Es ist Punkt 12 Uhr mittags, als sich eine Gruppe von einem guten Dutzend junger Menschen vor dem Regierungsgebäude in Sarajevo versammelt – genau eine Woche, nachdem bei einer Gasexplosion in einem bosnischen Kohlebergwerk fünf Menschen ums Leben gekommen sind.
Die Protestierenden glauben nicht an ein tragisches Unglück. Gegenüber den herbeigeeilten Journalisten prangert eine junge Frau die verheerenden Arbeitsbedingungen in den bosnischen Bergwerken an, die fehlenden Schutzvorkehrungen - trotz gesetzlicher Vorschriften.
Eine Journalistin will wissen: Ist es Zufall, dass der Protest erst jetzt, sieben Tage nach der schrecklichen Tragödie stattfindet? Gerade heute, wo offiziell der Wahlkampf beginnt? - Am kommenden Sonntag entscheiden die 3,3 Millionen stimmberechtigten Bürger Bosniens nicht nur über die 43 Sitze im gesamtstaatlichen Parlament des Landes, sondern auch über die Zusammensetzung der Parlamente der beiden Landesteile – der bosnisch-kroatischen Föderation und Republika Srpska – sowie die Parlamente der Föderationskantone.
"Die Regierenden verhalten sich unverantwortlich"
"Nein, es ist kein Zufall. Wir sind hier, weil wir befürchten, dass sich jetzt bald keiner mehr an den Tod der fünf Arbeiter erinnern wird. Wir sind hier, weil wir glauben, dass der angeblich tragische Unfall eine Reaktion verlangt. Wir wählen und bezahlen diejenigen, die uns regieren, aber diese verhalten sich völlig unverantwortlich gegenüber uns Bürgern. Und das betrifft nicht nur die fehlenden Sicherheitsmaßnahmen in den Minen. Es zeigt sich bei allen möglichen Ereignissen in Bosnien-Herzegowina in den vergangenen Jahren."
Eine halbe Stunde später sitzt Ines Tanovic in einem Café und bestellt sich einen Espresso. In ihrem bunten Sommerkleid und der Sonnenbrille, die fast das halbe Gesicht verdeckt, sieht sie so gar nicht aus wie eine Kämpferin für Arbeiterrechte. Sie hat in Budapest und Zagreb Kunstgeschichte studiert. Erst vor einem Jahr ist sie nach Bosnien zurückgekehrt und arbeitet jetzt in der Presseabteilung für das Sarajevo Film Festival.
"Als ich zurückkam, lebte ich erst einmal in meiner eigenen Blase, in meinem eigenen Mikrokosmos, wo du die Realität um dich herum einfach negierst. Überall herrschte eine große Apathie. Du weißt einfach nicht, was du machen sollst, du kannst nichts ändern. Und was immer passiert, es ist dasselbe."
Umso überraschender dann, was im Februar geschah - und was bald als "bosnischer Frühling" bezeichnet wurde: Zehntausende Menschen waren in fast allen größeren Städten Bosniens gegen Armut und Korruption auf die Straße gegangen. Die anfangs noch friedlichen Proteste mündeten schließlich in Straßenschlachten und heftigen Zusammenstößen mit der Polizei. Regierungsgebäude wurden in Brand gesteckt, mehrere Kantonsregierungen traten daraufhin zurück. Bosnien ist seitdem ein anderes Land geworden, sagt nicht nur Ines:
"Endlich gab es Menschen, die gegen etwas aufstehen, endlich waren sie auf der Straße. Sie sagten: Wir brauchen euch Politiker nicht mehr! Wir haben gesehen, wie ungeduldig die Leute sind, dass sich endlich etwas ändert, wie sie voller Zorn waren und Verzweiflung. So viele Menschen sind hier arbeitslos, und die, die Arbeit haben, arbeiten für minimales Geld. Das Durchschnittseinkommen beträgt 400 Euro und das heißt, dass viele noch für viel weniger arbeiten. Und es gibt Arbeiter, die seit 30 Monaten keinen Lohn mehr bekommen haben. Es ist unglaublich. Man weiß nicht, wie die Leute überhaupt überleben."
"Bosnischer Frühling" begann in Industriestadt Tuzla
Begonnen hatte alles am 5. Februar in Tuzla, einer ehemals prosperierenden Industriestadt im Nordosten des Landes, wo heute mehr als die Hälfte der gut 130.000 Einwohner arbeitslos ist. Wochenlang hatten sich die Arbeiter der Reinigungsmittelfabrik Dita vor der Kantonsregierung versammelt, um ein Gespräch mit den Politikern zu erzwingen. Ohne Erfolg. Bis sie auf einmal Unterstützung bekamen: von anderenzu Tausenden waren sie auf der Straße. Dann wurde das Regierungsgebäude von einem wütenden Mob gestürmt und in Brand gesetzt.
