Dem Tsinza lauschte Christopher Y. Mtaku schon als Kind. Das Xylofon wird in traditioneller Weise bei Beerdigungen gespielt, sagt Mtaku, ein missionierter Christ vom Stamm der Bura, eine von rund 400 Ethnien im Vielvölkerstaat Nigeria.
Die Rolle des Instruments hat sich im Lauf der Zeit verändert, seine Klänge werden von jungen Menschen heute auch in anderen Kontexten verwendet - als Klingelton auf dem Mobiltelefon etwa. Wie dieser Kulturwandel abläuft, beschreibt der junge Forscher in seiner Doktorarbeit. Die Ruhe, um seine Studie zu vollenden, fand Mtaku erst im Center for World Music (CWM) im beschaulichen Hildesheim. Monate des Pendelns liegen hinter ihm. Eigentlich lehrt Mtaku an der Universität Maiduguri. Die Hauptstadt des Bundesstaates Borno im Nordosten Nigerias war Keimzelle der islamistischen Sekte Boko Haram, die seit Jahren einen bizarren Feldzug gegen höhere Bildung und westliche Werte führt. Christopher Mtaku beschreibt:
"Ich lebe und arbeite seit bald 30 Jahren in der Stadt, aber es gibt Viertel, wo ich noch nie gewesen bin - es ist einfach zu gefährlich, sich dort aufzuhalten!"
Bombenanschläge auf Schulen und Kirchen, Überfälle auf Dörfer und Wohnheime, immer neue Mordtaten und Entführungen haben die Bewohner des ethnisch und sozial zersplitterten Landes in einen Zustand andauernder Paranoia versetzt.
Wissenschaft im Schatten des Terrors
Von gefährlichen und zermürbenden Feldstudien in der afrikanischen Heimat erzählt auch Hajara Njidda, auch sie ist Doktorandin der Partneruniversität Hildesheim:
"Du hast keine Ahnung, was in der nächsten Minute passiert! Und es gibt gewisse Dinge, die kannst du einfach nicht tun: zum Beispiel über Stunden in der Bibliothek sitzen. Du musst zusehen, dass du vor Sonnenuntergang wieder zuhause bist! Wissenschaftliche Untersuchungen sind in einem solchen Umfeld überaus schwierig. Ich habe zum Beispiel versucht, eine kleine Sammlung von Musikinstrumenten aufzubauen. Die Instrumente sind dort, aber die Menschen verstecken sie aus Furcht vor den Terroristen!"
Kein Nachtleben mehr in der von Flüchtlingen überlaufenen Millionenstadt Maiduguri. Boko Haram nimmt Beamte und Militärs, Kulturschaffende und Akademiker ins Visier. Die Universität mit ihren 30.000 Studierenden versucht und schafft es auch, akademisches Leben aufrecht zu erhalten. Kein Gedanke, Austauschstudenten ins Herzland der Islamisten zu schicken, sagt Wolfgang-Uwe Friedrich. Doch mit der Forschungs- und Promotionsförderung lässt sich den Partnern sinnvoll helfen. Der Präsident der Uni Hildesheim sieht sich auch moralisch in der Pflicht:
"Die akademische Welt ist global, sie war es schon immer! Und wenn jemand in Not ist, dann ist es die Verpflichtung anderer Universitäten, zu unterstützen, zu helfen, Weltoffenheit zu demonstrieren: 'Ihr habt Partner, Ihr seid nicht vergessen!'"
Digitales Archiv soll Musikkultur sichern
Ein digitales Archiv, das die ganze Vielfalt der Sprachen und der musikalischen Kultur Westafrikas dokumentiert: An arbeitet die Forschergruppe um den Musikethnologen Raimund Vogels gerade. In Hildesheim digitalisieren und katalogisieren die beiden Doktoranden Njidda und Mtaku rund 1.000 Stunden Ton- und Videoaufzeichnungen, die als Leihgaben in Museen oder als verborgene Kostbarkeiten in den Schubladen von Gelehrten überdauert haben. Vogels kennt Land und Leute von zahlreichen Feldstudien, die vertrauensvolle Zusammenarbeit ist vor allem sein Verdienst.
"Kein Mensch macht in Nordost-Nigeria heutzutage Musik. Gerade angesichts der Situation jetzt, wo Dörfer und Gemeinschaften komplett zersprengt worden sind, halten wir es für eine wichtige Aufgabe, dieses Material zusammenzutragen, überhaupt erst mal, und da, wo wir die Zustimmung der Musiker haben, eventuell dieses Material übers Mobiltelefongerät quasi als mobiles File abrufbar zu machen. Insofern versuchen wir so, einen Beitrag zu leisten: Die Spuren von dieser Musik, das, was sozusagen an Oberfläche noch von uns gesichert worden ist, dass wir zumindest das in diese Gemeinschaften zurückgeben - und zu schauen, was sie damit machen!"
Die Nigerianer versuchen, ihr kulturelles Erbe in die neue Zeit hinüberzuretten. Ähnlich wie Grabungsstätten sieht Vogels auch die mentalen Archive unserer Welt von bewaffneten Konflikten existenziell bedroht.