Es ist eng im Marathon Sports, einem kleinen Sportladen an der Boylston Street in Boston. Mitten in der Menge steht Shane O'Hare. Er ist der Geschäftsführer und derzeit ein gefragter Mann. O'Hare hatte gerade einen Kunden beraten, als vor einem Jahr direkt vor seinem Laden die erste Bombe explodierte. "Ich werde mich immer daran erinnern, was ich hier gesehen und erlebt habe. Diese Bilder werde ich nie vergessen. Aber hier drinnen im Laden sieht alles wieder genauso aus wie vor der Explosion."
Der 43-Jährige kämpft mit den Tränen, wenn er an die dramatischen Szenen zurückdenkt. Er sucht durch das große Schaufenster immer wieder Halt an den vorbeifahrenden Autos auf der Boylston Street – findet ihn aber nicht. 1999 ist O'Hare bereits den Boston Marathon gelaufen – diesmal steht er wieder am Start. Für ihn ist es Vergangenheitsbewältigung und Ablenkung zugleich. "Ich brauche diesen Lauf. Ich will nicht morgens hier im Laden sein, sondern da draußen nach Boston 'reinlaufen und einen tollen Marathon beenden. Neben meiner Hochzeit und der Geburt meiner zwei Kinder wird das hoffentlich einer der besten Tage meines Lebens sein."
David Greene kennt Shane O'Hara nicht. Aber der 50-Jährige aus Jacksonville in Florida weiß, wie er sich fühlt. Greenes Start in Boston im Vorjahr sollte eigentlich sein einziger sein – doch jetzt ist er wieder hier. Der Extremsportler hat Läufe mit einer Distanz von mehr als 200 Kilometern bestritten. Doch egal, wie weit und wie oft er gelaufen ist, die Bilder von Boston sind immer noch in seinem Kopf. "Ich sehe nicht die Ziellinie, sondern ein Mädchen auf der Straße liegen, dem ein Bein fehlt. Ich hoffe, dass ich dieses Jahr die Ziellinie sehen werde. Wenn ich nur daran denke, werde ich emotional."
Greene ist am 15. April 2013 bereits eine Stunde im Ziel gewesen, als die Bomben explodieren. Er läuft umgehend zur Stelle der zweiten Detonation, sieht ein Mädchen mit abgerissenem Bein. Es ist Jane Richard, deren Bruder Martin das erste der drei Todesopfer wird. Greene will helfen, hat aber keinerlei Erfahrung. Er macht Platz für die Rettungskräfte und mit seinem Handy ein Foto – dies, so stellt sich später heraus, zeigt Dschochar Tsarnajew. Der jüngere der beiden vermutlichen Attentäter geht ruhig in eine Seitenstraße, während um ihn herum blanke Panik herrscht. Greene schickt das Foto ans FBI – es ist eines der klarsten Bilder, das der US-Inlandsgeheimdienst von Tsarnajew bekommt.
Wo sich vor zwölf Monaten schreckliche Szenen abspielten, herrscht jetzt eine Mischung aus Vorfreude und Anspannung. David Zucker verfolgt auf der Boylston Street zusammen mit seinem Kumpel Kevin Belanger die Aufbauarbeiten der Tribünen im Zielbereich. Vor einem Jahr wollten sie hier ihren ersten Marathon beenden, wurden aber einen Kilometer vorher von der Polizei gestoppt. Am Montag werden sie wieder laufen – diesmal hoffentlich bis ins Ziel. Bedenken, dass erneut etwas passieren könnte, gibt es beim 29-jährigen Zucker nicht. "Ich habe keine Angst, ich bin nervös, wie es wohl sein wird, wenn ich hier auf die Boylston Street einbiege. Es kann sein, dass ich eine Stunde für die letzten 500 Meter bis zum Ziel brauche. Ich kann mir noch gar nicht vorstellen, was das für ein Gefühl sein wird, die Massen an diesem Tag zu sehen."
Sein Kumpel Kevin sieht es ähnlich. Der 51-Jährige trägt seit dem 1. April täglich ein T-Shirt, Hemd oder Jacke mit der Aufschrift "Boston Strong". Seine Familie stand im Vorjahr 40 Meter neben jener Stelle, an der die zweite Bombe detonierte. Trotzdem wird sie diesmal wieder im Zielbereich sein und Kevin anfeuern. "Angst gibt es nicht, die hat es hier schon zehn Minuten nach den Anschlägen nicht mehr gegeben. Ich denke, es wird ein großartiges Gefühl, dabei zu sein, wenn wir Geschichte schreiben - für das Rennen, die Stadt und das Land."
Knapp 36.000 Läuferinnen und Läufer sind diesmal dabei, 9.000 mehr als im Vorjahr. Die Anzahl von Polizei und Sicherheitskräften ist verdoppelt worden. Renndirektor Dave McGillivray hat betont, dass Boston der "sicherste Platz der Welt sein werde". Die Veranstalter rechnen mit einer Million Zuschauern. Die meisten werden auf dem letzten Kilometer erwartet. Uta Pippig kennt das Gefühl, hier längst zu laufen. Die Leipzigerin hat Mitte der Neunziger dreimal nacheinander in Boston gewonnen, spricht von ihrem "liebsten Kind", wenn sie über diesen Marathon redet.
"Die Gänsehaut geht dann los, indem man an der Fire station dann oben nach links in die Boylston, in den sogenannten home stretch rennt. Und dann sieht man schon ganz weit hinten dann das blaue Ziel des Boston Marathons und die Menschen lieben ihren Marathon so sehr, die lieben jeden Läufer und die Unterstützung ist einfach grandios." Doch genau hier sind im Vorjahr die Bomben explodiert. Aus dem Jubel wurden Hilfeschreie. Drei Menschen starben, 264 wurden verletzt, 16 mussten Gliedmaßen amputiert werden. Und deshalb erwartet Pippig diesmal, bei der 118. Auflage des ältesten Städtemarathons der Welt, eine ganz besondere Atmosphäre.
"Ich glaube, es wird sehr viel Zusammenhalt, Wir-Gefühl da sein. Es wird sehr viel Verständnis füreinander da sein, sehr viel Liebe füreinander da sein. Aber auch Freude, Bestimmtheit und den Glauben, das eben dieser Friede nach wie vor existiert, den wir haben, die Freiheit. Da ist auch ein bisschen amerikanischer Stolz dann doch dabei." Ryan Hall ist Amerikaner und seit Jahren der beste Marathonläufer des Landes. 2009 ist er in Boston Dritter geworden. Hall zählt zum erweiterten Favoritenkreis – und weiß, wie historisch ausgerechnet diesmal ein Sieg eines Amerikaners wäre.
"If an american would win this years race, it would be the biggest win arguably in US marathon history in my mind." Es wäre, so Hall, wohl der größte Erfolg in der US Marathon-Geschichte.