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Munitionslieferungen an Ukraine
Pistorius: "Wir geben fast alles ab, was wir haben"

Laut Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) liefert Deutschland der Ukraine die Munition, die entbehrlich ist. Die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr aber müsse durch Reserven erhalten bleiben, sagte er im Dlf.

Boris Pistorius im Gespräch mit Barbara Schmidt-Mattern |
Porträt des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius in Anzug und Krawatte  bei einer Pressekonferenz in Litauen. Hinter ihm die deutsche Flagge, der Vordergrund schwarz und unscharf.
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) drängt darauf, die Produktionskapazitäten in der europäischen Rüstungsindustrie hochzufahren (picture alliance / Associated Press / Mindaugas Kulbis)
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hält daran fest, "im kleinen Umfang" Munitionsbestände der Bundeswehr zurückzuhalten - und sie nicht an die Ukraine zu liefern. "Das müssen wir. Was wäre wohl los, wenn ich meine sämtlichen Depots freiräumen würde und nicht sicherstellen könnte, bis wann ich sie wieder einigermaßen füllen kann", sagte der SPD-Politiker im Deutschlandfunk. Es gebe laufende Rahmenverträge mit der Rüstungsindustrie. "Daraus rufen wir ab. Wir geben fast alles ab, was wir haben."
"Wenn wir uns jetzt völlig leer ziehen würden von allem Material, was wir haben, dann wären wir wiederum nicht mehr in der Lage, beispielsweise die Ostflanke zu schützen im Falle einer Aggression", betonte der Minister. Die Produktionskapazitäten in der europäischen Rüstungsindustrie müssten schnell hochgefahren werden, forderte Pistorius.

"Produktion von Munition ist keine Banalität"

Munition müsse aber erst einmal produziert werden, sagte der Minister und äußerte Unverständnis über die öffentliche Kritik am Tempo von Lieferungen an die Ukraine. "Produktion von Munition ist keine Banalität. Wir reden über Pulver, das trocken gelagert werden muss über eine bestimmte Zeit, bevor es verwendet werden kann für die Herstellung von Munition", so Pistorius.

Minister reagiert vorsichtig auf Recherchen zu Nord-Stream-Pipelines

"Mit großen Interesse" nehme er neue Recherchen zu den beschädigten Nord-Stream-Pipelines "zur Kenntnis", sagte Pistorius. Laut Medienberichten soll eine pro-ukrainische Gruppe für die Lecks der Pipelines in der Ostsee verantwortlich sein. "Das muss geklärt werden", fügte der Bundesverteidigungsminister hinzu. Aber man müsse abwarten, er kommentiere keine "hypothetischen Recherchen". Viel wichtiger sei es, mit den Anrainer-Staaten die kritische Infrastruktur unter Wasser zu schützen.

Das Interview in voller Länge:

Barbara Schmidt-Mattern: Zu den neuesten Recherchen zur Sabotage gegen die beiden Nord-Stream-Pipelines 1 und 2 in der Ostsee im vergangenen September - sagen Sie uns vielleicht zunächst: Wenn sich diese Hinweise verdichten, wie ordnen Sie diese Recherche ein?
Boris Pistorius: Es ist immer interessant, solche Recherche-Ergebnisse zu lesen, und ich nehme sie mit großem Interesse zur Kenntnis. Aber wir müssen jetzt mal abwarten, was sich davon wirklich bestätigt. Jetzt hypothetisch zu kommentieren, was wäre wenn, halte ich jetzt für nicht zielführend. Das muss geklärt werden. Viel wichtiger ist, dass wir auf der anderen Seite seitens der Anrainerstaaten im Verbund mit der NATO alles tun, was machbar ist, um die kritische Infrastruktur unter Wasser besser zu schützen. Das haben wir gemeinsam mit der NATO auf den Weg gebracht.
Schmidt-Mattern: Es ist sicherlich ein wichtiger Hinweis. Wir sprechen da nicht von Beweisen, von Hinweisen vielmehr. Es ist nichts davon auf Beweisebene im Moment. Aber dennoch nachgefragt: Diese Meldungen über eine sogenannte proukrainische Gruppe, die hinter der Sabotage stehen soll, wenn sich das verdichtet, was würde das denn für die Unterstützung, unsere Unterstützung des Westens für die Ukraine bedeuten?
Pistorius: Ich bleibe dabei: Ich kommentiere keine hypothetischen Recherchen. Es kann genauso gut sein, auch das ist ja in der Berichterstattung deutlich geworden, es kann genauso gut eine False-Flag-Aktion gewesen sein, also proukrainischen Gruppierungen das in die Schuhe zu schieben, um es so aussehen zu lassen. Die Wahrscheinlichkeit für das eine wie für das andere ist gleichermaßen hoch. Von daher muss man jetzt die Entwicklung abwarten. Es hilft uns nichts, auf der Grundlage von solchen Recherchen, die bestimmt mühsam und akribisch gemacht worden sind, jetzt darüber nachzudenken, welche Auswirkungen das auf unsere Unterstützung für die Ukraine hätte.

