An den Wänden, auf riesenformatigen C-Prints von 1992, präsentiert sich ein nackter Mann - Boris Mikhailov selbst - im Studio in den verrücktesten, verrenktesten Posen. In einer ganzen Serie parodiert er Kunstgeschichte – griechische Skulpturen vor allem oder Rodins "Denker". Aber immer trägt der nackte Protagonist einen Dildo mit sich. Mal sitzt er auf der Penis-Attrappe, mal drückt er sie sich aufs Auge. Titel: "Ich bin nicht ich".
Das ist die lustige, die selbstironische Seite des Boris Mikhailov: Er nimmt die Männlichkeit auf die Schippe, auch die eigene. Im großen Saal stehen aber auch noch zwei sehr lange Vitrinentische, in denen abseitige kleine Schwarzweiß-Aufnahmen liegen. Sie stammen vom Anfang der 1980iger Jahre und zeigen die ganze Aussichtslosigkeit des Lebens in der Sowjetunion, graue Landstraßen, graue Natur, rußige Fabriken, traurige Spielplätze, leere Fußgänger-Überwege, deprimierende Sportplätze im Schneematsch.
Gegenentwürfe zur Propaganda
Diese Alltags-Bilder waren gedacht als Gegenentwurf zur offiziellen Propaganda, die das Desaster natürlich schönfärbte. Und Mikhailov belichtete immer vier zusammenhängende Aufnahmen auf einem Papier.
"Und so spricht das natürlich auch davon, dass es nicht die eine Wahrheit gibt, sondern die vielen Wahrheiten, die man auf verschiedenen Bildern einfangen kann und die mit der Realität zu tun haben. Und die 80iger Jahre, gerade der Anfang der 80iger Jahre waren ja eine sehr spezielle Zeit in der Sowjetunion, die geprägt war von Stagnation", sagt Kuratorin Luisa Heese. Und Mikhailovs Denken in Serien deutet ja darauf hin, dass er schon früh ein Konzept verfolgte, eine Strategie. So hatte er auch Kontakt zur Moskauer Künstlergruppe um Ilya Kabakow.
"Gerade die Moskauer Konzeptualisten waren interessant für seine Werke, weil er von ihnen noch einmal gelernt hat, wie man das fotografische Medium in einem größeren Zusammenhang nutzen kann. Indem man es kombiniert mit Text zum Beispiel. Und so eine andere Art Objekt schafft."
Ab Ende der 1960iger Jahre hatte Mikhailov schon mit Musik gearbeitet und die bunte Dia-Serie "Yesterday’s Sandwich" mit Pink Floyd unterlegt. Da wurden jeweils zwei Dias übereinanderprojiziert. Körper, Pflanzen, Landschaften schlungen sich psychedelisch ineinander, zu Sowjetzeiten ungeheuerlich und nur privat zeigbar.
Nackt in der Kälte
Dass es nach Zusammenbruch des Sowjetreichs in der nun unabhängigen Ukraine nicht besser wurde, belegt Mikhailovs berühmteste und verstörendste Serie über die Obdachlosen seiner Heimatstadt Charkow aus den 1990iger Jahren. Armselige, bedauernswerte Körper, in die sich Geschichte eingeschrieben, oft auch eintätowiert hat. Sie machen sich nackt in der Kälte, sie zeigen ihre Geschlechtsteile wie Wunden vor, ihre fehlenden Zähne, ihre Schwären, manche tragen auch alte Uniformen mit Orden. Nicht die Nacktheit ist unser Problem beim Betrachten dieser Bilder, sondern unser Wohlstand, von dem aus wir auf diese Personen quasi herabschauen. Und doch besteht zwischen Fotograf und den Dargestellten ein geheimes Einverständnis, das oft allerdings mit Geld erkauft war.
Fotografien als Mahnmale
Schon 1986 hatte Mikhailov hässliche Körper an einem umweltverseuchten Badesee fotografiert, ein monströses, schicksalsergebenes Freizeitvergnügen der Unterprivilegierten im Sozialismus. Und die in düsteres Blau getauchten leeren Straßenzüge Charkows, große Querformate, sind ein Mahnmal für die Nach-Wendezeit. Boris Mikhailow ist einer der größten lebenden Fotografen. Er ist jetzt 81. Mit der zu Diptychen gruppierten Serie über ein halbfertiges, aufgegebenes Krematorium im Nazi-Stil singt er sich schon mal ein Todeslied. Wer seine Bilder in einer präzis arrangierten Schau sehen will, sollte nach Baden-Baden fahren.