Rauchende Schornsteine, brüllend laute Maschinen, gigantische Fabrikanlagen, die jeden Morgen aufs Neue zahllose Menschen einsaugen und nach einem überlangen Arbeitstag wieder ausspucken. Erschöpfte Männer, Frauen und nicht selten auch Kinder, arm und ausgebeutet, abgespeist mit einem Lohn, der gerade so zum Überleben reicht. Verhältnisse wie diese haben über viele Jahrzehnte das Bild des Kapitalismus geprägt.
Mehrwert entsteht durch Arbeit, die von den einen geleistet wird und deren Früchte von den anderen vereinnahmt werden. Ausgebeutete gegen Ausbeuter. Das war lange Zeit die prägnante Formel des Kapitalismus. Die hat sich auch dann nicht geändert, als die Fabriken immer sauberer wurden, die Arbeitstage kürzer und die Löhne stiegen. Auch heute gilt sie noch, obwohl große Teile der Industrie aus den nach ihr benannten Industrieländern längst verschwunden sind. Denn die Fabriken gibt es nach wie vor. Sie stehen jetzt nur in anderen Ländern.
Auch das Elend der Fabrikarbeit gibt es noch. Es ist nur weniger sichtbar geworden, zumindest für uns. Und dennoch ist das nicht die ganze Wahrheit des Kapitalismus. Neben dem Mehrwert durch Arbeit und Ausbeutung gab es von Anfang an auch einen kaufmännischen Mehrwert. Waren werden von einem Ort zum anderen verschoben oder zu einem bestimmten Zeitpunkt gekauft und gehortet und gewinnen auf diese Weise an Wert. Diesem Mehrwert widmet sich das neue Buch von Luc Boltanski und Arnaud Esquerre.
Arbeit und Kreativität
Im Zentrum ihrer Untersuchung steht die Frage, wie eigentlich ökonomische Werte entstehen. Gängig ist die Vorstellung, dass Werte erarbeitet werden. Im Preis einer Ware spiegeln sich die Kosten ihrer Produktion. Formuliert wurde diese Auffassung im 19. Jahrhundert. In einem Produkt steckt Arbeit, und die Arbeitskraft, die zu seiner Herstellung nötig ist, muss bezahlt werden. Ist die Arbeitskraft günstig, kann das Produkt zu einem niedrigen Preis angeboten werden. In der klassischen Nationalökonomie standen neben den Kosten für die Fabrik daher vor allem die Arbeitslöhne im Vordergrund.
Im Zeitalter der großen Industrie war die Arbeitskraft das zentrale ökonomische Thema. Die Erschaffung von Werten erschien unmittelbar mit dem Produktionsprozess verbunden. Der Wert einer Ware repräsentierte nicht nur den körperlichen und geistigen Einsatz von Arbeitern und Ingenieuren, sondern letztlich die Arbeit einer ganzen Gesellschaft, auch wenn sie nicht entlohnt wurde.
Dem widersprechen die beiden französischen Soziologen auch nicht. Aber in ihrem monumentalen Buch mit seinen über 700 Seiten zeichnen sie einen Bereich der Wirtschaft nach, der seit einigen Jahrzehnten stark wächst und mit dem klassischen Verständnis von Produktion nicht mehr erfasst werden kann. Denn in diesem Bereich wird nichts produziert, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Es wird umgewertet und aufgewertet, neu entdeckt und entwickelt, was bereits da ist. Es werden Werte ermittelt und geschaffen, von denen bislang niemand wusste. Und es werden Preise aufgerufen.
Dieses Vorgehen nennen die beiden Autoren die Bereicherungsökonomie. Darunter kann alles Mögliche fallen, bislang scheinbar wertlose Dinge, für die jedoch unter bestimmten Umständen ein hoher Preis verlangt werden kann. Der schlichte Titel des Buches lautet: Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Das klingt nach einer sozialistischen Schrift aus dem 19. Jahrhundert. Aber die Waren, um die es in diesem Buch geht, haben kaum noch etwas mit der klassischen Nationalökonomie und ihrem Verständnis von Arbeit zu tun. Ihr Hintergrund ist die ökonomische Kreativität des 21. Jahrhunderts:
"Die mehr oder weniger langfristige Zukunft eines Industrieprodukts besteht ausnahmslos darin, dass es zu Abfall wird – und zwar in einem solchen Maße, dass die ungeklärte Frage des Abfalls und seiner Beseitigung in den Industriegesellschaften mittlerweile Anlass zu großer Sorge gibt. Umgekehrt können die Dinge, die im Zentrum der Bereicherungsökonomie stehen, lange wie Abfall behandelt, nicht beachtet, auf Dachböden vergessen, in Kellern abgestellt worden oder in der Erde verscharrt gewesen sein. [...] Allgemeiner gesagt, kann der Preis für die Dinge, die für die Bereicherungsökonomie am einschlägigsten sind, in einer gegenläufigen Bewegung zu der Entwicklung, die Industrieprodukte nehmen, mit der Zeit steigen."
