Gelehrsamkeit, die gab es vorher schon, auch mit Gelehrtenschulen konnten die antiken Philosophen aufwarten. Doch eines hatte die neuartige Universität in der italienischen Stadt Bologna ihren antiken Vorläufern voraus: ihre rechtliche Verfasstheit. Die Gründung der Universität von Bologna Ende des 11. Jahrhunderts markierte also den Übergang von Tradition zur Institution, wenn man so will: das Erfolgsrezept dieser langlebigen Einrichtung Universität.
"Das bedeutete überall in Europa, dass sie nach außen, vor allem gegen die Stadt, sich abgrenzte als ein Rechtsraum mit eigenen und anderen Normen."
"Das ist eigentlich das gemeinsame Element von 1000 Jahren Universitätsgeschichte. Die Universität ist über diese lange Zeit immer eine Institution mit eigenem Recht gewesen, die sich ihre Regeln und ihre Verfahren selber gegeben hat, und die sich damit auch diejenigen, die in ihr bestimmen, selber gewählt hat. Wenn man so will, eine frühe Schule des Debattierens und der kollektiven Entscheidungsfindung", sagt der Verwaltungshistoriker Stefan Fisch.
Von Bologna nach Bologna – von der mutmaßlich ersten europäischen Universität zum europäischen Hochschulraum des 21. Jahrhunderts: Fisch hat diese beiden Meilensteine ausgewählt, um die Geschichte der europäischen Universität zu erzählen. Herausgekommen ist eine Geschichte der Institution und der Ansprüche, welche die Gesellschaft und die Herrschenden an sie gestellt haben. Der Konflikt zwischen diesen Polen – Wissenschaft als Selbstzweck und Erwartungen der Gesellschaft - zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch.
Fisch: "Humboldt wird zurechtromantisiert"
Ein Schwerpunkt dabei: Das preußisch-deutsche Bildungsideal nach Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als sich die Wissenschaft die Herausbildung des kritisch denkenden Individuums zum Ziel setzte. Auch heute noch wird dieses Ideal als politisches Argument herangezogen. Die neue Universität nach Wilhelm von Humboldt war Forschungsanstalt, auf den wissenschaftlichen Fortschritt ausgerichtet, nicht auf die berufliche Bildung. Gleichzeitig entwickelten sich im Nachbarland Frankreich die fachspezifischeren Grandes Écoles, die dem Staat fähige Beamte schaffen sollten. Doch auch das deutsche Modell blieb nicht unberührt von Nützlichkeitsansprüchen, erklärt Fisch:
"Natürlich wird der Humboldt da auch ein bisschen zurechtromantisiert, das ist eine sehr ideale Konzeption, und ich seh' auch, dass schon in der frühen Berliner Universität, die immer das Modell der Humboldtuniversität ist, dieses Zweckdenken eine Rolle gespielt hat. Und wenn man genauer hinsieht, dann sieht man, dass auch vor 150 Jahren die Studenten nicht nur idealerweise sich mit der klassischen Antike und der lateinischen und griechischen Philologie beschäftigt haben, sondern dass sie das getan haben, um ein Staatsexamen zu absolvieren und um Lehrer zu werden."
Dass die Ideale von freier Wissenschaft und Entwicklung des Individuums im Nationalsozialismus ein vorläufiges Ende nehmen mussten, liegt auf der Hand. Nach außen hin blieben die Universitäten rechtlich eigenständig bestehen, nach innen wurden sie in den Dienst nationalsozialistischer Ideologie gestellt.
Den Neubeginn nach 1945 in beiden deutschen Staaten handelt der Autor recht zügig ab, obwohl gerade diese Zeit das hochdifferenzierte Hochschulsystem zumindest im Westen hervorbrachte – eine dezentrale, nach Größe und Zielsetzung sehr vielfältige Mischung aus Volluniversitäten, Fachhochschulen und diversen spezialisierten Einrichtungen.
"Universität wird zur Berufsakademie umgebaut"
Sie hat bis heute Bestand. Im letzten Abschnitt, dem Epilog, wie Fisch ihn nennt, lässt der Autor seine eigene Haltung zu den jüngeren Entwicklungen der europäischen Hochschulen durchblicken – sprich: zur immer noch andauernden Umstellung auf Bachelor- und Masterabschlüsse unterm Stichwort Bologna-Reform:
"Der aufnehmende Arbeitsmarkt darf inzwischen auf weit über 9.000 B.A.-Studiengänge und fast 24.000 M.A.-Studiengänge in Europa reagieren. Die Vielzahl der Studiengänge entspringt einer stark differenzierenden, im Hochschulmarketing nach Marktlücken suchenden Orientierung an möglichen Berufsfeldern; die Universität wird zum Teil zur Berufsakademie umgebaut. Der Preis dafür ist ein gewisser Verlust der Kenntnis des jeweiligen Fachs als Ganzes."
1.000 Jahre Geschichte auf knapp 130 Seiten – das ist mindestens ambitioniert – zumal das Buch den Anspruch hat, die Geschichte einer europäischen Institution zu erzählen. Das kann der Autor nur begrenzt einlösen, der Schwerpunkt liegt zumindest in der Neuzeit auf Deutschland und Frankreich. Was der Autor aber verdeutlicht: Die europäische Universität gab und gibt es nicht. Während im deutschsprachigen Raum das Humboldt'sche Ideal dominierte, waren die Universitäten in Frankreich und auf den Britischen Inseln pragmatischer orientiert.
Die Frühe Neuzeit, immerhin ein Zeitraum von drei bis fünf Jahrhunderten, wird sehr knapp abgehandelt. Die Folgen der Reformation, die Herausbildung einer ersten empirisch basierten Wissenschaft etwa durch Galilei und Newton, all das wird vom Autor nur angesprochen.
Und dennoch gelingt dem Historiker Stefan Fisch insgesamt eine gewinnbringende Darstellung, weil er sich eben nicht auf die Chronologie allein verlässt, sondern weil er die Strukturmerkmale einer Institution herausarbeitet, wie diese sich verändert haben und, was fast noch interessanter ist: Was gleich geblieben ist. So wie heute die Fachhochschulen das Promotionsrecht haben wollen, mussten vor ihnen bis 1899 die Technischen Hochschulen um diese akademische Ehre kämpfen. Auch gab es bereits zu Humboldts Zeiten in Form des Privatdozenten ein wissenschaftliches Prekariat:
"Sozialgeschichtlich ist nicht zu übersehen, dass wegen dieser Wartejahre als Privatdozent ein Lehrstuhl nur für Männer mit Vermögen, eigenem oder angeheiratetem, erreichbar war."
Und das erinnert - bei der regelmäßig in internationalen Studien monierten fehlenden Durchlässigkeit unseres derzeitigen Bildungssystems - doch sehr an die Gegenwart.
Stefan Fisch: Geschichte der europäischen Universität. Von Bologna nach Bologna.
C. H. Beck Verlag, 128 Seiten, 8, 95 Euro
C. H. Beck Verlag, 128 Seiten, 8, 95 Euro