"Gewisse Reserven brauchen wir allerdings auch"

Schmidt-Mattern: Kommen wir zu einem anderen Thema, nämlich dem Thema, das heute die wichtigste Rolle spielt beim Treffen mit Ihren Amtskollegen in Stockholm: Die stärkere Versorgung der Ukraine mit Munition. Blicken wir auf die Stadt Bachmut, wo die Schlacht in der Ostukraine inzwischen mit der Vernichtungsschlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg verglichen wird. Da könnte man jetzt anführen, die Europäische Union redet und redet, anstatt Munition zu liefern, während in Bachmut und anderswo die Menschen sterben. Wie halten Sie das aus, Herr Minister?
Pistorius: Na ja, das hält man schwer aus. Aber man muss dazu sagen, dass wir nach Kräften liefern. Daran besteht überhaupt gar kein Zweifel. Dass wir nichts tun, dass die europäischen Partner nichts tun, das kann nun wirklich niemand behaupten. Aber die Munitionsvorräte sind, wie sie sind, und von daher müssen wir liefern, was wir haben. Gewisse Reserven brauchen wir allerdings auch, um unsere eigene Verteidigungsfähigkeit aufrecht zu erhalten, aber die Bemühungen müssen ganz klar in die Richtung gehen, die Produktionskapazitäten insgesamt in den europäischen Mitgliedsländern bei der Rüstungsindustrie hochzufahren, und zwar schnell. Davon hängt es ab.
Schmidt-Mattern: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie Munition der Bundeswehr zurückhalten für eigene Zwecke und sie deshalb im Moment nicht der Ukraine zur Verfügung stellen?
Pistorius: In kleinem Umfang, aber das müssen wir. Was wäre wohl los, wenn ich hier meine sämtlichen Depots freiräumen würde und nicht sicherstellen könnte, bis wann ich sie wieder einigermaßen füllen kann. Wir haben laufende Rahmenverträge mit der Rüstungsindustrie. Daraus rufen wir ab. Wir geben fast alles ab, was wir haben. Das machen fast alle anderen so. Jetzt ist der Auftrag – und das ist völlig richtig, auch die Initiative aus Brüssel – zu suchen, wer hat jetzt noch was in den Depots, was irgendwie entbehrlich ist unter Zurückstellung aller Bedenken, und das muss dann geliefert werden.

"Der politische Wille fehlt überhaupt nicht"

Schmidt-Mattern: Nun gibt es die Absichtsbekundungen ja schon so lange. Sie könnten aber doch entweder schleunigst mehr bestellen bei der Industrie, oder doch etwas mehr aus eigenen Beständen bereitstellen. Fehlt da an einer Stelle auch einfach der politische Wille, jetzt zu handeln?
Pistorius: Nein, überhaupt nicht. Der politische Wille fehlt überhaupt nicht. Daran kann gar kein Zweifel bestehen. Wir stehen an der Seite der Ukraine und unterstützen sie mit allem, was geht. Aber ich sage es mal so: Wenn wir jetzt uns völlig leerziehen würden von allem Material, was wir haben, dann wären wir wiederum nicht mehr in der Lage, beispielsweise die Ostflanke zu schützen im Falle einer Aggression. Deswegen müssen wir darauf achten, auch bestimmte Mindestbestände zu haben. Um mehr geht es hier gar nicht. Das versteht auch jeder, ich glaube, auch in der Ukraine. Aber noch mal: Die Bestellungen als solche sind nicht das Problem. Wir haben Rahmenverträge, die wir aufstocken. Das Problem ist doch: Allein durch mehr Aufträge, egal von wem, ob von den Mitgliedsstaaten oder der Europäischen Union, schafft noch nicht und vor allen Dingen nicht schneller Munition, weil die ja nun mal erst produziert werden muss. Das ist eigentlich im Augenblick der Flaschenhals.
Schmidt-Mattern: Umso höher die Dringlichkeit, schnell auf eine Entscheidungs-, nicht nur auf eine Beratungsebene zu kommen. Können Sie verstehen, dass viele Menschen auch hier in Deutschland sich fragen, warum dauert das so lange?
Pistorius: Ich frage mich immer, woher das kommt, dass man sagt, das dauert alles so lange. Produktion von Munition ist keine Banalität. Wir reden über Pulver, das trocken gelagert werden muss über eine bestimmte Zeit, bevor es verwendet werden kann für die Herstellung von Munition. Die Produktionsstraßen sind nicht oder noch nicht in dem Maße bei der privat geführten Rüstungsindustrie auf die Umfänge ausgerichtet, mit denen wir jetzt zu tun haben. Darum geht es jetzt gerade und das hat mit „lange dauern“ eigentlich nichts zu tun. Alle bemühen sich nach Kräften, erteilen Aufträge, und ich sage mal so: Wir als Deutschland haben Rahmenverträge, die wir bis zu einem bestimmten Punkt auch, soweit das vereinbart worden ist, öffnen können für andere Partner. Dazu sind wir gerne bereit. Aber das alleine, ich wiederhole es noch mal, führt nicht dazu, dass sofort mehr Munition da ist, weil sie doch dann auch erst produziert werden muss.

