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Boko Haram in Nigeria
Religion als Vorwand

Im Norden Nigerias spielt sich einer der gefährlichsten Konflikte der Welt ab. Die islamistische Terrorgruppe Boko Haram will einen Gottesstaat errichten, bei dem eine strenge Auslegung der Scharia gelten soll. Zehntausende Menschen wurden bereits getötet, hunderttausende sind auf der Flucht.

Von Katrin Gänsler |
    Im Norden von Nigeria: Armut und Perspektivlosigkeit – Ursachen dafür, dass Boko Haram so stark werden konnte
    Der Norden Nigerias lebt wie der Süden des Niger von der Landwirtschaft. Jungen Menschen bietet diese jedoch nur wenig Einkommensmöglichkeiten. (Katrin Gänsler)
    Die Nachrichten der nigerianischen Armee-Sprecher wirken ermüdend. Seit Monaten listen sie fast täglich die Erfolge im Anti-Terror-Kampf auf und wollen der Bevölkerung deutlich machen: Das Ende der Miliz Boko Haram ist zum Greifen nah. Augenzeugen im Nordosten des Landes hingegen – jener Region, in der Boko Haram am stärksten vertreten ist – sie sagen: Viele Kämpfer seien noch immer auf freiem Fuß, überfallen Dörfer, töten Menschen und sorgen weiter für Angst und Schrecken. Auch Idayat Hassan ist skeptisch, wenn einmal mehr der Siegesjubel erklingt. In der Hauptstadt Abuja leitet sie das Zentrum für Demokratie und Entwicklung. Es ist eine westafrikanische Nichtregierungs-Organisation.
    "Die Terrorgefahr zu beenden, erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der über das Militärische hinausgeht. Der Präsident besteht zwar darauf, der Kampf sei 'technisch gewonnen'. Aber sind wir wirklich überzeugt davon, dass der Krieg schon gewonnen ist?"
    Auch das Nachbarland Niger im Visier
    Die Ursachen dafür, dass die 2002 gegründete Bewegung so stark werden konnte, würden weiterhin nicht angegangen, so der Vorwurf: etwa Armut und Perspektivlosigkeit.
    Im Visier von Boka Haram ist allerdings nicht nur der Norden Nigerias, sondern immer häufiger auch das Nachbarland Niger. In die Grenzregion Diffa haben sich schon vor Jahren Terroristen zurückgezogen. Seit einem Jahr kommt es dort auch zu Anschlägen. Hassane Boukar, der für ein alternatives Journalistennetzwerk in Niamey, der Hauptstadt Nigers, arbeitet, beobachtet diese Entwicklung mit Sorge:
    "Religion ist nur ein Vorwand. Boko Haram ist in die Region gegangen, um die prekäre Lage auszunutzen, vor allem die Armut. Schauen wir uns zum Beispiel die Jugendlichen in der Gegend um Diffa an. Sie suchen, wie andere junge Menschen übrigens auch, anderswo nach Arbeit, wenn sie ihre Felder bestellt haben. Diese Phase dauert gerade einmal drei Monate. In den übrigen neun Monaten gibt es kaum Möglichkeiten."
    Probleme, die es allerdings seit Jahrzehnten gibt – lange bevor Boko Haram entstand. Ob das erklärt, warum sich immer wieder radikal-islamistische Gruppierungen bilden? Hassane Boukar erinnert daran, dass es solche Gruppen vor allem im Norden Nigerias schon immer gab, auch als noch niemand von Islamismus sprach:
    Boko Haram hatte niemals eine religiöse Agenda
    "Sicherlich ist es eine Region, in der religiöse Anführer Menschenmassen mobilisieren können. Es passiert auch nicht zum ersten Mal. Ab 1979 hat zum Beispiel die Maitatsine-Bewegung in Kano mehr als 5000 Menschen umgebracht. Das zeigt: Religion ist schon immer genutzt wurden, um beispielsweise Politik zu machen."
    Die Maitatsine-Bewegung konnte nach schweren Kämpfen jedoch Mitte der 1980er Jahre besiegt werden. Anders als bei Boko Haram kannte die Armee den Wohnort des Gründers in der Millionenstadt Kano. Auch zerstreuten sich die Anhänger nie. Der Gründer der Maitatsine-Bewegung wie auch der von Boko Haram – beide sollen ausgesprochen charismatisch gewesen sein. Sie stellten den Islam in den Vordergrund, sagen Kenner der Szene. Mausi Segun, Nigeria-Expertin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, bezweifelt den religiösen Ansatz jedoch:
    "Es ist klar, dass Boko Haram niemals eine religiöse Agenda hatte. Möglicherweise gab es einst eine politisch-religiöse Agenda, um Regionen zu besetzen. Dort sollte die Scharia so gelebt werden, wie sie es sich vorstellten. Wir haben mit ehemaligen Mitgliedern gesprochen. Die haben gar keine Ahnung von der Ideologie der Gruppe."
    Religion bleibt aber ein Faktor
    Trotzdem könnte Religion künftig ein wichtiger Faktor sein, sollte es zu einem Prozess der Versöhnung kommen – und zum Wiederaufbau der von Boko Haram besetzten Gebiete. Mausi Segun:
    "Viele Menschen im Norden finden: Politische und traditionelle Herrscher haben versagt. Aber es gibt weiterhin viel Respekt für Religionsführer. Sie haben die Menschen beschützt und sich um ihre Bedürfnisse gekümmert, gerade in Zeiten, in denen andere Strukturen versagt haben. Das gilt besonders für Borno."
    Das ist jener Bundesstaat im äußersten Nordosten Nigerias, der die Heimat der Terrormiliz ist. 2002 gründete sich diese in der Hauptstadt Maiduguri.
    Dort – wie anderswo im Land auch – sind es heute vor allem religiöse Gruppierungen, die Unterkünfte für Binnenflüchtlinge betreiben und sie mit Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgen oder den Schulbesuch für Kinder organisieren. Damit sind sie zu den wichtigsten Ansprechpartnern für Opfer der Terrorgruppe geworden. Diese Einschätzung teilt auch Idayat Hassan.
    Idayat Hassan, Leiterin des Zentrums für Demokratie und Entwicklung in der nigerianischen Hauptstadt Abuja.
    Idayat Hassan, Leiterin des Zentrums für Demokratie und Entwicklung in der nigerianischen Hauptstadt Abuja. (Katrin Gänsler)
    "Religion bleibt ein Faktor – und nicht nur, wenn es um Ursachen geht. Es wird auch ein Weg sein, um die Gefahr zu beenden. Doch es geht nicht nur um Boko Haram. Es gibt auch viele weitere kleine islamistische Gruppierungen hier im Norden Nigerias."
    Diese Splittergruppen sind jedoch kaum bekannt. Doch offenbar gelingt es ihnen, sich zu etablieren, obwohl die nigerianische Regierung ihren Verteidigungshaushalt in den vergangenen Jahren kontinuierlich aufgestockt hat. Ähnliches gilt für den Niger.