Ab heute geht es buchstäblich um Leben oder Tod für Dschochar Tsarnajew - denn die Geschworenen im Prozess gegen den Boston-Attentäter müssen nun darüber entscheiden, wie sie ihn bestrafen wollen. Schuldig ist er, das hat die erste Phase des Verfahrens gegen Tsarnajew ergeben. Aber hingerichtet sollte er nicht werden - sagt die Verteidigung.
Beim Versuch, Tsarnajew vor der Todesstrafe zu retten, argumentiert seine Anwältin Judy Clark, dass er unter dem Einfluss seines radikalisierten Bruders Tamerlan stand, der auf der Flucht von der Polizei angeschossen und dann von seinem Bruder überfahren wurde. Wörtlich sagt sei: Ohne Tamerlan wäre das alles nicht passiert, berichtet der Sender C-Span.
Auch Opfer-Angehörige fordern Verzicht auf Todesstrafe
Tatsächlich haben sogar die Eltern eines der Opfer die Staatsanwaltschaft aufgefordert, nicht auf die Todesstrafe zu bestehen. Bill und Denise Richard, deren achtjähriger Sohn bei dem Anschlag getötet wurde, zweifeln aber nicht an der vollen Schuld des Angeklagten. Sie wollen nur, dass das Verfahren gegen Dschochar Tsarnajew schnell zu Ende kommt - ohne jahrelange Berufungsverfahren, die bei einer Verurteilung zum Tode drohen. In einem Brief an die Lokalzeitung - im US-Fernsehen vorgelesen - argumentieren sie: "So lange der Angeklagte im Scheinwerferlicht steht, müssen wir damit leben, dass seine Sicht der Dinge erzählt wird, nicht unsere. Sobald er aber nicht mehr in der Zeitung steht und im Fernsehen zu sehen ist, können wir beginnen, unser Leben und unsere Familie wieder aufzubauen." Deshalb sei lebenslange Haft für Tsarnajew besser. Doch das sehen längst nicht alle so, es gibt auch Hinterbliebene, die die Todesstrafe verlangen - und wenn der Sender C-Span seine Zuschauer in ganz Amerika auffordert, ihre Meinung zu sagen, gibt es eine klare Mehrheit, die fordert, Tsarnajew hinzurichten.
Gleichzeitig ist es aber so, dass bei denjenigen, die am meisten Betroffen waren von den Anschlägen - die Menschen in Boston und Umgebung nämlich - eine Mehrheit gegen die Todesstrafe ist. Fast zwei Drittel von ihnen wollen Tsarnajew lieber lebenslang im Gefängnis sehen als hingerichtet, sagt Steve Koczela vom Umfrageinstitut MassInc Polling Group, der die Umfrage für den Bostoner Sender WBUR durchgeführt hat: "Im Laufe der letzten Monate ist die Zustimmung zu 'lebenslanger Haft' um etwa zehn Prozent gestiegen. Ich hätte gedacht, dass es mehr Zustimmung zur Todesstrafe geben würde, weil es ja hier passiert ist - aber so war es nicht."
Todesstrafe in Massachussetts eigentlich abgeschafft
Das könnte damit zusammenhängen, dass es in Massachusetts eigentlich keine Todesstrafe gibt: Der Bundesstaat hat sie abgeschafft, es ist fast 70 Jahre her, dass dort jemand hingerichtet wurde. Dass Tsarnajew trotzdem zum Tode verurteilt werden könnte, liegt daran, dass er vor einem Bundesgericht steht, das in Boston tagt, nicht vor einem Staatsgericht - und auf Bundesebene gibt es die Todesstrafe sehr wohl. Trotzdem könnten die Geschworenen sich schwerer damit tun, jemanden zum Tode zu verurteilen, als beispielsweise Geschworene in Texas oder Kalifornien, wo regelmäßig Menschen exekutiert werden.
Die endgültige Entscheidung wird auf sich warten lassen, das Gericht hat auf Anfrage mitgeteilt, dass die Urteilsfindung wohl mehrere Wochen dauern wird. Nur eines wissen wir jetzt schon: Dschochar Tsarnajew wird nie wieder auf freien Fuß kommen - er wird entweder zum Tode verurteilt werden, oder zu lebenslänglicher Haft - weniger ist angesichts der Verbrechen, derer er schuldig gesprochen wurde, nicht möglich.