Der kleine, grüne Dschungel liegt mitten in der Stadt. Allerdings ist die Natur hier keineswegs unberührt, im Gegenteil: Ein rostfarbenes Stahlgerippe ragt aus den Büschen heraus. Auf dem Boden schimmern vereinzelt kleine, silbrige Flecken. Es sind Rückstände von Quecksilber. An den Streben hängen immer noch Fetzen von Glaswolle. Wer das einatmet, riskiert seine Gesundheit. Bhopal im Herbst 2014. Auf diesem still gelegten Gelände, befand sich einst die Chemiefabrik des US-Konzerns Union Carbide. Der damalige Chemiegigant ließ hier ein Insekten-Bekämpfungsmittel herstellen. Bis zum 3. Dezember 1984.
"Wir sahen so viele Menschen sterben"
"Ich bin TR Chouhan. Ich habe hier in der Fabrik in Bhopal neun Jahre lang als Techniker gearbeitet. In der Nacht des Unglücks war ich zu Hause bei meiner Familie. Es war Mitternacht. Mein kleiner Sohn wachte auf, er weinte, seine Augen brannten. Wir dachten, vielleicht will er Milch oder so etwas. Dann juckten auch unsere Augen. Wir husteten. Es roch, als ob jemand Chilischoten verbrennen würde. Ich habe meine Nachbarn im Haus gefragt: Wer macht denn so was? Aber sie meinten nur: Auch wir wissen nicht, was los ist. Also sind wir auf die Straße gegangen. Auf der Straße habe ich gesehen, dass die Leute vor etwas wegliefen. Sie sprachen von einer Explosion in der Stadt. Also nahm ich meine Familie, schloss die Wohnung ab, und wir rannten auch weg. Wir schafften es zum Haus eines Freundes, der uns aufnahm. Am anderen Morgen gab die Polizei per Lautsprecher bekannt, dass sich in der Chemiefabrik ein Unfall ereignet habe und dass die Lage jetzt unter Kontrolle sei. Die Leute könnten zurück in ihre Häuser gehen. Ich nahm einen Bus und fuhr direkt zur Fabrik. Am Fabriktor sahen wir, dass viele Menschen zur Fabrik gekommen waren, weil es hier eine Ambulanz gab. Wir sahen so viele Menschen sterben. Tausende. Sie atmeten zum letzten Mal, direkt vor meinen Augen. Ich fragte meine Kollegen, was denn vor dem Unfall passiert sei. Sie sagten, sie hätten einige Leitungen ausgespült. Und das Wasser sei möglicherweise in einen Tank voller Chemikalien gelangt."
Es war der Tank mit der Nummer 610. Er steht noch immer auf dem ehemaligen Werksgelände. Ein runder Behälter, der unscheinbar etwas abseits der Hauptanlage im wuchernden Gras vor sich hin rostet. In diesem Tank befand sich Methylisocyanat, kurz: MIC. Der Stoff war ein Zwischenprodukt bei der Herstellung des Insektenbekämpfungsmittels. Nur wenige Tropfen davon reichen aus, um zu töten. In dem Tank befanden sich 42 Tonnen MIC. Wenn es sich mit Wasser mischt, reagiert es sofort. So auch 1984. Der Druck im Tank stieg, durch ein Ventil strömte das Gas aus. Es dauerte nur zwei Stunden, bis sich die 42 Tonnen MIC verflüchtigt hatten. Weite Teile Bhopals wurden zur Gaskammer.
"Mein Name ist Doktor DK Satpahty. Ich war der Direktor des medizinischen Instituts von Madhya Pradesh. Während des Unglücks war ich an allen Autopsien der Leichen beteiligt."
Mediziner auf der richtigen Spur
Dr. Satpathy ist Pathologe, inzwischen im Ruhestand. Er behält sich vor, im Interview zwischen Englisch und Hindi zu wechseln. Für den Fall, dass ihn die Emotionen überwältigen sollten.
