Als vor kurzem die "Neue Züricher Zeitung" mit Rüdiger Safranski ein Interview führte, platze es irgendwann aus dem Journalisten Renè Scheu heraus: "Würden wir das Interview in Deutschland führen, müsste ich nun entgegenhalten: Das klingt schwer nach AfD…"
In der Tat: Dass für Safranski die Rede von der "Willkommenskultur" irgendwann "kaum noch auszuhalten" war, dass er den alten Nationalstaat und dessen im Zweifel schlagbaum-bewehrte Grenzen als "Zukunftsmodell" feiert und nicht etwa ein egalitäres Europa, dass Safranski im NZZ-Interview von einer "anthropologischen Weisheit" schwadroniert, die besage, dass Gesellschaften, "die zu viele Fremde in kurzer Zeit aufnehmen (…) sich ihrer selbst entfremden" - all das klingt schon schwer nach AfD, das hat der Kollege der Schweizer Zeitung recht.
"Das und nichts anderes ist Denken"
Die Verteidigung Safranskis übernahm bei der Börne-Preis-Verleihung in der Frankfurter Paulskirche der Schauspieler Christian Berkel in seiner Laudatio: "Man hat Rüdiger Safranski aufgrund seiner Äußerungen in die Nähe zur AfD gerückt oder als Nazi beschimpft, weil er die Willkommenskultur oder, besser gesagt, ihre Motive hinterfragt hat. Mit Verlaub: das und nichts anderes ist Denken."
Man täte Rüdiger Safranski - ebenso übrigens wie seinem in der Paulskirche anwesendem früheren Fernseh-Gesprächspartner Peter Sloterdijk - tatsächlich unrecht, wenn man ihn auf das Flüchtlingsthema reduzieren würde. Das machte auch die sozialdemokratische Frankfurter Kulturdezernentin und ehemalige Literaturkritikerin Ina Hartwig in ihrer Ansprache klar:
"Man mag in politischen Dingen nicht immer mit Safranski übereinstimmen. Aber gerade der biographische Ansatz seiner Bücher unterstreicht, wie sehr das Denken, auch das gefährliche Denken - erwähnt seien seine brillanten Nietzsche- und Heidegger-Biografien - aus dem Einflussbereich einer bestimmten Epoche zu erklären ist. Diese biographische Tradition war in Deutschland lang, zu lange verpönt, aus Gründen, über die es sich lohnen würde, nachzudenken. Rüdiger Safranski hat viel dafür getan, die Biografik wieder in ihr Recht zu setzen."
Wunsch nach Börne-Biographie
Ina Hartwig wünschte sich von Safranski eine Börne-Biographie. In seiner Dankesrede legte Rüdiger Safranski dann quasi ein Exposé für eine Monographie zu Börne vor. Safranski skizzierte den Vormärz-Dichter und Politiker als überzeugten europäischen Republikaner, dem klar war, dass die Errungenschaften der französischen Revolution auch an der Elbe verteidigt werden müssten, dass aber der "selbstmörderische Hass" der Deutschen auf die Franzosen die Aussöhnung beider Völker schwer mache.
Börne war streitlustig, beschimpfte Goethe als "Fürstenknecht" und "ästhetischen Stabilitätsnarren", Heinrich Heine warf er dessen Festhalten am Primat der Literatur vor der Politik vor. Rüdiger Safranski zeigte am Konflikt Börne versus Heine das Problem des "politisch-moralischen Utilitarismus" auf, der im Zweifel die Spannung zwischen Poesie und Politik zugunsten der Politik auflösen wolle:
"Es war Heine, der den politisch-moralischen Rechtfertigungsdruck, der auf den Künsten laste, explizit formulierte. Ein schrecklicher Syllogismus, schreibt er, habe ihn behext. Kann ich der Prämisse nicht widersprechen, dass alle Menschen das Recht haben zu essen, so müsse er sich eigentlich auch der Forderung anschließen, dass erst einmal für das Elementare gesorgt sein muss, ehe man sich den Nachtigallen der Poesie widmet."
"Durchsubventionierte Kulturwelt"
Die heutige "durchsubventionierte Kulturwelt", so Safranski, beuge sich dem schon von Heine erkannten politischen Rechtfertigungsdruck, indem sie eine Art "Gesinnungsästhetik" entfalte:
"Ihr zufolge kann die Kunst mit den Übeln der Welt koexistieren, unter der Voraussetzung, dass – erstens- diese Übel ausdrücklich zum Thema gemacht werden. Dass man - zweitens - nicht so zu tun braucht, als könnte man sie lösen. Es zeigt, dass man die Wunden zeigt, woraus dann – drittens – die freischwebende Solidarität folgt mit den Verdammten dieser Erde."
Safranski bezeichnete es als "peinlich", dass im Zeichen solcherart politisch-korrekter aber oberflächlicher Kunst nun "Flüchtlinge ausgestellt" würden, wie unlängst auf der Biennale in Venedig. Da kann man ihm nur zustimmen. Doch warum dieser kluge Mann einerseits Ludwig Börnes anarchistisches Denken lobt und dessen Sinn für "ekstatische Momente der Freiheit" und andererseits keine Sympathie für den Moment der Anarchie bei Angela Merkels Grenzöffnung für die Flüchtlinge auf der Balkanroute empfinden kann, bleibt rätselhaft.