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Boris Palmer zur Flüchtlingspolitik
"Es gibt ein Diskursverbot"

Viele Menschen fühlten sich in die rechte Ecke gestellt, wenn sie ihre Sorgen und Ängste äußerten, sagte der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer von den Grünen im DLF. Der Diskurs über den Umgang mit Flüchtlingen müsse aber unbedingt in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt werden. Sonst könne es zu einem Aufschwung der Rechten kommen.

Boris Palmer im Gespräch mit Dirk Müller |
    Der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer (Bündnis 90 / Die Grünen)
    Der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer (Bündnis 90 / Die Grünen) (imago / Metodi Popow)
    Die Kanzlerin trage große Verantwortung dafür, die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen, sagte der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer im DLF. Sie habe die Grenze geöffnet und die südlichen EU-Länder mit der Sparpolitik gegen sich aufgebracht. In Griechenland könne die Grenze nicht mehr ausreichend gesichert werden, weil so viele Beamte entlassen worden seien. All diese Faktoren hätten dazu geführt, dass nun deutlich mehr Flüchtlinge kämen. Zudem sei es ein Fehler gewesen, die Menschen in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten ihrem Schicksal zu überlassen.
    Der Grünen-Politiker betonte, er wolle die deutsche Grenze nicht dichtmachen. Vielmehr brauche es eine Doppelstrategie: Man müsse den Menschen in den Lagern eine Perspektive bieten und per Kontingent dafür sorgen, dass auch Frauen und Kinder aus Syrien nach Europa kommen könnten. Derzeit schafften das nur die jungen Männer. "Natürlich müssen wir Flüchtlingen helfen, aber das muss geordnet passieren."
    Zehn Millionen Menschen integrieren - das funktioniert nicht
    Wenn man Notunterkünfte in Zelten und Hallen für ausreichend halte, könne Deutschland auch zehn Millionen Menschen aufnehmen, so Palmer. Aber zehn Millionen Menschen zu integrieren - etwa in den Arbeitsmarkt - das funktioniere nicht. Derzeit beobachte er eine große Kluft zwischen den Menschen in Deutschland, die an Bahnhöfen Willkommensschilder hochhielten und denjenigen, die die Flüchtlingspolitik nicht mehr unterstützen könnten. "Der Diskurs muss in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt werden", forderte Palmer. Derzeit gebe es aber eher ein Diskursverbot. Er treffe zur Zeit viele Menschen, die den Eindruck hätten, in die Rechte Ecke gestellt zu werden, wenn sie ihre Sorgen und Ängste äußerten.
    "Nicht nach politischen Farben sortieren"
    "Man darf nicht sagen: Wir schaffen das nicht", meinte Palmer. Es gebe Gründe, warum ein so einfacher Satz von einem Oberbürgermeister in der Provinz so große Wellen schlage. Seine Partei habe sich immer für Flüchtlingsrechte eingesetzt und er sei stolz darauf. Als Bürgermeister fühle er sich aber verpflichtet zu sagen, dass sich sehr viel ändern müsse, um die Situation zu bewältigen. Wenn so etwas nicht möglich sei, könne es wie etwa in Österreich zu einem Aufschwung der Rechten kommen, warnte Palmer. Die Menschen wählten dann vielleicht die Alternative für Deutschland, weil sie das Gefühl hätten, die anderen Parteien hörten ihnen nicht mehr zu.
    Gerade sei nicht die Zeit, um nach politischen Farben zu sortieren. "Wenn Horst Seehofer etwas sagt, das stimmt, hilft es nicht, sich darüber zu ärgern, bloß weil er in der CSU ist."

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Wenn viel aufgelaufen ist, dann müssen wir eben auch viel abbauen, bemerkte jüngst ein sozialdemokratischer Europaabgeordneter, und es ist viel aufgelaufen. Hunderttausende an den Grenzen Europas, an den Grenzen der EU, auf der Balkan-Route, aber auch in Deutschland, in Österreich, in Schweden. Die Frage ist nur: Wo ist die Politik? Wo ist das europäische Konzept, das die Flüchtlingskrise in den Griff bekommen kann?
    Der Druck auf die Grenzen wird immer größer, der Druck auf die Politik damit auch. "Wir schaffen das Ganze nicht, wenn es so weiterläuft wie bisher", hat der Grünen-Politiker Boris Palmer vor gut einer Woche gesagt, Oberbürgermeister von Tübingen. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!
    Boris Palmer: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Palmer, wir schaffen das nicht. Gilt das immer noch?
