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Bosnien-Herzegowina
"Aufwachen aus dem Albtraum"

Einen Monat nach der Hochwasserkatastrophe in Bosnien-Herzegowina wird erst jetzt das ganze Ausmaß der Schäden erfasst. Rupert Neudeck, Vorsitzender der Hilfsorganisationen "Grünhelme" und "Cap Anamur", sagte im Deutschlandfunk, "der Wiederaufbau hat noch gar nicht begonnen".

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme"
    Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme" (dpa / picture-alliance / Britta Pedersen)
    Es sei nicht bei den Überschwemmungen geblieben, sagte Neudeck im DLF. Das Hochwasser habe in den nachfolgenden Wochen Erdrutsche ausgelöst. In vielen Dörfern seien Schulen, Straßen und die Energieversorgung beschädigt worden. Das Land sei "erst jetzt dabei, aus dem Albtraum aufzuwachen und zu erkennen, dass das eine gewaltige Leistung des Wiederaufbaus sein muss". Neudeck ist gerade von Reise in die Region zurückgekehrt. Die Menschen vor Ort berichteten immer wieder, es habe 27 Tage lang ununterbrochen geregnet.
    Die Probleme der Schäden seien hausgemacht, sagte Neudeck. Viele Berghänge seien in den vergangenen Jahren viel zu schnell abgeholzt worden. Statt neuer Bäume seien Himbeersträucher gepflanzt worden. Dadurch sei das Land erst so heftig von den Überschwemmungen getroffen werden. Weil es in Bosnien-Herzegowina keine gemeinsame Feuerwehr oder Polizei gebe, sei die Solidarität sehr ausgeprägt. "Die Politik ist in Bosnien-Herzegowina so verächtlich geworden bei den Menschen, dass mir alle gesagt, wenn wir etwas tun wollen, sollen wir es am Staat vorbei tun." Die kommunalen Strukturen funktionierten sehr gut.

