Alle sollen sich zusammensetzen und, statt zu schießen, so lange sitzen bleiben müssen, bis sie sich geeinigt haben: Dieser Traum aller Kriegsopfer und Vertriebenen ist tatsächlich einmal wahr geworden: Am 1. November 1995 gingen die Präsidenten von Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kroatien im US-Bundesstaat Ohio in Klausur, um in Bosnien endlich Frieden zu schließen. Etwa 100.000 Tote, mehr als die Hälfte der Bevölkerung vertrieben und in der Hauptstadt Sarajevo die längste Belagerung des 20. Jahrhunderts - das war die Bilanz des größten europäischen Krieges seit 1945.
Die Idee für das Treffen von Dayton - und auch der Druck dahinter - kam von den Amerikanern unter Präsident Bill Clinton. Ein großer Auftrieb war es: Neben den drei Kriegsparteien schickten Amerikaner, Russen, Briten, Franzosen ihre Delegationen zum großen Friedenskonklave auf den unwirtlichen Luftwaffenstützpunkt nahe der Stadt Dayton. Auch eine deutsche Abordnung war dabei, angeführt von dem Diplomaten Wolfgang Ischinger, heute Chef der Münchner Sicherheitskonferenz.
"Ob es gelingen würde, daraus etwas zu basteln, was zum Frieden führen würde, war keineswegs klar. Wir hatten wirklich das Gefühl, wir betreten Neuland."
Unter der energischen Verhandlungsführung des US-Diplomaten Richard Holbrooke rangen dann drei dramatische Wochen lang der Bosnier Alija Izetbegović, der Serbe Slobodan Milošević und der Kroate Franjo Tudjman miteinander, bis endlich weißer Rauch aufstieg.
Man lernte einander gut kennen in dieser Zeit. Über den kroatischen Präsidenten etwa urteilt Wolfgang Ischinger rückblickend:
"Tudjman war verliebt in Gala-Uniformen und spielte nach meinem Eindruck wahnsinnig gerne den Staatschef, mit Prunk und Adjutanten und genoss es, zumindest formal auf einer Ebene mit anderen Staatsoberhäuptern zu stehen. Das hatte manchmal fast etwas Operettenhaftes."
Besonderen Respekt bei den Unterhändlern, nicht nur bei Ischinger, verdiente sich dagegen der Serbe Milošević, der gut zehn Jahre später als Untersuchungshäftling in seiner Zelle des Den Haager Kriegsverbrechertribunals starb.
"Milosevic war der Schlaue, sich selbst auch für sehr schlau haltende, eigentliche Akteur, der eigentliche Hauptakteur", der auch besonders weit über seinen Schatten sprang. Immer wieder drohte der Abbruch der Verhandlungen.
"Wir mussten eigentlich bis zum Schluss damit rechnen zu scheitern."
Der Versuch, Kanzler Kohl einzuschalten
Zum Ende dann spitzte sich alles auf die Zustimmung des bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović zu, der zögerte und zögerte. Als alles nichts mehr half, kam die Idee auf, den deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl einzuschalten, dem Izetbegovic besonders vertraute. Kohl aber war auf Staatsbesuch in Indien. Ein Telefonat mit Izetbegović erwies sich als nicht machbar. Schließlich erreichte Ischinger dann aber aus Kohls Delegation die Nachricht:
"Bitte einfach eine persönliche Botschaft vom Bundeskanzler übermitteln, die ich dann auch wörtlich versucht, habe so zu übermitteln, nämlich diesen Bismarckschen Gedanken: Wenn man den Mantel der Geschichte ergreifen kann, wenn der mal vorbeirauscht, dann muss man ihn packen. Das habe ich dem Zauderer Izetbegovic gegen Mitternacht versucht, möglichst eindringlich zu sagen: 'Das ist das, was Ihr Freund Kohl Ihnen als Rat gibt!' Am nächsten Morgen hat er dann zugeschlagen."
Das Experiment war gelungen. Am 21. November 1995 traten die drei Staatschefs gemeinsam mit Präsident Bill Clinton vor die Presse und verkündeten das Ergebnis. Bosnien sollte als Staat erhalten bleiben, alle Flüchtlinge sollten zurückkehren dürfen. Zugleich bekam das Land eine Verfassung, die es jeder der drei Volksgruppen erlaubt, die beiden anderen zu blockieren - eine Möglichkeit, von der bis heute so ausgiebig Gebrauch gemacht wird, dass das Nachkriegsland als Staat nicht funktioniert. Die Fehler, meint Wolfgang Ischinger, wurden nicht in Dayton gemacht, sondern danach, als wichtige Zeit vertan wurde:
"Die Beendigung des Kriegs ist noch lange nicht die Herstellung des Friedens. Die Beendigung des Kriegs ist die Einstellung der Feindseligkeiten mit Waffen. Dann sind aber die Häuser immer noch zerstört. Und dann gibt's die Schulen nicht mehr, und die Elektrizität stimmt nicht, und die Jobs sind nicht da, der Hass ist immer noch da. Die Lehre aus Bosnien lautet - die können Sie eins zu eins anwenden auf Kosovo, auf Somalia, auf Irak, auf Syrien, auf Afghanistan, auf viele andere heutige Konflikte: Die eigentlich schwierige Aufgabe fängt erst dann an, wenn die Waffen schweigen."