    Palmer: Ich weiß nicht, ob wir es schaffen werden. Ich weiß aber sicher, dass wir vieles ändern müssen, um es zu schaffen. Weil wenn man als Oberbürgermeister in der Kommune feststellt, man ist an den Grenzen, die Helfer sind an den Grenzen, die Kapazitäten sind an den Grenzen, man kann das, was man braucht, nicht mehr kaufen - es gibt zum Beispiel keine Feldbetten mehr -, und die Kanzlerin darauf nicht reagiert, dann glaube ich, dass man schon die Pflicht hat, einmal zu sagen, wir müssen jetzt wirklich darüber reden, was wir noch schaffen können.
    Müller: Ich habe das eben auch Hans-Peter Friedrich von der CSU gefragt, möchte sie das auch fragen. Hat die Politik, hat die Politik der Kanzlerin die Stabilität des gesamten Landes gefährdet?
    Palmer: Mein Eindruck ist, dass die Kanzlerin eine große Verantwortung trägt. Sie hat über ihre Finanzpolitik die Südeuropäer gegen uns aufgebracht. Unter anderem haben die Forderungen gegen Griechenland dazu geführt, dass die dortige, durchaus mit einem Zaun gesicherte Grenze nicht mehr mit Beamten gesichert ist, weil die alle entlassen wurden. Sie hat dann gesagt, sie habe überhaupt keine Macht, darüber zu bestimmen, wie viele Menschen zu uns kommen. Sie hat Selfies mit Flüchtlingen machen lassen, sie hat die Grenze aufgemacht. Das sind schon sehr viele Faktoren, die dazu führen, dass jetzt sehr viel mehr Menschen auf dem Weg nach Deutschland sind als ohne ihre Politik, und deswegen muss sie auch dazu beitragen, das jetzt wieder in den Griff zu bekommen.
    Müller: Wäre Ihnen da eine Festung in Südeuropa lieber?
    Palmer: Nein, natürlich keine Festung. Ich glaube, wir brauchen eine Doppelstrategie, denn ein weiterer Fehler war, die Menschen in den Lagern im Nahen Osten der Hoffnungslosigkeit preiszugeben. Es ist doch absurd, dass dort die Essensrationen halbiert werden mussten, weil kein Geld zur Verfügung stand, um Nahrungsmittel zu bezahlen, auch dafür hat Deutschland natürlich eine Verantwortung, und dass gerade mal 10.000 Syrer vor einem Jahr als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kommen konnten. Ich glaube, wir müssen dahin kommen, dass wir in den Lagern auch Frauen und Kindern und Alten eine Perspektive geben. Zurzeit können doch nur die kommen, die die beschwerliche Strecke bis zu uns schaffen. Das sind die jungen Männer. Sie über Kontingente nach Deutschland zu holen, aber ihnen zu sagen, geht nicht auf eigene Faust über die Grenze, die Grenze wird gesichert, wer dort kommt, kommt an der Grenze erst mal in eine Unterkunft und wird dann über ganz Europa verteilt. Einen direkten Weg nach Deutschland gibt es aber für euch, bitte nehmt den. So müsste man meiner Meinung nach vorgehen.
    "Ich will Menschen helfen"
    Müller: Das heißt aber: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie nichts dagegen, wenn weitere Flüchtlinge kommen?
    Palmer: Ich bitte Sie! Ich will Menschen helfen. Das ist ein Imperativ. Natürlich müssen wir Flüchtlingen helfen, aber es muss geordnet passieren und es darf nicht so passieren, dass bei uns dann wirklich keiner mehr weiß, wie man damit zurechtkommen soll.
    Müller: Das heißt, wir können auch drei oder vier oder fünf Millionen Flüchtlinge vertragen, auch die Kapazitäten wären dafür da, wenn alles geordnet läuft?
    Palmer: Das ist eine Frage eines Aushandlungsprozesses in der deutschen Gesellschaft, und das ist das zweite große Versäumnis. Die Kanzlerin sagt, wir schaffen das, aber sie sagt uns nicht, was wir eigentlich schaffen wollen. Sehen Sie, wenn wir Notunterkünfte in Zelten und Hallen für ausreichend halten, dann sind die Menschen bei uns sicher besser versorgt als im Nahen Osten. Dann können wir auch zehn Millionen aufnehmen. Das werden wir schaffen. Das ist nur eine Frage des Tempos. Aber zehn Millionen Menschen in zwei Jahren zu integrieren in den Arbeitsmarkt, in Gesellschaft, in Schulen, in Kindergärten, in den Wohnungsmarkt, das werden wir nicht schaffen, und von daher möchte ich mal wissen, was ist denn eigentlich die Aufgabe, die uns gestellt wird. Und das kann auch die Kanzlerin nicht allein beantworten, sondern dann müssen wir auch fragen, was wollen die Menschen bei uns im Land. Da erlebe ich sehr, sehr unterschiedliche Auffassungen. Das muss doch jetzt mal diskutiert werden.
