Niedergang hörte man viele in Marseille. Die Arbeitslosigkeit liegt stetig über dem nationalen Niveau. Paris, die Hauptstadt, ist dank der Hochgeschwindigkeitszüge nur gut drei Fahrstunden entfernt. Viele Pariser haben ihre Häuser in der Region am Meer. Weit weg von den Hochhaussiedlungen der Vorstädte, den cités von Marseille:

    "Was kann auf den Straßen Respekt einflössen, für meine Begriffe nur das Militär, das Autos kontrolliert, die cités müssen entwaffnet werden","

    … verlangte die sozialistische Senatorin Samia Ghali. Die Forderung, das Militär in Marseille einzusetzen, durfte als Kritik an Ghalis Parteifreund, Innenminister Manuel Valls, aufgefasst werden. Der hatte die Einrichtung besonderer Sicherheitszonen in besonders schwierigen Regionen angekündigt. Das, so Ghali, helfe Marseille aber auch nicht. Der Bürgermeister der Stadt, der liberalkonservative Jean-Claude Gaudin, flankierte die Kritik mit dem Vorwurf, die Regierung in Paris wolle ohnedies nur Kommunen unter sozialistischer Führung helfen.

    Die Klagen kamen in der Hauptstadt an, der Premierminister berief eine Sondersitzung ein. Alle betroffenen Ressortchefs sollen Vorschläge machen, einen Aktionsplan müsse es geben, mehr Sicherheitskräfte, vielleicht mehr Videoüberwachung, sicher aber Förderung von Ausbildung und Beschäftigung.

    Was kann das bringen, fragten die Reporter von Radio France und machten sich auf in die heiklen Viertel, dorthin, wo die Drogenhändler ihre Grenzen abgesteckt haben, wo das Geschäft blüht und die Polizei offenbar machtlos ist.

    Ein Drogensüchtiger schildert, wie er regelmäßig die Gegend im Norden der Stadt aufsucht, um sich zu versorgen.

    ""Man stellt sich dort in der großen Cité an, in einer Schlange, wartet, dann wirst Du zum Dealer gebracht, der öffnet seine Tasche, mit verschiedenen Drogensorten, es gibt kein bonjour, kein au revoir, und anschließend gehst Du, einfach so ... "

    Alles sei gut organisiert, ein richtiger Handel, mit Checkpoints am Eingang und am Ausgang. Die Polizei kontrolliere die Drogennutzer, das wisse man, aber der Handel selbst werde nicht unterbunden.

    "Es gibt etwa eine Polizeipatrouille", schildert ein anderer, "in einem Parkhaus, und einige Meter weiter wird gehandelt, am helllichten Tage."

    "Einige sagen uns ganz offen, wir haben Anweisung von oben, den Handel nicht zu unterbinden, damit es keine Randale gibt."

    Sicherheitskräfte bestätigen das den Reportern von Radio France. So erzählt ein Polizist, der Mitglied der Gewerkschaft ist, wie die Drogenszene von Marseille die Verantwortlichen der Stadt erpresst:

    "Die Kommunalpolitiker beugen sich dem Druck und den Drohungen aus den Wohnvierteln. Sie müssen Gewalt gegen die Feuerwehr, Beschädigung von Turnhallen, brennende Autos fürchten."

    "Wir Polizisten haben die Nase voll davon, von dieser Hierarchie, wir sind schließlich ausgebildet, dass wir unsere Arbeit machen, dass man uns vertraut."

    Die Drogenclans haben die nördlichen Wohnviertel in Handelszonen aufgeteilt, Rechnungen untereinander werden auf offener Straße beglichen – die Meldungen über Auftragsmorde häufen sich, die Vokabel "Kalaschnikow" ist an der Tagesordnung.

    Die Krisensitzung der Regierung in Paris wird in Marseille mit Interesse erwartet. Die Vorbereitungen der "Kulturhauptstadt 2013 " laufen auf Hochtouren, dieser Ruf stehe auf dem Spiel, sagen die Kulturschaffenden und die Marseillais, die sehr stolz sind auf ihre Stadt und die Region. Innenminister Manuel Valls gibt sich entschlossen, wie viele Politiker vor ihm:

    "Diese Stadt, die zweitgrößte Frankreichs, braucht die Unterstützung und den Schutz des Staates."