Ausgangspunkt der soziologischen Untersuchung bildet die Beobachtung, dass sich die verschiedenen Regionen in Frankreich in den letzten Jahrzehnten sehr unterschiedlich entwickelt haben. Und natürlich gilt das nicht nur für Frankreich. Manche Regionen, die früher bedeutende Industriestandorte waren, sind heute geradezu heruntergekommen. Die Zahl der Arbeitslosen ist hoch, viele Menschen sind weggezogen, und es gibt kaum Perspektiven. Andere Regionen hingegen, die früher eher als unbedeutende ländliche Gegenden betrachtet wurden, haben sich hervorragend entwickelt.
Der nötige Glanz
Aus alten verfallenen Schlössern sind Baudenkmäler geworden, aus langweiligen Dörfern idyllische und liebevoll gestaltete Arrangements. Ganze Landschaften und Küstenstreifen, versehen und aufgewertet mit einem attraktiven Image, gelten als touristische Attraktionen. Neben Museen und kulturellen Einrichtungen lassen sich dort auch handwerkliche Betriebe finden, die besondere, mit der Region verbundene Dinge herstellen, und außergewöhnliche Restaurants, die hochwertiges regionales Essen und das Erlebnis einer kulinarischen Tradition anbieten. In diesen Regionen hat sich die Bevölkerung um zahlreiche wohlsituierte Pensionäre vermehrt.
Analog zu den ehemals erfolgreichen Industriegebieten bezeichnen Boltanski und Esquerre die Zonen der neuen Ökonomie als Bereicherungsgebiete. Während die industrielle Logik stets auf das neue Produkt ausgerichtet ist, werden Werte hier durch die Entdeckung und Aufwertung des Alten geschaffen. Alles, was bereits da ist, kann entwickelt und zu einer mit einem Preis ausgezeichneten Ware gemacht werden. Alte Gebäude werde restauriert und in ihrer historischen Einzigartigkeit herausgestellt. Orte und Gegenden werden entdeckt und mit einer Geschichte ausgestattet, die ihnen erst den nötigen Glanz verleiht. So können auch Nationen insgesamt zu einer Marke werden.
Die Wertschöpfung ist nicht mehr in erster Linie "produktiv", sondern "residentiell". Die Zugehörigkeit zu einem Raum des Wertvollen ist entscheidend. Nobel ist die Vergangenheit, wenn sie richtig erzählt wird und die Dinge mit der Zeit wertvoller erscheinen lässt. Besonders erfolgreich sind die Bereicherungsgebiete vor allem dann, wenn sie den begehrten Titel des Weltkulturerbes vorzuweisen haben. Was bislang bloß Kosten verursacht hat, kann sich tatsächlich als ein Vermögen herausstellen:
"Allgemeiner gesagt, ist die Patrimonialisierung zur einer 'territorialen Entwicklungstechnik' geworden, die über eigene Experten für 'lokale Entwicklungsstrategien' verfügen, die in der Lage sind, die 'territorialen Aktivposten' zu 'heben' und das 'Potenzial', das sie bergen, zur Geltung zu bringen. Ihr Instrument ist der 'Relaunch', der das schlummernde Erbe in ein aktives Vermögen verwandelt, indem sie die Fähigkeit der Akteure stimuliert, 'sich die Geschichte anzueignen und sie gegebenenfalls zu verändern' [...]."
Selbstverständlich wird auch in den Bereicherungsgebieten gearbeitet und investiert. Der Aufwand, aus den historischen Schätzen ein aktives Vermögen zu machen, kann mitunter sehr groß sein. Aber die entscheidende Quelle des Mehrwerts ist dennoch nicht die Arbeitskraft und ihre Ausbeutung, sondern die akkumulierte Vergangenheit. Die Produkte, um die es hier geht, gibt es bereits. Und die Menschen, deren Arbeitskraft erneut ausgebeutet wird, sind vor langer Zeit gestorben. Die Leistungen der Vergangenheit müssen lediglich so angeeignet werden, dass sie in der Gegenwart vermarktbar sind.