    Müller: Viele sagen das ja, auch in den sozialen Netzwerken wird das häufig diskutiert: Wie kann die Kanzlerin so weit gehen, binnen weniger Tage, Sie haben das eben gesagt, mit Selfies, vielleicht aus einer Laune heraus ein humanitäres Signal zu senden in alle Welt und dann vielleicht die Kultur und die Verfasstheit des Landes für immer radikal zu verändern?
    Palmer: Das geht mir sehr viel zu weit. Natürlich wird uns das verändern, aber Veränderung ist das Normalste der Welt. Es gibt kein Stehenbleiben und wir sind eine Einwanderungsgesellschaft. Aber was Sie trotzdem richtig ansprechen ist, dass es eine große Kluft gibt zwischen Menschen, die begeistert sind, die helfen wollen, die auch an Bahnhöfe kommen, Willkommensschilder hochhalten - da kenne ich viele -, und solchen, die sagen, das kann ich jetzt nun wirklich nicht mehr unterstützen, aber ich darf es nicht mehr sagen, weil damit stelle ich mich außerhalb der Gesellschaft. Die Kanzlerin hat ja gesagt, das ist dann nicht mehr mein Land. Ich glaube, dieser Diskurs, der muss in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt werden. Wir müssen wirklich miteinander reden, wer von uns wie viel einbringen mag und wie viel die Gesellschaft insgesamt leisten will. Das kann man nicht von oben verordnen, das muss ausgehandelt werden.
    "Ich glaube, es gibt da ein Diskursverbot"
    Müller: Stimmt das denn, Herr Palmer: Wer scharf kritisiert, wer auch sagt, wir schaffen das nicht mit den Flüchtlingen, wir schaffen es vor allem nicht mit den steigenden Flüchtlingszahlen, der wird gleich von vielen auch in den Medien, in den sozialen Netzwerken zum rechten Idioten abgestempelt?
    Palmer: Ich glaube, es gibt da ein Diskursverbot, eine Blockade, und ich habe das selber gespürt, weil ich habe sehr lange gezögert, mich überhaupt mit dieser Aussage gegen die Kanzlerin zu wenden. Natürlich passiert das: Wenn man das macht, dann wird man scharf angegriffen. Jetzt ist man als grüner Oberbürgermeister sehr unverdächtig, dann b leibt davon nicht viel hängen. Aber ich treffe auf den Straßen viele Menschen, die sagen, ich erlebe das so, dass man nichts Kritisches sagen darf über diese Situation, weil man dann in der Tat zu einem Rechten gestempelt wird, und das muss aufhören. Es muss aufhören, dass man diejenigen, die Sorgen haben, die Ängste haben und die artikulieren, stigmatisiert.
    Müller: Sie sagen, Herr Palmer, als Grüner bin ich da unverdächtig, ich konnte das wagen. Was sagen denn die Grünen dazu, die sich ja in der Regel sehr sorgen um political correctness?
    Palmer: In meiner Partei sind die meisten damit überhaupt nicht einverstanden. Das ist für mich auch in Ordnung. Ich kann da nicht viel mehr erhoffen als das, was sonst auch bei uns gilt, dass wir eine sehr diskurs- und streitfreudige Partei sind und das aushalten. Meine Partei hat eine grundsätzlich andere Linie und da bin ich auch stolz drauf. Wir sind die Partei, die sich immer für Flüchtlingsrechte eingesetzt hat, und das war auch immer richtig, denn da kamen ja nur 50.000 oder 100.000 im Jahr und die haben wir ziemlich schlecht und mies behandelt, wenn man bedenkt, was die alles erlebt haben. Jetzt bin ich aber halt Oberbürgermeister und nicht grüner Parteipolitiker, und ich fühle mich im Moment verpflichtet zu sagen, es muss sich sehr viel ändern, damit wir es wieder schaffen können.
