"Einen schönen Nachmittag. Ich melde mich hier live von meinem Schreibtisch in der Downing Street für die erste ‚Fragestunde der Bevölkerung‘."
Premierminister Boris Johnson wendet sich direkt an das Volk. Links im Hintergrund steht die britische Nationalflagge, vor sich hat Johnson sein Notebook aufgeklappt. Von ihm wird er gleich Fragen vorlesen, die ihm eingereicht wurden.
"Ich beantworte Fragen unpasteurisiert und unmittelbar, die Sie mit dieser Maschine an mich gerichtet haben." Boris Johnson gibt sich authentisch und volksnah, und mit den Worten "unpasteurisiert" und "unmittelbar" spielt er offenbar auf die Journalisten an.
"Kritisch für unsere Demokratie"
Hier trete ich direkt vor das Volk, heißt das, ohne dass sich Journalisten dazwischen schalten. Die Nachrichten-Chefin des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders Channel 4, Dorothy Byrne, will das nicht hinnehmen.
"Früher akzeptierten Politiker, dass sie im Fernsehen Rechenschaft ablegen mussten. Aber in den letzten Jahren gibt es dramatischerweise immer weniger Politiker, die sich einer öffentlichen Überprüfung stellen. Gerade in den letzten Wochen und Monaten ist dieser Niedergang kritisch für unsere Demokratie geworden."
Die öffentlich-rechtliche Fernsehfrau Byrne meint damit vor allem den Auswahlprozess, mit dem die konservative Partei den Nachfolger für Theresa May suchte. Die Kandidaten mussten sich 16 parteiinternen Befragungen der Mitglieder stellen, bei denen die Presse keine Fragen stellen durfte.
Boykott von TV-Runden
Boris Johnson gab gerade einmal zwei Interviews binnen sechs Wochen und boykottierte eine von Channel 4 veranstaltete TV-Runde. An einer zweiten bei der BBC nahm er teil. Das Schlimme sei, so Dorothy Byrne, dass sich Labour-Chef Jeremy Corbyn genauso verhalte.
"Der Anführer der Opposition gibt selten ein richtiges Interview. Es gilt da nicht die Devise ‚Oh, Jeremy Corbyn‘, sondern ‚Nein, Jeremy Corbyn‘".
Mit "Oh, Jeremy Corbyn" pflegen seine Anhänger den Labour-Chef zu feiern. Corbyn liefert sich seit Jahr und Tag eine Fehde mit der BBC-Radiosendung "Today", in der er praktisch nie auftaucht. Der Grund für die Interview-Enthaltsamkeit der beiden Spitzenpolitiker liegt auf der Hand. Sie haben keine Lust, "gegrillt" zu werden, wie das Stellen kritischer Fragen auf der Insel genannt wird.
Peinliche Situationen im Interview
Corbyn wurde einmal im Radiosender "BBC Radio 5 live" regelrecht vorgeführt. Was würde es kosten, wenn kostenlose Kinderbetreuung für alle eingeführt wird, lautete die Frage. Corbyn geriet ins Stottern und konnte die Frage nicht beantworten. Auch Boris Johnson erging es einmal nicht besser, als er noch nicht Premierminister war.
Interviews können riskant sein für Politikerinnen und Politiker. Es kommt aber noch etwas Entscheidendes hinzu: im Zeitalter der sozialen Medien fragen sich Politiker immer mehr, warum sollen wir uns Interviews antun, wenn es doch auch anders, leichter und schneller geht?
Dorothy Byrne: "Auf unsere Interview-Anfrage an Theresa May hin fragte uns Robin Gibb, ihr Sprecher: ‚Was bringt uns das?‘"
Mit einem Tweet in die Schlagzeilen
Politikerinnen und Politiker ersparen sich im Umgang mit den sozialen Medien kritische Fragen und auch Zeit. Mit einem Tweet ist man genauso in den Schlagzeilen wie mit einem aufwändigen Interview. Auch Pressekonferenzen sind in Großbritannien aus der Mode gekommen. Die TV-Journalisten wollen hinterher doch nur noch alle Einzelinterviews.
Vielleicht kündet das alles auch vom Niedergang der Nachrichten-Formate. Dominic Cummings, Boris Johnsons berühmt-berüchtigter Berater und ehemaliger Mastermind der "Vote Leave"-Kampagne, bekundete kürzlich, er höre morgens nie die "Today"-Sendung. Das sei Zeitverschwendung. Lieber stellt er seinem Premierminister eine Webkamera auf den Schreibtisch.
"Das war es für heute mit unserer Ausgabe der Fragestunde für die Bevölkerung. Danke dass Sie eingeschaltet haben."