"Wirksamer, flexibler und effektiver Schutz für die Ostflanke"

Schmidt-Mattern: Herr Minister, kommen wir auf das Baltikum zu sprechen. Sie sind gerade dort von einem Truppenbesuch in Litauen zurück. Die Regierung in Vilnius erwartet ja, dass die Bundeswehr dort ein dauerhaftes Kontingent stationiert. Von 5.000 Frauen und Männern einer Bundeswehrbrigade ist da die Rede. Sie haben zu erkennen gegeben bei diesem Besuch, dass Sie eine dauerhafte Stationierung nicht wünschen. Kommen Sie an dem Punkt nicht mehr zusammen? Enttäuschen Sie da die Litauer?
Pistorius: Ich glaube, am Ende nicht. Am Ende wissen beide Seiten, was das gemeinsame Ziel ist, nämlich ein wirksamer, flexibler und effektiver Schutz für die Ostflanke, insbesondere für das Baltikum und im Fall des bilateralen Partners Litauen eben Litauen. Ich glaube, darüber besteht sowieso Einigkeit, und jetzt geht es um eine militärische Frage. Die ist nicht zuvorderst von uns oder von Litauen zu entscheiden, sondern von der NATO. Die NATO erstellt gerade die regionalen Pläne und dann geht es um die für jeden nachvollziehbare Frage, was ist besser für den Schutz der Ostflanke, eine große, 5.000 Männer und Frauen starke Brigade fest stationiert mit allem Drum und Dran in Litauen, oder eine, die dort ihren Standort hat, die aber nicht immer in voller Stärke dort ist, um sicherzustellen, dass auch an anderen Stellen der Ostflanke schnell reagiert werden kann. Das sind militärisch-strategischtaktische Überlegungen, die jetzt gerade stattfinden, und wenn die abgeschlossen sind, dann können wir uns darüber unterhalten, was dann passiert. Aber es bleibt dabei: Es wird – und die Zusage gilt – eine deutsche Brigade für Litauen geben und sie wird auch zu einem großen Teil – davon gehe ich aus – am Ende in Litauen stationiert werden.
Schmidt-Mattern: Bleiben wir im weitesten Sinne bei diesem Komplex, Unterstützung des Westens, aber wechseln die Perspektive und blicken noch einmal auf China. Da gibt es ja Anzeichen, dass China Russland mit Waffen versorgen könnte. Wenn sich das so bewahrheiten sollte, falls China bereit wäre, Waffen zu liefern, was bedeutet das dann für die Unterstützung des Westens der Ukraine?
Pistorius: Das bedeutet erst mal nur, dass wir unsere Intensität weiter verstärken müssen. Die Ukraine muss weiter unterstützt werden, dann noch mal mehr. Alles was möglich ist muss gemacht werden. Das tun wir dann auch. Aber klar ist auch, geopolitisch, nach den Maßstäben internationaler Politik bedeutet das eine bedrückende Entwicklung, wenn China das täte, und damit wäre auch Chinas Rolle als Friedensmittler oder als jemand, der Einfluss ausüben kann auf Russland, deutlich geschwächt.
Schmidt-Mattern: Die USA sagen bereits, wenn China Waffen an Russland liefert, dann werden Sanktionen verhängt. Wären Sie, wären die Europäer dann an der Seite der USA? Würden auch Sie Sanktionen verhängen?
Pistorius: Das kann man auf keinen Fall ausschließen, weil das eine unmittelbare Einflussnahme Chinas auf das Kriegsgeschehen wäre, wenn sie tatsächlich letale Waffen liefern würden.
Schmidt-Mattern: Das Ganze ist mutmaßlich bestimmt angesprochen worden beim Treffen des Kanzlers am Freitag im Weißen Haus mit Joe Biden. Können Sie daraus näher ableiten, dass man sich im Umgang mit China stärker zusammentut?
Pistorius: Ich glaube, das tut man ohnehin, und das ist auch notwendig.
Schmidt-Mattern: Dann kommen wir noch auf die Frage, wenn wir schon bei den USA sind, dass der Wahlkampf in den USA näher rückt. Sollte Donald Trump im Jahr 2024 die Wahl wiedergewinnen – wir können jetzt nicht in die Zukunft blicken -, wie sehr setzt Sie das zeitlich unter Druck, frage ich mal, der anstehende US-Präsidentschaftswahlkampf?
Pistorius: Es setzt uns zeitlich unter Druck, natürlich jederzeit, weil wir immer im Auge haben müssen, dass auch aus anderen Gründen die Amerikaner ihren Fokus etwas verschieben könnten, nämlich in Richtung Indopazifik, also ein ganz anderer Grund als der eines anderen amerikanischen Präsidenten. Deswegen werde ich nicht müde zu betonen, dass es mehr Anstrengungen braucht für eine abgestimmte europäische Verteidigungspolitik und für eine Übernahme entsprechender Verantwortung, wobei wir gleichzeitig immer wissen, dass wir uns auf unseren transatlantischen Partner, die USA, auch in Zukunft werden verlassen können. Aber die Gewichte können sich verschieben und darauf müssen wir uns vorbereiten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen