Wieder haben sich etwa 700 Menschen im Bosnischen Kulturzentrum versammelt, zum Bürgerplenum von Tuzla. Und das beginnt, wie immer, mit einer offenen Runde. Das heißt: Jeder kann nach vorne kommen, der irgendetwas loswerden möchte.
Und schon hat sich ein Mann das Mikrofon gegriffen.
"Ich bin kein Intellektueller", sagt er, nur ein einfacher Arbeiter, der seit zehn Jahren für seine Rechte kämpft. Auch er habe mit ansehen müssen, wie seine Firma von einem privaten Investor erst aufgekauft und dann einfach nur ausgeschlachtet wurde. Die Arbeiter hätten schon seit Monaten keinen Lohn mehr enthalten. Dann spricht er davon, dass man jetzt auch auf der Straße weiter Druck machen müsse, durch eine neue Großdemonstration. Und direkt im Anschluss dann wieder ein Plenum, diesmal aber direkt vor dem Regierungsgebäude.
Zuruf aus dem Publikum: Sollte man das Ganze aber nicht besser auf den späten Nachmittag verlegen, das heißt nach der Arbeitszeit?
"Wieso das denn", fragt der Redner zurück. "Hier hat doch sowieso keiner Arbeit." Gelächter, heftiges Klatschen, auch von Damir Arsenijevic. Er ist von Anfang an dabei, hat das Bürgerplenum von Tuzla mit ins Leben gerufen und dann erlebt, wie erst 30 Menschen in einem kleinen Raum zusammen kamen, dann 70, dann 200 – und jetzt sind es schon das zweite Mal hintereinander über 700.
"Das ist eine so großartige Entwicklung. Nach 25 Jahren öffnen die Menschen plötzlich ihre Augen. Es sind Kriegsveteranen, Studenten, Rentner, Arbeiter, Arbeitslose, und sie kommen alle zusammen und schaffen etwas so Unglaubliches und Wunderbares. Das, was hier passiert, ist so wichtig für Bosnien-Herzegowina. Und für die ganze Region."
Tatsächlich finden solche Bürgerversammlungen inzwischen in allen größeren Städten des Landes statt. Und überall das gleiche Bild: Manche treten einfach nur ans Mikrofon, um ihre eigene Geschichte zu erzählen; sie reden über ihre Probleme aus ihrem Alltag, von sozialem Abstieg, von Armut und ihren Erfahrungen mit Korruption. Manch andere bringen dagegen schon klare Forderungen mit. In Tuzla hat jeder hat zwei Minuten Redezeit, es gibt keinen offiziellen Sprecher, keine Führer und jedes Mal einen anderen Moderator.
"Ein Plenum ist direkte Demokratie. Die Menschen hier waren ins Private geflüchtet, weil sie gedacht haben, dass sie sowieso nichts machen können. Jetzt aber will plötzlich jeder sagen, was ihm auf der Seele liegt und was getan werde müsste. Ich selbst habe seit Tagen nicht wirklich geschlafen, ich habe geweint, gelacht – einfach weil es so beeindruckend war zu sehen, wie die Menschen hier wieder zusammen arbeiten."
Senkung der Politikerlöhne, Rücknahme der kriminellen Privatisierung von Staatsbetrieben, die Einrichtung einer Übergangsregierung mit parteilosen Experten – das sind nur einige der ersten Forderungen, die aus den Diskussionen hervorgegangen sind. In thematischen Arbeitsgruppen sollen nun weitere Vorschläge ausgearbeitet werden. Das letzte Wort aber hat dann wieder das Plenum, wie die Arbeiterin Emina Busuladzic betont.
"Das Plenum ist unsere Bewegung, unsere Kraft, unsere Macht. Wir sind diejenigen, die dieses Land gerechter machen müssen. Und wir geben das nicht mehr aus der Hand."
Am nächsten Tag steht sie wieder vor dem ausgebrannten Gebäude der Kantonsregierung. Hier hatte die gewaltsame Revolte angefangen, die sich schließlich auf fast alle größeren Städte Bosnien-Herzegowinas ausweitete.
Es ist eine Stimmung wie im vergangenen Sommer, als es in Bosnien schon einmal landesweite Demonstrationen gab. Aber es gibt einen Unterschied, meint Emina Busuladzic: Jetzt ist sie fest davon überzeugt, dass aus den Protesten wirklich etwas Neues entsteht.
"Wir haben gezeigt, dass wir stark sind, dass wir genügend Intelligenz haben und Ausdauer. Aber wir brauchen Zeit, wir gehen Schritt für Schritt. Wir können nicht kurzfristig ändern, was die ...
Und dabei zeigt sie auf das ausgebrannte Regierungsgebäude - was die in 30 Jahren systematisch kaputt gemacht haben.