"Am 3. Dezember kam mein Chef bei mir zu Hause vorbei und bat mich, ins medizinische Institut zu kommen. Sein Satz lautete: Das Unglück ist viel schlimmer, als Du Dir vorstellen kannst. Ich bin sofort dorthin. Das ganze Gelände war voller Menschen. Einige weinten, einige röchelten, einige übergaben sich. Es herrschte Panik. Ein Kollege fragte den Mediziner von Union Carbide: Sir, würden Sie uns bitte darüber aufklären, was genau geschehen ist' Wir wussten ja nicht, was für eine Wolke das war. Wir hörten nur die Menschen, die von einer Gaswolke sprachen. Der Union Carbide-Mediziner meinte, wir sollten uns keine Sorgen machen. Es sei eine Substanz entwichen, die so wirke wie Tränengas. Aber dann starben die Menschen auf einmal, erst 20 bis 25, dann immer mehr. Und mein Kollege fragte den Union-Carbide-Mediziner noch einmal: Sie haben gesagt, das sei Tränengas. Aber hier sind hunderte Tote! Und der Union-Carbide-Mediziner flehte um Verständnis. Er rief: Ich bin auch Bürger dieser Stadt. Und meine Kollegen sind betroffen. Würde ich etwas über das Gas wissen, hätte ich es Ihnen gesagt. Aber glauben Sie mir: Ich weiß weder etwas über das Gas noch über ein Gegenmittel."
Dr. Satpathy und seine Kollegen versuchten fieberhaft, die vielen sterbenden Gasopfer in ihrer Klinik noch zu retten. Was er in dem Chaos nicht ahnte: Union Carbide schien an Aufklärung kein Interesse zu haben. Nur wer genau wusste, wie die Gaswolke zusammen gesetzt war, konnte einen genauen Zusammenhang zwischen dem Gas und den Todesopfern herstellen, und medizinisch genau belegen, wie viele Menschen langfristig leiden und ob auch diejenigen gefährdet sein würden, die damals noch gar nicht geboren waren. Es ging also um Beweise - und darum, wie hoch die Entschädigungen ausfallen würden. Und mit Dr. Satpathy hatte Union Carbide ein Problem: Der Mediziner war auf der richtigen Spur.
"Wir haben bei unseren Autopsien festgestellt, dass das Blut der Leichen noch leuchtend rot war und nicht dunkel verfärbt. So etwas kommt bei Zyanid-Vergiftungen vor. Das heißt, da muss auch Zyanid in der Luft gewesen sein."
Zyanid ist extrem giftig. Mit Zyanid, das im Gas Zyklon B enthalten war, töteten die Nazis in ihren Vernichtungslagern Millionen Menschen. Aber Zyanid in einer Fabrik mitten in einer Großstadt? Satpathy suchte weiter.
Union Carbide bestritt, dass Zyanid entwichen war
"Nach zwei Tagen kam ein deutscher Toxikologe. Auch er fand heraus, dass die Menschen, die er untersuchte, durch Zyanid getötet wurden. Aber konnten wir ihm glauben? Wir brauchten Beweise. Wir wussten auch wie: Wir alle nehmen jeden Tag Spuren von Zyanid in uns auf. Der Körper kann das Gift mit dem Urin ausscheiden. Wir haben also den Urin der Toten mit dem Urin derjenigen verglichen, die gesund waren. Und siehe da: Die Werte der Toten waren deutlich höher. Was also tun? Das Gegengift für Zyanid ist Natriumthiosulfat. Wir haben den Patienten diese Substanz also gegeben und danach das Urin der Betroffenen wieder untersucht. Und wir konnten feststellen, dass das Gegenmittel das Gift absorbiert hat. Mit anderen Worten: Wir hatten also ein wirksames Medikament."
Wie sich später herausstellte, hatte sogar der Chefmediziner von Union Carbide in den USA unmittelbar nach der Katastrophe empfohlen, Natriumthiosulfat als Gegenmittel zu verwenden. Aber er zog seine Empfehlung rasch zurück. Warum, wurde nie bekannt. Union Carbide bestritt, dass Zyanid entwichen war. In Bhopal machten Gerüchte die Runde, Natriumthiosulfat sei extrem schädlich. Die Gerüchte reichten der indischen Regierung, um Dr. Satpathys Gegengift wieder aus dem Verkehr zu ziehen. - Mehr als 25 Jahre nach der Katastrophe haben Wissenschaftler aus Indien dem Obersten Gericht in Neu-Delhi die bisher wohl umfangreichste Studie vorgelegt. Ihr Ergebnis: Der deutsche Mediziner sowie Dr. Satpathy hatten Recht. Das MIC-Gas in Tank 610 hatte so heftig auf das eindringende Wasser reagiert, dass tatsächlich Zyanid entstanden war. Die indischen Wissenschaftler regten an, Union Carbide wegen unterlassener Hilfeleistung zu verklagen. Doch dazu ist es bisher nicht gekommen.