Die Wertschöpfung in der Bereicherungsökonomie besteht in der Umwandlung historischer Werte zu ökonomischen Werten. Zu den wichtigsten Techniken, aus dem Erbe der Vergangenheit ein ökonomisches Kapital zu machen, gehört das story telling. Erst durch starke Erzählungen wird die besondere von der banalen Vergangenheit abgegrenzt. Beteiligt sind daran nicht nur Experten für Marketing, sondern auch zahlreiche Gutachter und Sachverständige, die den vermuteten Wert eines Gegenstands ermitteln und so den kaufmännischen Mehrwert allererst ermöglichen.
Krise und Luxus
Ihren Ursprung hat die neue Ökonomie in der Krise der alten. In den 70er Jahren erreichte die Industrieproduktion im Europa der Nachkriegszeit ihren Höhepunkt. Die Kapazitäten der Produktion überstiegen regelmäßig die Nachfrage im Inland. Das führte zu sinkenden Profiten und einer ganzen Reihe von Wirtschaftskrisen. Mit der Masse der Fertigwaren ließ sich nicht mehr genügend Rendite erzielen. Dazu kam, dass sich die Arbeitgeber zunehmend durch die Lohnforderungen der abhängig Beschäftigten unter Druck gesetzt fühlten.
Ein Ausweg aus dieser strukturellen Krise des Kapitalismus bestand in Standortverlegungen. Um den Produktivitätsrückgang auszugleichen, wurden Fabriken in Ländern errichtet, in denen die Löhne niedrig und die Arbeiter kaum organisiert waren. Das war der Beginn der Deindustrialisierung. Ermöglicht wurden die neuen Lieferketten durch die Globalisierung der Finanzströme. Damit war das absehbare Ende des großen sozialen Fortschritts eingeläutet, dessen Wohlstandsversprechen die Nachkriegszeit geprägt hatte:
"Für die großen Konzerne bot [dieser Schritt] eine Möglichkeit, sich der staatlichen Steuerlast zu entziehen, es war jedoch auch eine Antwort auf die Mobilisierung des europäischen Proletariats, insbesondere in den zehn Jahren, die auf den Mai 1968 folgten. Eine der Folgen und vielleicht auch eines der uneingestandenen Ziele dieses Prozesses war es, eine Arbeiterklasse, die sich in den Jahren zwischen 1960 und 1970 vor allem in Frankreich und Italien besonders kämpferisch gezeigt hatte, in ihre Schranken zu weisen, ja sich ihrer sogar zu entledigen."
Neue Konsumkultur der 70er und 80er Jahre
Ein anderer Ausweg aus den ökonomischen Krisen der 70er und 80er Jahre bestand in der Erfindung einer neuen Konsumkultur. Maßgeblich war dabei die Entwicklung von Markenprodukten, die nicht nur aufgrund ihrer Qualität, sondern vor allem aus Prestigegründen gekauft werden sollten. Das Vorbild dazu stellte die Luxusindustrie dar, bei der die Kosten der Herstellung nur wenig mit den Preisen der Produkte zu tun haben. Während technisch aufwendige Güter im Zuge der Globalisierung immer günstiger werden, zeichnet sich die neue Warenwelt der Marken durch die Bereitschaft der Konsumenten zu höheren Ausgaben aus. Mit der weitgehenden Entkopplung der Preise von den Produktionskosten stiegen die Renditen wieder. Der Wert der Waren hängt nun vor allem vom Image der Produkte ab.
Für Boltanski und Esquerre beginnt damit eine Umorientierung des Konsums am Kaufverhalten der Reichen. Auch wenn es sich bei der neuen Markenwelt nach wie vor um Massenware handelt, geht damit dennoch das Versprechen des Besonderen einher, das die Bedürfnisse nach sozialer Abgrenzung befriedigen soll. Nur ein Produkt, das sich nicht jeder leisten kann, kann überhaupt ein Markenprodukt sein. Und jedes Markenprodukt ist in eine Hierarchie der Marken und ihrer nach oben zunehmend feinen Unterschiede eingebettet.
Nicht mehr die Standardform der industriellen Produktion stellt das Ideal des Konsums dar, sondern das exklusive Einzelstück, das den Besitzer vor allen anderen auszeichnet. Aus der Massenware wird das auf besonderen Kundenwunsch angefertigte Unikat. Und aus dem billigen Massentourismus wird der hochwertige Kulturtourismus. In diesem neuen Konsumtrend sehen die beiden Soziologen daher auch den Ursprung der Bereicherungsökonomie:
"Diese ökonomische Neuausrichtung der westeuropäischen Länder auf die Reichen ist durch einen Bruch mit der für die Nachkriegsjahrzehnte typischen Art von Wachstum gekennzeichnet. Die Bedeutung dieses Wandels lässt sich ermessen, wenn man sich erinnert, dass letzteres auf die landesweite Serienproduktion von Standardgütern zurückging, deren Absatz sich zunächst vor allem auf die Bourgeoisie richtete, dann auf die Mittelschichten und bei manchen Gütern, wie etwas Haushaltsgeräten und Fahrzeugen, auf die unteren Schichten ausgeweitet wurde, was die Vorstellung zu bestätigen schien, dass die Bereicherung der Eliten am Ende zwangsläufig auch den Mittellosen zugutekommt (der sogenannte trickle-down-Prozess)."