Sieben Monate später sieht das elfstöckige Gebäude der Kantonsregierung immer noch aus wie nach einem Bombenangriff. Die Fassade ist vom Rauch geschwärzt, und dort, wo einmal Fenster waren, klaffen heute dunkle Löcher.
Dieses Gebäude ist jetzt noch schöner, als es jemals gewesen ist, sagt Elvis Kusljugic – und das meint er überhaupt nicht ironisch. Er war bei den Protesten von Anfang an dabei und sitzt nun auf den Eingangsstufen vor dem ehemaligen Regierungsgebäude.
"Leute haben die Regierung durch Demonstrationen gestürzt"
"Das hier ist mein Lieblingsplatz in der ganzen Stadt. Denn er repräsentiert für mich, dass es die Leute hier zum ersten Mal geschafft haben, eine Regierung durch Demonstrationen zu stürzen. Für mich ist das wirklich ein historischer Schritt, denn was nach dem Krieg kam, war alles mehr oder weniger dasselbe. Ich verlor meinen Job, war lethargisch und verzweifelt. Aber als dann das Gebäude hier brannte, fühlte ich mich auf einmal so, als ob ich wieder über mein Leben bestimme."
Und das, sagt Elvis, kann ihm keiner mehr nehmen. Auch wenn die Dinge danach dann doch nicht in die erhoffte Richtung gingen. Elvis zeigt auf die Glassplitter, die noch immer vor dem Gebäude rum liegen.
"Wie lange ist es her? Seit Februar? Und sie haben es noch nicht einmal fertig gebracht, das zersplitterte Glas hier wegzukehren. Das zeigt doch nur, dass sich im Bewusstsein derjenigen, die an der Macht sind, überhaupt nichts geändert hat. Wir haben hier jetzt bis zu den Wahlen eine Übergangsregierung, eine sogenannte Expertenregierung. Aber das Einzige, worin sie Experten sind, ist, wie sie sich selbst bereichern können."
Tatsächlich ist auf den ersten Blick selbst im aufrührerischen Tuzla nichts von den Protesten übrig geblieben. Und doch hat sich etwas getan. Vor vier Wochen haben die protestierenden Arbeiter eine neue Gewerkschaft mit dem Namen "Solidarnost" gegründet: branchenübergreifend und vollständig unabhängig von politischen Parteien. Das ist neu in Bosnien-Herzegowina.
Neue Gewerkschaft "Solidarnost" gegründet
Noch wirkt alles etwas improvisiert in den Räumlichkeiten am Rande des Stadtzentrums, ja, die Gewerkschaft ist noch nicht einmal offiziell registriert. Aber ihr Präsident Sakib Kopic schlägt schon wieder kämpferische Töne an:
"In einer Woche werden wir eine Liste mit 10 bis 12 Forderungen bekannt geben, die sich an die zukünftige Kantonsregierung richtet. Wir wollen sie damit wissen lassen, was wir von ihnen erwarten – wobei es uns völlig egal ist, wer die Wahlen gewinnt, denn wir selbst sind keine politische Partei. Wir werden ihnen 90 Tage Zeit geben. Und wenn sie unsere Forderungen nicht umsetzen, werden wir auch diese Regierung wieder zu Fall bringen."
Eine der Hauptforderungen wird die Überprüfung beziehungsweise Rücknahme der kriminellen Privatisierung der ehemaligen Staatsbetriebe sein. Denn davon können nicht nur die Arbeiterinnen und Arbeiter der Reinigungsmittelfirma Dita berichten, die mit ihrem Protest den bosnischen Frühling ausgelöst hatten.
"So ist es mit allen Firmen hier passiert. Sobald es einen neuen Besitzer gab, nahm dieser einen Kredit auf, um angeblich in die Firma zu investieren. Dabei wurde ein Teil der Firma mit einer Hypothek belastet. Das Geld aber wurde mithilfe der Banken und der Mafia außer Landes geschafft. Investiert wurde überhaupt nichts. Der Besitzer nahm einfach das Geld, machte einen riesigen Profit und die Firmen gingen Pleite."
Kriminelle Privatisierung der Staatsbetriebe in der Kritik
Was man dagegen machen kann? Bislang nichts, in einem Land wie Bosnien-Herzegowina, wo alle unter einer Decke stecken, sagt Sakib Kopić:
"Wir haben kein System der Verantwortlichkeit. Unzählige Firmen wurden in den Bankrott getrieben, ohne dass jemand dafür zur Verantwortung gezogen wurde. Warum nicht? Weil die Gerichte unter politischem Einfluss stehen. Ich sehe einfach überhaupt keinen Fortschritt. Man braucht sich bloß die Liste der Kandidaten bei den Wahlen anzuschauen. Es sind immer dieselben Leute. Was kann man von denen erwarten? Dass sie etwas ändern? Nein, sie werden einfach immer so weiter machen."