Wer auf dem ehemaligen Werksgelände in den Kontrollraum will, muss sich durch Büsche schlagen. Die Kontrollanlage ist ausgeweidet, nur das giftgrüne Gehäuse gibt noch eine Ahnung davon, wie es hier 1984 ausgesehen haben muss. Ein Aufkleber prangt immer noch unter einer Reihe von Leuchtanzeigen. "Safety is everyone's business" steht darauf. "Sicherheit geht jeden etwas an." T.R. Chouhan wartet vor dem Kontrollstand.
"1984 kamen internationale Journalisten und zeigten mir Dokumente. Das hat mich umgehauen. Es waren Dokumente, die unser Werk betrafen und das Mutterwerk in West Virginia in den USA. Ich habe sie verglichen. Ich war überrascht. Man hat uns immer gesagt: Wir wenden hier genau die Technologie an, mit der wir in den USA seit 20 Jahren arbeiten. Die höchsten Standards, weil der Stoff MIC gefährlich ist. Aber die Dokumente haben gezeigt, dass es Doppelstandards gab. Das Design der Fabrik hier war ein völlig anderes. Die Technologie hier war viel älter. Die Baumaterialien waren bei uns billig, dort nicht. Die Evakuierungspläne waren anders."
Tank mit MIC eine Zeitbombe
Tatsächlich stellte sich heraus, dass der Tank, der die gefährliche Substanz MIC enthielt, eine Zeitbombe war. Die Sicherungssysteme waren entweder demontiert oder nie einsatzbereit. Der MIC-Tank war außerdem überfüllt. Offenbar hatte es für die Mitarbeiter von Union Carbide auch keine vernünftige Sicherheitsausbildung gegeben. Als die Gaswolke aus dem Überdruckventil trat, wurde nicht einmal die Alarmsirene angeschaltet, um die Bevölkerung zu warnen.
"Die Ursache für die Katastrophe war totale Vernachlässigung. Überall nur Vernachlässigung. Und wir haben in einem so gefährlichen Werk gearbeitet."
Erst 2010 zog ein Gericht in Neu-Delhi sieben indische Manager der früheren Union Carbide India zur Verantwortung. Sie erhielten zwei Jahre Haft, wurden aber gegen Kaution frei gelassen. Ein Manager der damaligen Muttergesellschaft aus den USA wurde dagegen nie zur Rechenschaft gezogen. Zwar stand der damalige Vorstandschef des Chemiegiganten, Warren Anderson, auf der Liste der Angeklagten, aber das Urteil erwähnt ihn mit keiner Silbe. Anderson gilt seit 1984 als flüchtig und war nie wieder in Indien. Er starb Ende September dieses Jahres. Warren Anderson wurde 92 Jahre alt.
Direkt hinter dem ehemaligen Werksgelände von Union Carbide befindet sich der Attal Aub Nagar, ein Slum mit bunten, einfachen Hütten, direkt an der Eisenbahnlinie. Ein Güterzug rattert vorbei. Abdul Rehman steht an der alten Holztür seiner Behausung und schaut den Wagen hinterher. Gestützt auf einen Stock. Abdul ist vielleicht 70 Jahre alt.
"In der Nacht, in der das Gas entwichen ist, haben wir geschlafen. Dann roch es, als ob jemand im Haus Chillischoten verbrennen würde. Dann öffnete ich die Tür. Draußen rannte eine Frau vorbei. Sie schrie: Rettet mich, rettet mich, meine Tochter ist tot. Ich bin zusammengesackt. Dann sah ich, dass meine Tochter, sie war acht Jahre alt, bewusstlos war. Ich habe es geschafft, sie zu nehmen und loszurennen. Die Gegend war völlig verlassen. Die Türen der Hütten standen alle offen."
Abdul und seine Tochter haben überlebt. Auch seine Frau. Shashahan tritt vor die Tür. Auf den ersten Blick ist die riesige Beule an ihrem Hals nicht zu erkennen. Erst als sie das Tuch zur Seite legt - fast so groß wie ein Luftballon.
"Sie hat Hustenattacken. Immer wieder. Es hört nicht mehr auf. Die Ärzte sagen, dass sie sich operieren lassen muss. Aber wir haben kein Geld dafür. Ich kann ja auch nur hier herumsitzen. Ich kann nicht mehr arbeiten. Mir geht sofort die Luft aus. Ich muss Husten und habe Magenschmerzen."
500 Euro Entschädigung
Abdul hat früher Handkarren gezogen. Das ist alles, was er gelernt hat. Er und Shashahan zählen zu den 500.000 anerkannten Gasopfern von Bhopal. Sie haben jeweils umgerechnet etwa 500 Euro Entschädigung erhalten - für lebenslanges Leiden. Das Geld ist längst verbraucht.