    Das Interview mit Rupert Neudeck in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Viele Helferinnen und Helfer sind hierzulande damit beschäftigt, die Folgen der jüngsten kurzen und sehr heftigen Unwetter rasch zu beseitigen. Davon können die Menschen in Bosnien-Herzegowina nur träumen. Wochenlang hatte es bei ihnen wie aus Eimern geschüttet. Das ganze Land stand unter Wasser und nur langsam gelingt es, die Straßen und Schienenwege freizuräumen. - Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Grünhelme und Cap Anamur, ist gerade von einer Reise in die Region zurückgekehrt. Guten Morgen!
    Rupert Neudeck: Guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Neudeck, wie weit ist der Wiederaufbau und was muss noch geleistet werden?
    Neudeck: Der Wiederaufbau hat noch gar nicht begonnen. Einen Monat nach der ganz großen Flutwelle, die am 14., 15. Mai über den Norden Bosniens und damit auch über Teile von Serbien, dem Nachbarland, gegangen sind, wartet man jetzt erst auf das Ende dieser unglaublichen Hochwasserkatastrophe, und es wird im ganzen Land erkennbar, dass das nicht nur die Überschwemmung war, die die Infrastruktur dieses labilen Landes geschädigt hat, sondern es sind überall in dem Land Erdrutsche erkennbar, die Straßen, Energieversorgung, Dörfer, Häuser, Schulen kaputt gemacht haben oder gefährdet haben, und deshalb, glaube ich, ist das Land erst jetzt dabei, aus dem Albtraum aufzuwachen und zu erkennen, dass das eine gewaltige Leistung des Wiederaufbaus sein muss, die das neue Land in dem Ex-Jugoslawien, das Bosnien-Herzegowina heißt, leisten muss.
    Heinemann: Herr Neudeck, hatte das Ausmaß der Überschwemmungen auch hausgemachte Ursachen?
    Neudeck: Ja, ganz sicher! Wir haben gehört von vielen Unternehmungen, Unternehmern dort im Lande, dass ganz viel in dem neuen Bosnien-Herzegowina abgeholt worden ist. Das Land ist ja ein wunderschönes Land, das in ganz weiten Teilen bergig ist und bewaldet ist. Es sind ganz viele Berghänge abgeholzt worden zu Gunsten der Holzindustrie. Das war eines der großen Trümpfe des neuen Bosnien-Herzegowinas, dass man Holz exportiert hat, und das hat man in einem wahnsinnigen Tempo gemacht, und man hat Himbeersträucher gepflanzt stattdessen, und das ist natürlich in gar keiner Weise in der Lage, bei einem so massiven Regen, den es gegeben hat, zu helfen. 27 Tage hintereinander, das berichten die Menschen immer wieder. 27 Tage hat es eigentlich nicht aufgehört zu regnen, und das hat eben dazu geführt, dass dieses Hochwasser zum ersten Mal das Land in einer solchen Stärke und in einer solchen Massivität bedroht hat, wie das in den letzten zwei Monaten der Fall gewesen ist.
    Heinemann: Was fehlt jetzt beim Wiederaufbau vor allem?
    Neudeck: Ich denke, man muss sich immer wieder klar machen, dass das noch immer nicht ein richtiger Staat ist. Die Nachfolgekriege aus der Landmasse Jugoslawiens haben in Bosnien so Furchtbares angerichtet und haben ja auch dazu geführt, dass es noch nicht ein richtiges Land ist. Dieses Bindestrichland Bosnien-Herzegowina lebt immer noch davon, dass in dem Friedensvertrag von Dayton eigentlich kein einziges Land hergestellt und produziert wurde, sondern zwei Entitäten, wie man damals gesagt hat 1995, nämlich die Serbische Republik im Norden und die Muslimisch-Kroatische Föderation im Süden, und die haben im Grunde noch keine eigene gemeinsame Regierung, noch keine gemeinsame Feuerwehr, noch keine gemeinsame Polizei. Das schlägt jetzt natürlich durch bei der Behandlung der Flutopfer. Es ist aber auch positiv zu bemerken, dass die verschiedenen Völker Jugoslawiens in dieser Situation zu einer großen Solidarität in der Lage sind. Das wird in den Zeitungen, in den Medien, bei den Menschen berichtet, die ich gesprochen habe. Es wird geholfen über die Grenzen hinweg, als ob es diese neuen Grenzen innerhalb von Bosnien-Herzegowina und auch die Grenze von Bosnien-Herzegowina zu Serbien gar nicht gäbe. Es gibt Menschen aus der Muslimischen Föderation, die in dem serbischen Bijeljina helfen, und es gibt Menschen, die in Doboj, das auch hauptsächlich serbisch bestimmt ist, helfen aus dem muslimisch-kroatischen Teil. Es gibt eine große Aufbruchbewegung bei der Jugend, die sich davon gar nicht beirren lässt und einfach hilft.
    Heinemann: Sie sprachen von einer fehlenden einheitlichen Feuerwehr und keiner einheitlichen Polizei. Zieht denn die Politik an einem Strick?
    Neudeck: Die Politik ist in Bosnien-Herzegowina so verächtlich geworden bei den Menschen, dass mir alle gesagt haben, wenn wir dort etwas tun wollen, dann sollen wir es möglichst am Staat vorbei tun. Das ist wirklich eine gemeinsame Auskunft aller, die ich gesprochen habe. Das heißt, im Grunde funktionieren die kommunalen Strukturen. Die funktionieren ganz gut, wenn man dort einen Bürgermeister hat, an den man sich halten kann. Dort hat man auch meistens eine Kirche oder eine Moscheegemeinde. Das sind die Organisationen, die Fundamente des Staates. Die großen Strukturen einer Regierung, wie wir sie kennen aus West- und Mitteleuropa, gibt es dort noch nicht. Es gibt im Grunde zwei Ellipsenzentren: das eine heißt Sarajewo, das andere heißt Banja Luka, das ist die Hauptstadt der Entität Serbische Republik, es gibt auch noch Mostar im Südosten. Also wir haben immer noch kein richtiges einheitliches Land und das schädigt natürlich die Bemühungen jetzt um den Wiederaufbau. Dennoch gelingt es den einzelnen Kantonen schon, sich die entsprechenden Hilfsangebote aus Österreich zum Beispiel und aus Ungarn, aber jetzt auch aus der Bundesrepublik Deutschland so anzugliedern, dass dort etwas Vernünftiges für die Bevölkerung passieren kann.
    Heinemann: Herr Neudeck, das Wasser hat Munition an die Oberfläche gespült, Mienen aus dem Jugoslawien-Krieg. Wie gegenwärtig ist dieser Krieg heute noch?
    Neudeck: Der Krieg ist gerade dadurch, durch das, was Sie eben erzählt haben, durch die Hinterlassenschaft von wahrscheinlich bis an 120.000 Minen an den verschiedenen Frontverläufen dieses furchtbaren Bruderkrieges, den Bosnien-Herzegowina erlebt hat, immer noch rasant gegenwärtig. Es sind gerade die alten Pläne, in denen man die Minenfelder hatte entdecken können, wo man auch noch hätte Minen räumen können, die sind alle hinfällig, dadurch, dass diese Riesenfluten die Minen und die Waffen im Lande herumstreuen, und deshalb gibt es die größten Gefahren für die Bevölkerung jetzt durch diese herumvagabundierenden Minen, die Landminen, die Personenminen, die Fahrzeugminen, aber auch durch eine andere Gefahr, die man nicht übersehen darf: Es gibt in den Fluten, diesen überraschenden, radikal zuschlagenden Fluten ganz viele tote Tiere, und die liegen mittlerweile so lange im Wasser, dass das Wasser kontaminiert ist, und deshalb gibt es eine große Gefahr. Das ist wahrscheinlich das, was gegenwärtig das Wichtigste für die Bevölkerung ist. Die Gefahr für das Trinkwasser muss gebannt werden und dazu braucht Bosnien-Herzegowina auch die Expertise gerade aus der Bundesrepublik Deutschland.
    Heinemann: Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Grünhelme. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Neudeck: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.