Neuererfindung der Armbanduhr als Luxusobjekt
Veranschaulichen lässt sich dieser Wandel am Beispiel der Armbanduhr. Lange Zeit galten Uhren als feinmechanische Meisterwerke, aufwendig in der Herstellung und aufwendig in der Wartung. Die überwiegende Zahl der Menschen, die sich überhaupt eine Armbanduhr leisten konnten, kauften sich nur eine einzige in ihrem Leben. Erst mit der Erfindung der Quarzuhr in den 70er Jahren wurde die Armbanduhr zu einem zuverlässigen und vor allem preisgünstigen Produkt. Die massenhafte Herstellung entsprach dem Ideal der Konsumkultur in der Nachkriegszeit. Jedes Produkt sollte prinzipiell für jeden Käufer zugänglich sein. Aber das Einlösen dieses Versprechens bedeutete für die Konsumgüterindustrie eine tiefe Krise. Im Fall der Armbanduhren kam hinzu, dass viele elektronische Geräte mit Uhren ausgestattet sind und eine Armbanduhr eigentlich nicht mehr nötig ist. Die Armbanduhr musste neu erfunden werden, und zwar als ein Luxusobjekt, das wieder deutlich teurer sein konnte.
Der Grund für diesen Wandel ist allerdings nicht nur ökonomischer Natur. Die wirksamste Kritik am Kapitalismus der zweiten industriellen Revolution bestand bereits früh in dem Vorwurf, dass die Standardform alles vereinheitlicht. Das bezog sich nicht nur auf die Gegenstände, sondern auch auf die Kultur und sogar das Leben selbst. Alles muss im Kapitalismus warenförmig und somit zur Standardform werden. Die Frankfurter Schule hat dafür den Begriff der Kulturindustrie geprägt. Damit waren vor allem Massenmedien und Massenkultur gemeint.
Als Sinnbild für die zweite industrielle Revolution galten die neuen Autofabriken in den Vereinigten Staaten, in denen Henry Ford erstmals das Prinzip der Fließbandarbeit konsequent auf die gesamte Produktion angewandt hatte. Je mehr Arbeitsschritte standardisiert werden konnten, desto effizienter wurde die Produktion. Und je höher dadurch die Stückzahl ausfallen konnte, desto niedriger wurde der Preis.
Erschaffung von Ereignissen, die sich auszahlen
Im Gegenzug erschien den Kritikern des Kapitalismus alles, was sich der Standardisierung widersetzte, als Widerstand gegen den Kapitalismus selbst. Für die Frankfurter Schule waren das vor allem Kunst und Kultur:
"Die Vielzahl der nicht standardisierten Dinge stellt so eine Art Außen des Kapitalismus dar, doch da die Haupteigenschaft dieser Dinge negativ bestimmt ist – sie sind das, was sie sind, nur dadurch, dass sie nicht standardisiert sind –, kann dieses Außen relativ vage und unstrukturiert bleiben. Dazu gehören in erster Linie Kunst- oder Kulturgegenstände, aber auch all die Dinge, die verbunden sind mit persönlichen Erfahrungen, insofern sie privat sind, das heißt nach dieser Logik nicht vermarktet werden können, wie zum Beispiel Reiseerlebnisse oder die Erfahrung von Luxus und, allgemeiner gesagt, geistige Erlebnisse [...]."
In der Bereicherungsökonomie dagegen gehören Kunst und Kultur zu den entscheidenden Standortfaktoren. Das Besondere und das Einzigartige, das vormals als widerständig erscheinen konnte, weil es sich der Unterordnung unter die Standardform entzog, wird jetzt zum wichtigsten Motor des neuen Kapitalismus. Die anfänglichen Impulse zur Wertschöpfung gehen dabei häufig von der Kulturpolitik aus. Öffentliche Museen und private Sammlungen geben die Vorbilder ab für die neue Akkumulation des Außergewöhnlichen. Kuratoren betreuen nicht mehr bloß eine Ausstellung von Kunstgegenständen, sondern erschaffen bedeutende Ereignisse, die sich auszahlen. In Gang gehalten wird die neue Wertschöpfung von einem engen Netzwerk aus öffentlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Akteuren.
Identität und Differenz
Begonnen hat die neue Wertschöpfung mit der Umwidmung von leerstehenden Industrieanlagen zu Räumen der Gegenkultur. Wo früher laute Maschinen standen, richteten sich alternative Szenen ein. Es wurde getanzt, Filme wurden gezeigt und Theaterstücke aufgeführt. Diese Aneignung der alten Produktionsstätten wurde schnell professionalisiert. Aus dreckigen Fertigungshallen wurden Künstlerateliers, die sich bald auch als exquisite Immobilien zu hohen Preisen vermarkten ließen. Am Anfang einer Aufwertung ganzer Areale steht häufig die künstlerische Entdeckung des Besonderen. Ehemals verkommene Hafengegenden erscheinen auf einmal im Glanz des Extravaganten. Nicht selten sind temporäre Galerien die Vorboten der neuen Synthese aus Kunst und Kommerz, mit der die Wertschöpfung beginnt.
Etabliert hat sich die kulturelle Kapitalisierung der postindustriellen Ökonomie parallel zur Karriere des Differenzdenkens. Hervorgegangen aus der 68er-Bewegung in Frankreich, richtet sich dieses Denken gegen alle politischen Versuche der Vereinheitlichung und betont die Abweichung und das Anderssein als Akte des Widerstands. Nicht die Einheit, sondern die Vielheit soll als basale Gegebenheit verstanden und anerkannt werden. Heute finden sich unter Stichworten wie diversity viele zentrale Elemente dieses Denkens in den Managementprogrammen großer Konzerne. Das Dissidente, von dem einst das Versprechen einer besseren Welt ausging, ist längst zum Verkaufsmotor des neuen Kapitalismus geworden. Nicht bloß die Protagonisten der Ereignisse vom Mai 1968 sind in den Institutionen angekommen und haben Karriere gemacht.
Techniken der Subversion auch schon Standard
Auch die Techniken der Subversion und die Lebensformen des Nonkonformismus gehören inzwischen zum Standardrepertoire. Jeder besitzt sein ureigenes kreatives Kapital, das zur Entfaltung gebracht werden soll. Selbstverwirklichung ist längst kein privates Programm mehr:
"Auf diese Weise ist jeder auf das Ziel hin orientiert, für andere Menschen interessant zu sein, ihre Neugier zu erregen, und dieser Prozess liegt der Bildung von Gemeinschaften zugrunde, in deren Mittelpunkt die Begegnung von verschiedenen Wesen steht, die mit anderen die Differenzen teilen möchten, die ihre Singularität ausmachen. Dieser Sichtweise zufolge [...] sind kulturelle Organe, das heißt in erster Linie die Organe, welche die Mittel bereitstellen, die die Kultur benötigt, dafür zuständig, Kontakte herzustellen, Begegnungen anzustoßen, um den Austausch von Identitäten und Differenzen zu fördern."
Mit der Diagnose eines neuen Pakts zwischen Kultur und Kapital schließt Boltanski an sein vielgelesenes Buch mit dem Titel "Der neue Geist des Kapitalismus" an, das er 1999 zusammen mit Ève Chiapello publiziert hat. In diesem Buch ging es vor allem um die neuen Rechtfertigungen des Kapitalismus in der zeitgenössischen Managementliteratur, die einen höheren Einsatz der Mitarbeiter für das Unternehmen einforderte. Auch hier war bereits Kreativität gefragt. Der Titel antwortete dem berühmten Klassiker "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" von Max Weber, der die Bereitschaft zur Leistung mit dem Protestantismus erklärte.
In der Bereicherungsökonomie steht nicht mehr der Arbeiter als Held und Ausgebeuteter im Zentrum, sondern der Kreative, der kaum gewerkschaftlich organisiert ist, sich selbst oft als Held begreift und häufig ausgebeutet wird. Die passende soziologische Analyse dazu von Boltanski und Esquerre kann schon jetzt als Klassiker gelten. Wünschenswert wäre ein Ausblick auf alternative Möglichkeiten gewesen, der Krise des Kapitalismus in den 80er Jahren zu begegnen. Aber das wird die weitere Diskussion erbringen müssen und schmälert in keiner Weise die Leistung dieses Buches.
Luc Boltanski, Arnaud Esquerre: "Bereicherung. Eine Kritik der Ware"
aus dem Französischen von Christine Pries
Suhrkamp Verlag, Berlin. 710 Seiten, 48 Euro.
aus dem Französischen von Christine Pries
Suhrkamp Verlag, Berlin. 710 Seiten, 48 Euro.