Und so herrscht – sieben Monate nach den Protesten - auch im Wahlkampf in Sarajevo wieder "Business as usual". Insgesamt 65 Parteien werben um die Wählergunst – eine scheinbare Vielfalt, doch von den Plakaten in Sarajevo blicken tatsächlich wieder dieselben bekannten Gesichter. Währenddessen haben die offiziellen Arbeitslosenzahlen zum ersten Mal die fünfzig Prozent-Hürde überstiegen; die Jugendarbeitslosigkeit soll sogar bei knapp über 70 Prozent liegen. Dazu kommt: alltägliche Korruption auf allen Ebenen, Klientelismus und Vetternwirtschaft – in einem durch die komplizierte Nachkriegsordnung aufgeblähten Staatsapparat, der alleine 64 Prozent der Staatseinnahmen verschlingt.
"Wir sind das Volk. Wir machen die Politik"
Die Politiker und Parteien selbst werden daran nichts ändern. Denn die leben von diesem quasi-feudalen System doch bestens, sagt Nedim Klipo. Er ist 23 Jahre alt, studiert Maschinenbau und ist auf dem Weg zur Uni. Und genau deshalb sei die Erfahrung der Proteste so wichtig gewesen.
"Es war: Wir sind das Volk. Und wir machen Politik. Es ging nicht darum, die offizielle Politik irgendwie zu beeinflussen oder von ihr zu fordern, dass sie transparenter sein soll. Nein, wir machen die Politik! Es hatte sich gezeigt, dass die Leute zusammenkommen, sich demokratisch organisieren und politische Forderungen formulieren können."
Wenn Nedim davon erzählt, leuchten seine Augen: Endlich eine konstruktive außerparlamentarische Opposition, eine Alternative zu den eingefahrenen Parteistrukturen! Und dabei klatscht er mit seinen Händen immer wieder auf seine Schenkel, als ob er seinen Worten noch einmal Nachdruck verleihen müsste.
"Aber danach war alles wie vorher, die Proteste und die Plenen schliefen ein. Und keine neue Organisation ist entstanden. Oder eine Partei, die all das, was passierte, verbunden hätte: die Forderungen, mehr demokratische Organisationen. Und so fielen die Leute wieder zurück in ihre alte Stimmung: in Apathie und Pessimismus."
Ewiges Karussell korrupter Politiker
Bei den kommenden Wahlen sieht Nedim keine Partei, die er wählen könnte. Für ihn ist klar: Es wird nur eine andere Konstellation im ewig sich drehenden Karussell korrupter und sich selbst bereichernder Politiker geben. Und doch sind er und seine Mitstreiter nicht untätig geblieben. Mit Plakaten und anderen Aktionen haben sie zum Boykott aufgerufen, um so den Politikern einen Strich durch die Rechnung, beziehungsweise auf den Wahlzettel zu machen. Nur so kann der allgemeinen Unzufriedenheit eine Stimme gegeben werden, sagt auch Ines Tanovic, die sich an der Kampagne beteiligt:
"Wir werden die Situation nicht verändern, indem wir bei diesen Wahlen wählen gehen. Was wir aber machen können: Unseren Wahlzettel ungültig abgeben. Um zu zeigen, dass es eine große Anzahl von uns gibt, die überhaupt keine politische Option haben."
Andere sehen darin keine Lösung. Wahlkampfveranstaltung der Partei Naza Stanka im Haus der Jugend. Naza Stanka – auf Deutsch: Unsere Partei – ist eine der kleineren Parteien, die zur Wahl antreten. Gegründet wurde sie vor sechs Jahren von dem Filmemacher Danys Tanovic, der mit seiner Kriegsgroteske "Not Man's Land" zahlreiche Preise erhalten hat, darunter einen Oscar für den besten fremdsprachigen Film.
Misstrauen gegenüber Parteien ist groß
Mit frischen Gesichtern und Kandidaten, die der Korruption unverdächtig sind, wäre die Partei eigentlich wie gemacht, um die Unzufriedenen hinter sich zu versammeln. Doch die Partei hat ein Problem: Unter den einfachen Leuten gilt sie als elitär und ein bisschen abgehoben. Auch ihr Eintreten für die Rechte von Schwulen und Lesben macht sie in der breiten Bevölkerung nicht unbedingt populärer.
