Das verschleierte Mädchen, das sich auf einem Markt in Maiduguri im Nordosten Nigerias Anfang Januar in die Luft sprengte, soll kaum zehn Jahre alt gewesen sein. Als die Miliz das Kind am Markteingang kontrollieren wollte, hätten die Metalldetektoren angeschlagen, die Explosion zerfetzte den Körper des Mädchens und riss 20 Menschen mit in den Tod. So hat es ein Ladenbesitzer beschrieben, der das Attentat aus der Ferne beobachtet hat. Solche Attentate mit 10- bis 13jährigen Mädchen gab es in der letzten Zeit mehrere, sagt Emmanuel Franklyne Ogbunwezeh von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte.
"Vor diesem Anschlag war ein 13-jähriges Mädchen in Nigeria verhaftet worden, sie war von ihrem Vater als Selbstmordattentäterin geschickt worden. Aber sie konnte das nicht ausführen, weil sie Angst hatte. Also daher wissen wir, dass Boko Haram viele Mitglieder hat, die keine Achtung vor dem Leben ihrer Töchter haben, und sie sind bereit, ihre Töchter als Selbstmordattentäterinnen zu schicken."
Es wird auch gemutmaßt, Boko Haram könnte einige der letztes Jahr verschleppten Mädchen aus der Schule in Chibock zu Anschlägen gezwungen haben.
"Es gibt schon drei verschiedene Selbstmordattentäterinnen und wir konnten die Gesichter nicht mehr erkennen, um zu wissen, ob sie zu den Chibock-Girls gehören oder nicht. Aber wir wissen von dem Mädchen, das verhaftet wurde, dass ihr Vater sie geschickt hat, um das zu machen. Das heißt, dass der Vater entweder ein Mitglied von Boko Haram ist oder ein Sympathisant."
"Boko Haram macht keinen Unterschied zwischen Muslimen und Christen"
Diese Taten zeigen einmal mehr, mit welcher brutalen Kaltblütigkeit die Terroristen vorgehen. Darin stehen sie dem IS in Syrien und Irak in nichts nach. Ob Boko Haram Kontakte zur IS hat, vermag Ogbunwezeh nicht zu sagen.
"Das können wir nicht bestätigen, aber was wir wissen im Moment, ist, dass Boko Haram macht ISIS nach, egal, was ISIS macht, Boko Haram schaut genau zu und versucht das in Nigeria umzusetzen."
Anfang Januar hat Boko Haram die Stadt Baga im Nordosten Nigerias und 16 Dörfer rund um Baga ausgelöscht.
"Boko Haram ist systematisch auf diese Stadt losgegangen und in vier Tagen hat diese Stadt niedergebrannt und mehr als 2000 Menschen geschlachtet."
Baga war einmal eine überwiegend christliche Stadt, aber, so Ogbunwezeh.
"Im Moment macht Boko Haram keinen Unterschied mehr zwischen Muslimen und Christen. Sie schlachten jeden ab. Sie bringen jeden um, der ihnen im Weg ist. Sie wollen ein Kalifat in Nordnigeria gründen. Und dazu haben sie Widerstand von den moderaten Muslimen."
Menschenrechtsaktivist Ogbunwezeh vermutet, dass der Terror noch zunehmen wird, je näher die Wahlen rücken Mitte Februar.
Regierung will das Problem nicht wahrhaben
"Boko Haram kämpft gegen drei Werte, die wir in Nigeria schätzen. Das erste ist Demokratie, das zweite ist Bildung – deshalb greifen sie Schulen an – und das dritte ist die Kirche. Sie wollen keine Kirche in Nigeria haben. So auf diesen drei Ebenen versucht Boko Haram, die Menschen in Nigeria kaputt zu machen."
Die Regierung scheint nicht nur überfordert mit dem Problem Boko Haram. Sie will nicht wahrhaben, dass es dieses Problem in diesen Ausmaßen überhaupt gibt. Sie korrigiert die Opferzahlen dramatisch nach unten. Bei den schwersten Angriffen Anfang Januar sprach sie von gerade mal 100 Opfern. Während die BBC und Amnesty International die Zahl der Getöteten auf 2000 geschätzt hat.
"Wir wissen, dass ist mehr als 2000 Menschen waren. Man kriegt Informationen zuerst von den Einheimischen. Die Leute rufen uns an und sagen uns, guck mal, es ist so passiert, hier und hier, und dann schauen wir online, um zu sehen, was die nigerianischen Online-Media zu berichten haben, und von daher kommen wir zu unseren Ergebnissen. Wir haben viele, viele Quellen in Nordnigeria sowieso."
Präsident Jonathan Goodluck: hochrangige Boko Haram Mitglieder in der Regierung
Nigerias Präsident Goodluck Jonathan will an der Macht bleiben. Darum muss er den Eindruck vermeiden, er hätte das Terrorproblem nicht im Griff. Und so spielt er die Problematik herunter. Derweil wendet sich der Erzbischof von Jos, Ignatius Kaigama an die internationale Gemeinschaft.
"Wir brauchen Unterstützung bei der Aufklärung, wer Boko Haram mit Waffen versorgt. Sie haben sich sehr weiterentwickelt. Die Anführer haben mit Messern angefangen, jetzt haben sie hoch entwickelte Waffen. Woher haben sie die? Die können sie ja nicht im Busch selber herstellen. Die kommen von irgendwoher. Wenn die internationale Gemeinschaft uns bei der Aufklärung unterstützt, in welchen Ländern diese Fanatiker trainiert und ausgebildet werden oder woher sie ihre Gelder beziehen, dann würde uns das sehr helfen."
Menschenrechtsaktivist Ogbunwezeh plädiert dafür, dass die nigerianische Regierung erst mal ihre eigenen Hausaufgaben macht.
"Unser Präsident Jonathan Goodluck hat gesagt, es gibt hochrangige Boko Haram Mitglieder in seiner Regierung. Wenn ein Präsident so etwas sagt, muss man ihm Glauben schenken. Es gibt viele Menschen in den höchsten Ebenen der nigerianischen Regierung, die Boko Haram mit Informationen und mit Geld unterstützen. Nigeria muss diese Menschen finden und vors Gericht stellen sonst können wir Boko Haram nicht besiegen."
Keine Stellungnahme von der Regierung
Erzbischof Kaigama wünscht sich für sein Land, dass es - wie Frankreich nach den Anschlägen von Paris – geschlossen gegen den Terror aufsteht.
"Es wurden so viele Menschen in Nigeria ermordet. Und niemanden scheint es wirklich zu interessieren. Es wurden Mädchen entführt – und nichts ist passiert. Wenn wir so einen Patriotismus und diese Liebe für unser Land hätten, dann würden wir so reagieren wie die Franzosen. Ich rufe unsere Regierung und die Bevölkerung auf, diese Einstellung zu haben."
Doch wie das gehen soll, fragt sich Menschenrechtsaktivist Ogbunwezeh, wenn der Präsident des Landes zum jüngsten und bislang schwersten Boko Haram Terror noch nicht einmal eine Stellungnahme abgegeben hat.
"Die Regierung hat sich bis jetzt nicht darüber geäußert. So, wenn die Nigerianer sich beklagen, dass die Weltöffentlichkeit nichts dazu gesagt hat: Unsere Regierung hat nichts dazu gesagt. Wie kann die Weltöffentlichkeit uns ihr Mitleid schenken."