Der Selbstmordattentäter ist keine Erfindung des Islamismus. Schon die erste große Welle des Terrorismus in Russland von 1878 bis zur Ermordung Alexanders des Zweiten im März 1881 kannte ihn, ebenso die zweite in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, die in der Ermordung des russischen Innenministers Plehwe und dem Attentat auf den Großfürsten Sergej Romanow gipfelte.
Iwan Kaljajew, der den Großfürsten mit einer Bombe tötete, ließ sich danach widerstandslos verhaften und wurde wenige Monate später hingerichtet.
Die russischen Terroristen waren jederzeit bereit, ja begierig darauf, ihr eigenes Leben zu lassen. "Die schönen Seelen des Terrors" hat Hans Magnus Enzensberger das in einem Essay aus dem Jahr 1963 genannt.
Eine dieser schönen Seelen war Boris Sawinkow. Geboren 1879, war er an beiden eben genannten Attentaten und etlichen anderen als Planer beteiligt. Persönlich hat Sawinkow vermutlich nie eine Bombe geworfen. Zwar wurde er 1906 verhaftet und zum Tode verurteilt, konnte jedoch aus dem Gefängnis entkommen und nach Paris fliehen.
Die Gruppe, für die Sawinkow arbeitete, war gewissermaßen der militärische Arm der Partei der Sozialrevolutionäre, der jedoch weitgehend autonom war. Das ist ein Muster, das sich später zum Beispiel in Irland im Verhältnis von Sinn Fein und der IRA wiederholt hat, ebenso auf kleinerem Niveau in Deutschland bei der völligen Ausgliederung der sogenannten Roten Armee Fraktion aus dem gesellschaftlichen Prozess.
Fiktionalisierung der Geschichte
Sawinkow war jedoch nicht nur Berufsterrorist, sondern auch Romancier und Dichter, wie es überhaupt bei den schönen Seelen des russischen Terrorismus nicht wenige Literaten gab. Sein bekanntester Roman, jetzt in der Neuübersetzung von Alexander Nitzberg bei Galiani Berlin erschienen, heißt "Das fahle Pferd" und ist wenig mehr als die Fiktionalisierung der Geschichte vom Attentat auf den Großfürsten, die ja später auch Albert Camus als Vorlage zu seinem Drama "Die Gerechten" gedient hat. Der Titel bezieht sich auf einen Passus in der Offenbarung des Johannes, wie es überhaupt von Vorteil ist, bei der Lektüre von Sawinkows Roman über einige Bibelkenntnisse zu verfügen. Das ist kein Zufall, denn der Terrorismus hat schon immer einen ideell-religiösen Hintergrund gehabt, geht es doch vorgeblich immer um die Herstellung höherer Gerechtigkeit.
Sawinkows Roman ist als Tagebuch seines Alter Ego verfasst, der George heißt und in der Vorbereitung des Anschlags natürlich unter den verschiedensten Decknamen und in den verschiedensten sozialen Rollen operiert, ebenso wie die Mitglieder der kleinen Gruppe, die er anleitet. Das Tagebuch erstreckt sich über sieben Monate. Mehrmals muss die Planung geändert und neu angesetzt werden, weil der Großfürst seine Routen ändert oder gar den Ort wechselt. Daraus bezieht der Roman zunächst seine Spannung.
Darüber hinaus liefert er das Psychogramm seines Protagonisten und seiner Mitkämpfer. Während der Kaljajew nachgebildete Wanja höchst religiös motiviert ist, glaubt der Arbeiter Fjodor an den Sozialismus und der Student Heinrich an die Gerechtigkeit. Die Bombenbauerin Erna, eine Fiktionalisierung der historischen Dora Brilliant, ist schwer depressiv und unglücklich in den Erzähler verliebt. Der selbst aber, George, glaubt nur an eines: An den Terror selbst, aller ideologischen Triebkräfte längst entkleidet.
Gelungen, aber auch überladen und etwas zäh
Das alles geht aus den Dialogen hervor, die die einzelnen Gruppenmitglieder untereinander führen und die manchmal gelungen, zuweilen aber auch so überladen sind, als traktierten sich die Akteure gegenseitig mit Thesenpapieren.
Ansonsten wird die Geschichte von George eher angenehm lakonisch erzählt, in einem überwiegend protokollarischen Stil, dem man gern folgt.
Ansonsten wird die Geschichte von George eher angenehm lakonisch erzählt, in einem überwiegend protokollarischen Stil, dem man gern folgt.
Das ändert sich in dem Moment, in dem das Attentat geglückt, der Roman aber leider noch nicht zu Ende ist. Schon zuvor hatte Sawinkow eine Liebesgeschichte seines Erzählers mit der Frau eines Offiziers eingewoben, die für das normale Leben stand, das Leben diesseits der terroristischen Abgeschiedenheit und in der Gesellschaft. Ihr gelten die letzten 50 Seiten des Romans, die in ein etwas albernes Duell münden und mit dem Wunsch des Erzählers abschließen, nicht mehr leben zu wollen. Sie sind zäh zu lesen. In dem Augenblick nämlich, als die Aufgabe erledigt ist und eine neue sich noch nicht am Horizont abzeichnet, tritt die Leere ein. Ideologische Fragen, politische und soziale Entwicklungen interessieren George nicht. Den Berufsterroristen interessiert allein der Terror selbst.
Wir kennen das aus der sogenannten bleiernen Zeit unseres eigenen Landes. Die Propaganda der Tat braucht die Theorie nur zu ihrer Rechtfertigung, sie glaubt nicht daran: Eine Tatsache, die Sawinkows Protagonist ziemlich unverhohlen ausspricht. Deshalb sind die schönen Seelen des Terrors nach vollbrachter Aktion leer und einsam. Damit lassen sich aber keine fünfzig Seiten mehr füllen.
Umfangreiches Dossier als Zugabe
Dem Roman ist ein umfangreiches Dossier angegliedert. Über die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Sawinkows Roman gibt Alexander Nitzbergs ausführliches Nachwort Aufschluss. Zudem sind Auszüge aus Sawinkows Erinnerungen an Kaljajew zu lesen, das Vorbild für den Wanja des Romans. Am erhellendsten aber ist der Essay "Das Handwerk des Tötens" des Berliner Historikers Jörg Baberowski, eine hervorragende Einführung in die Psychologie nicht nur des russischen Terrorismus. Die Terroristen, so Baberowski, "dichteten sich gegen die Wirklichkeit ab und bestätigten einander nur noch, dass sie im richtigen, die anderen im falschen Leben lebten."
Davon vermittelt auch Sawinkows Roman eine Ahnung, und von da aus führt er direkt bis in unsere Zeit.
Boris Sawinkow: "Das fahle Pferd"
Roman eines Terroristen. Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg. Mit einem Dossier von Alexander Nitzberg und Jörg Baberowski. Galiani Berlin 2015, 288 S., 16,99 Euro.
Roman eines Terroristen. Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg. Mit einem Dossier von Alexander Nitzberg und Jörg Baberowski. Galiani Berlin 2015, 288 S., 16,99 Euro.