Die 24-jährige Azra Ivanovic ist seit einem Jahr dabei. Sie hat von der Wahlboykott-Kampagne der früheren Protestler gehört. Doch für sie kommt das nicht in Frage:
"Seit ich 18 bin, habe ich immer gewählt. Und ich habe immer versucht, meine Freunde auch dazu zu motivieren. Aber das klappt nicht sehr gut. Sie sagen, wenn die oder die gewinnen, dann werden sie sich doch wieder bereichern und korrupt sein. Ich denke zwar auch nicht, dass die Wahlen etwas ändern werden. Aber wenn mehr Menschen wählen würden, zum Beispiel eine dieser kleineren Parteien, die tolle Ideen haben, wie das System zu ändern wäre in Bosnien - dann würde es vielleicht doch einen Unterschied machen."
Nur 13 von 693 Wahlversprechen umgesetzt
Am nächsten Tag steht Azra in ihrer Freizeit wieder am Wahlstand. In ihrer Hand hält sie ein Bündel Faltblättchen, mit denen die Partei für sich und ihre Kandidaten wirbt. Nur wenige Passanten bleiben stehen oder lassen sich gar in ein Gespräch verwickeln. Das Misstrauen gegenüber Parteien und ihren Versprechungen ist groß - und das ist nicht unbegründet, wie jüngst eine Untersuchung der Nichtregierungsorganisation Ziste ne, auf Deutsch: Warum nicht? gezeigt hat: Von 693 Wahlversprechen auf gesamtstaatlicher Ebene sind in der vergangenen Legislaturperiode gerade einmal 13 tatsächlich umgesetzt worden. Für Tijani Cveticanin, die die Untersuchung geleitet hat, war dieses Resultat aber kaum überraschend:
"Es sind ziemlich genau dieselben Ergebnisse wie bei der letzten Legislaturperiode: Damals wurden fünf Prozent der Wahlversprechungen erfüllt und jetzt drei. Und die Menschen wissen das: Für sie ist schon die Tatsache, dass überhaupt irgendetwas umgesetzt wurde, ziemlich viel. Das heißt, ihre Wahrnehmung ist eigentlich noch schlimmer als unsere Ergebnisse. Die letzten vier Jahre waren einfach total frustrierend für die Leute. Es folgte nur eine Katastrophe auf die nächste."
Tatsächlich sollte es nach den letzten Wahlen 2010 geschlagene 16 Monate dauern, bis auf gesamtstaatlicher Ebene überhaupt eine Regierung gebildet werden konnte – nur um dann gleich wieder auseinanderzubrechen. Praktisch kein Gesetz wurde verabschiedet, keine Reformen initiiert, keine Schritte hin zur Annäherung an die EU vollzogen. Dann, im Februar, entlud sich der Volkszorn auf der Straße.
Land steht vor politischem und finanziellen Scherbenhaufen
Und im Sommer, als ob es noch eines letzten Ausrufezeichens nach vier Krisenjahren bedurft hätte, erlebte Bosnien auch noch eine der schwersten Überschwemmungen seit hundert Jahren. Ganze Dörfer wurden weggespült, die Existenz von zahlreichen Familien vernichtet. Der Gesamtschaden wird auf zwei Milliarden Euro geschätzt. Kurz: Das Land steht vor einem politischen und finanziellen Scherbenhaufen, sodass viele Experten schon das Schlimmste befürchten. Der politische Analyst Srecko Latal:
"Ich befürchte, dass die ökonomische und soziale Basis des Landes durch die anhaltende Krise schon so geschwächt wurde, dass wir am Rande des Bankrotts oder sogar des Zerfalls von Bosnien stehen. Dieses Land kann einfach so nicht länger weitermachen."
Doch das ewige Dilemma Bosnien-Herzegowinas ist: Jeder weiß, dass sich etwas ändern muss, doch weit und breit sind keine Akteure in Sicht, die das bewerkstelligen könnten oder wollten. Und so erwartet auch Srećko Latal nichts von den kommenden Wahlen, sondern setzt stattdessen seine Hoffnung auf ein Umdenken der internationalen Gemeinschaft und dabei insbesondere der EU, trotz Erweiterungsmüdigkeit.
Bosnien an einem Scheideweg
"Die internationale Gemeinschaft, die EU und besonders Deutschland als europäische Führungsnation, werden sich viel mehr engagieren müssen, nicht nur in Bosnien, sondern auf dem ganzen Balkan. Es wird viel mehr Geld auf den Tisch gelegt werden müssen: eine Kombination aus Hilfen für den Haushalt und Investitionen in Infrastrukturprojekte. An Bedingungen geknüpft, würde das die lokalen Politiker auch zwingen, die nötigen Reformen umzusetzen."
Und so steht Bosnien wieder einmal an einem Scheideweg:
"Wenn es internationalen Willen gibt, dann denke ich, dass Bosnien-Herzegowina wieder auf den EU-Pfad zurückgebracht werden könnte – und zwar relativ schnell und relativ billig."
Die Alternative aber, das Land weiterhin sich selbst zu überlassen, könnte weit teurer werden: Nicht nur für die Menschen in Bosnien, sondern auch für den Rest Europas.