    Müller: Sie liegen ja auch gar nicht so weit von der deutschen Grenze entfernt mit Tübingen. Wenn wir noch einmal auf den europäischen Kontext schauen, und wie es im Moment aussieht, wird es ja ganz schwierig sein, diese Flüchtlingsströme zu kontrollieren, sie zu regeln und dementsprechend zu steuern. Wenn das in den nächsten Tagen und Wochen so weitergeht, Zehntausende, die warten, weiterzuziehen, wären Sie dann dafür zu sagen, Deutschland muss erst einmal dicht machen?
    Palmer: Nein! Ich bin dagegen, die deutsche Grenze dicht zu machen. Das halte ich für falsch. Das bringt auch nichts. Ich bin wirklich für die europäische Lösung. Die halte ich auch für möglich. Die griechische Grenze ist nicht so groß und sie wäre auch zu kontrollieren. Die ist aufgerüstet, sie hat nur kein Personal, das kann man ja ändern. Und dann geht es auch nicht darum, die Flüchtlinge zurückzuweisen, sondern sie kontrolliert nach Europa zu bringen. Ich halte nichts von geschlossenen Grenzen. Das geht tatsächlich in unserer Zeit nicht mehr.
    Müller: Aber Kontrollieren heißt ja, dass der Strom trotzdem weiter anwächst.
    "Diese Entwicklung ist gesellschaftlich sehr gefährlich"
    Palmer: Ich glaube nicht, dass es das heißt. Ich habe ja vorher auch gesagt, wenn wir den Menschen in den Lagern eine Perspektive geben, dann kann es durchaus gelingen, die Zahl derjenigen, die zu uns kommen, in eine Größenordnung zu bringen, die wir dann auch wieder gut bewältigen können.
    Müller: Blicken wir noch einmal auf die politische Konstellation in Deutschland. Immer mehr Zuwachs bekommen ja offenbar rechtsradikale, rechtsextreme Organisationen. Die AfD ist wieder auf dem Weg nach vorne. Die Union auf der anderen Seite verliert zunehmend an politischem Rückhalt. Wie gefährlich ist diese ganze Entwicklung, wenn die Politik nicht entsprechend reagiert?
    Palmer: Ich glaube, sie ist gesellschaftlich sehr gefährlich. Sie ist gefährlich in Europa. Viele Staaten erleben jetzt einen Aufschwung der Rechten, denken wir nur an Österreich. Und das kann auch uns passieren, wobei das dann meistens so abläuft, dass die Menschen sagen, die Politik hört nicht zu, ich werde nicht repräsentiert in der öffentlichen Debatte, alle Parteien sind sich einig.
    Müller: Stimmt das?
    Palmer: Es stimmt jedenfalls insoweit, als bisher ein Konsens ist, man darf nicht mehr sagen, dass wir das nicht schaffen. Da habe ich von allen Parteien jetzt harte Gegenwehr erlebt, außerhalb Bayerns jedenfalls ist das so. Und es gibt ja Gründe, warum so ein einfacher Satz, der eigentlich von einem Oberbürgermeister in der Provinz ja nicht besonders viel bedeutet, warum der so viele Wellen schlägt. Es war Konsens, dass man das nicht aussprechen darf, dass wir überfordert sind. Es gibt ein Tabu, was die Grenzen der Belastbarkeit angeht, und das muss aufhören. Wenn wir dieses Tabu nicht brechen, dann wird es dazu kommen, dass die Leute ausweichen und sagen, die Politik hört nicht zu, dann wähle ich AfD, nicht weil ich die will, sondern weil ich will, dass die Politik was ändert.
    Müller: Dann würden Sie auch so weit gehen, als Grüner jetzt zu sagen, was Horst Seehofer in die Debatte bringt ist nicht immer falsch?
    Palmer: Ich finde, dass es gerade nicht die Zeit ist, nach parteipolitischen Farben zu sortieren. Wenn der Seehofer was sagt, was stimmt, dann ist dies doch kein Grund, sich darüber zu ärgern, nur weil er CSU-Ministerpräsident ist.
    Palmer: Also würden Sie sagen ja, stimmt, er hat Recht?
    Palmer: Er ist ein wichtiger Bestandteil der Debatte. Wenn die Umfragen zeigen, dass die Hälfte der Deutschen der Auffassung sind, man könne nicht offen über das Thema reden, und auch die Hälfte sagt, jetzt ist die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, zu groß, dann muss die Politik das besprechbar machen.
    Müller: Der Grünen-Oberbürgermeister von Tübingen bei uns im Deutschlandfunk, Boris Palmer. Vielen Dank für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
    Palmer: Ich danke Ihnen.
    Müller: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.