Ein paar Kilometer von Abduls und Shashahans Hütte entfernt versammeln sich die Einwohner des Slums. Sie wollen nach Neu-Delhi ziehen und auf ihr Leid aufmerksam machen. Von einem Hungerstreik ist die Rede. Auch Kamla-Bhai ist dabei. Eine Frau um die 70.
"Wir haben damals schon geschlafen. Als das Gas ausströmte, dachten wir, unsere Augen würden so brennen, weil da Chilidämpfe in der Luft sind. Unsere Augen, der Hals, die Nase, alles brannte. Dann sahen wir Leute um ihr Leben rennen. Wir sprangen in einen Zug und hofften, er würde uns wegbringen. Aber er fuhr nicht. Als wir früh morgens wieder ausstiegen, konnte ich kaum noch sehen. Schaum tropfte mir vom Mund. Mein Ehemann und mein kleiner Junge lagen unter den Leichen. Man hielt sie auch für tot."
Aber ihre Familie überlebte. Mittlerweile ist Kamla-Bhais Mann gestorben. Weil ja nie offiziell geklärt wurde, welche Gase in der Wolke, welche Schäden anrichten konnten, wurde auch Kamla-Bhai mit einer dürftigen Entschädigung abgespeist. Was sie lange nicht ahnte: Sie nahm auch nach der Katastrophe jeden Tag weiter Gift auf - über viele Jahre hinweg. Ihr Slum ist das Epizentrum einer zweiten Katastrophe. Das Wasser, das die Bewohner per Hand jeden Tag aus dem Brunnen geholt haben, ist bis heute verseucht. Der ganze Slum trank von dem Wasser: 30.000 Menschen.
Union Carbide hatte schon vor der Gaskatastrophe den Giftmüll und die Rückstände seiner Chemikalien nicht ordentlich entsorgt, sondern auf Halden und in kleine Seen geschüttet bzw. geleitet. Dort sollte das Gift einfach verdunsten. Ein großer Teil jedoch sickerte ins Erdreich und dann ins Grundwasser.
Was für Substanzen haben Kamla-Bhai und die anderen Menschen in ihrem Slum aus der Erde gepumpt? Immer noch kommen Wissenschaftler nach Bhopal, um das heraus zu finden. Ihre Ergebnisse sind in der Regel eindeutig: Die Grenzwerte für viele Giftstoffe werden ums zig fache übertroffen. In einigen Proben, die Umweltaktivisten zogen, waren angeblich Quecksilberrückstände, die sechs Millionen Mal über dem Grenzwert der Weltgesundheitsorganisation lagen. Eine Umweltorganisation aus Neu-Delhi wies 2009 nach, dass das Grundwasser im Umkreis von drei Kilometern rund um das Fabrikgelände verseucht ist. Aber auch das stellen Union Carbide und die heutige Konzern-Mutter Dow Chemical in Frage. Der Multi aus den USA verweist auf Studien, die weniger eindeutig ausgefallen sind.
1989 hat Union Carbide 470 Millionen Dollar nach Indien überwiesen, um einer Anklage und sechsmal so hohen Forderungen zu entgehen. Die indische Zentral-Regierung versucht aber neuerdings, mit juristischen Tricks noch einmal 1,2 Milliarden Dollar vom US-Konzern zu erstreiten. Union Carbide lehnt jede weitere Zahlung ab. Die indische Tochterfirma von Union Carbide sei ein rechtlich eigenständiges Unternehmen gewesen, so die Argumentation. Die amerikanische Mutterfirma habe das Gelände weder besessen noch die Fabrik gemanagt. Damit bekam Union Carbide bisher vor amerikanischen Gerichten Recht. Auch für die Entsorgung des Giftmülls wollen Union Carbide und die jetzige Mutterfirma Dow Chemical nicht zahlen. Das überlassen sie lieber dem Bundesstaat Madhya Pradesh, dem das Gelände gehört.
2004 hat das Oberste Gericht Indiens verfügt, dass die Menschen in den Slums rund um das Fabrikgelände mit sauberem Wasser versorgt werden müssen. Das Wasser muss per Pipeline aus sicheren Reservoirs in die Häuser und Hütten gepumpt werden. Die Slumbewohnerin Kamla-Bhai und ihr Bruder haben erst seit zwei Monaten sauberes Wasser, es fließt alle zwei Tage für eine halbe Stunde.
Für Kamla-Bhai ist es der erste kleine Erfolg, 30 Jahre, nachdem das Gift aus Tank 610 entwichen ist und eine ganze Stadt für immer traumatisiert hat.