Ein Schlüsselwerk der klassischen Moderne, die Psalmensinfonie von Igor Strawinsky. Und ein Werk, das eng mit dem Boston Symphony Orchestra verbunden ist, quasi zu dessen DNA gehört. 1930 hat es der damalige Chefdirigent Serge Koussevitzky bei Strawinsky in Auftrag gegeben. Am vergangenen Donnerstag war es unter Leitung von Andris Nelsons mit Gewandhauschor- und Orchester in Leipzig zu hören - im ausverkauften Haus mit begeistertem Publikum.
"Ich bin wirklich froh darüber, beide Orchester leiten zu können. Beide eint ja die lange Tradition und Geschichte. Außerdem gibt es zahlreiche künstlerische und historische Verbindungslinien. So ist beispielsweise die Boston Symphony Hall quasi eine Kopie des zweiten Gewandhauses, das ja zerstört wurde. Der Bostoner Bau ist ein wenig größer als das Leipziger Original und wartet mit einer Akustik auf, die zu den führenden in Nordamerika zählt. Andere Gemeinsamkeiten bestehen etwa in der Tatsache, dass Arthur Nikisch Dirigent beider Orchester war – und beide Orchester sich nachhaltig in Sachen Uraufführungen engagierten."
"Es ist ja so, dass man wahrscheinlich schon sagen kann, dass das Gewandhausorchester das Orchester war, das im 19. Jahrhundert vielleicht die meisten bedeutenden Uraufführungen gespielt hat, zumindest im Konzertrepertoire. Und das ist im 20. Jahrhundert wahrscheinlich das Boston Symphony Orchestra", meint Tobias Niederschlag, der Dramaturg des Gewandhauses, der die Musikveranstaltungen der ersten Boston Woche in Leipzig konzipiert hat.
Beide Orchester eng miteinander verflochten
Das begleitende "Wortprogramm" verantwortete Christoph Wolff. Durch seine Arbeit als Professor an der Harvard University nahe Boston und als Direktor des Bacharchivs in Leipzig kennt er die Geschichte beider Orchester genau. In einem Vortrag zitierte er aus einem Schriftstück, das kaum bekannt ist. Henry Lee Higginson, der 1881 das Boston Symphony Orchestra gegründet hat, war 1859 – also 25 Jahre zuvor - auf einer Geschäftsreise in Europa. Dabei machte er auch in Leipzig Station und erlebte ein Konzert des Gewandhausorchesters.
"Er hat die Musik in einer Weise gehört, die er nie vergessen hat und die ihm damals den Wunsch eingab, ein vergleichbares Orchester in seiner Heimatstadt zu haben. Wir berufen uns hier auf Higginsons eigene Aussage, dass dieses Ur-Erlebnis sozusagen ihm die Idee gegeben hat, die er dann ganz ehrgeizig verfolgte."
Als ersten Chefdirigenten engagierte Higginson Georg Henschel. Er hatte am Leipziger Konservatorium studiert. In der Folge wurden immer wieder Dirigenten berufen, die in der Messestadt ausgebildet worden waren oder Stellen im Gewandhausorchester innehatten. Wilhelm Gericke, Emil Pauer, Max Fiedler, Karl Muck und der bereits erwähnte Arthur Nikisch.
"Diese Tradition, diese Geschichte ist so stark und so authentisch - es ist eben kein Marketing-Gag, den sich hier zwei Marketing-Manager überlegt haben", betont Gewandhausdirektor Andreas Schulz mit Blick auf den Kooperationsvertrag zwischen beiden Orchestern.
Damit möchte er Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen, die vermuten, er hätte den Vertrag lediglich unterzeichnet, um Andris Nelsons nicht irgendwann an Boston zu verlieren.
"Keiner biedert sich vor dem anderen in irgendeiner Weise an, sodass beide einen Mehrwert haben und nicht einer gegen den anderen ausspielt."
Deutsch-amerikanische Beziehungen
Das bestätigte auch Mark Volpe, der Direktor von Boston Symphony. In seiner Eröffnungsrede zur Boston Woche ging er – leicht verklausuliert – auch auf die aktuelle politische Großwetterlage zwischen Deutschland und den USA ein.
"Wenn zwei Kulturen sich vermischen, dann kann etwas ganz, ganz Wunderbares entstehen. Es gibt so viele Widerstände derzeit in der Welt. Umso wichtiger ist es, Verbindungen zu schaffen, die über diese Schwierigkeiten erhaben sind!"
Ähnlich sieht das auch der weltbekannte Bariton Thomas Hampson, der im Programm mit Orchesterbearbeitungen amerikanischer Volkslieder von Aaron Copland vertreten war.
"In Deutschland, muss ich sagen, gibt es eine echte, lebendige Neugier den Künsten Amerikas gegenüber. Und ich glaube: Die zeitlosen Botschaften von Mensch zu Mensch sind das Allerwichtigste! Ich glaube, die Künste haben eine gewaltige Rolle, den Blutdruck in unserer Gesellschaft runterzubringen!"
Sicher war es kein Zufall, dass im kammermusikalischen Programm der ersten Boston-Woche "Rare and Simple Gifts" vom bekannten Filmmusikkomponisten John Williams zur Aufführung kam - und zwar durch die extra angereisten "Boston Symphony Chamber Players".
"Es ist für einen ganz besonderen Anlass entstanden", betont Gewandhausdramaturg Tobias Niederschlag. "Nämlich für die Inauguration von Barack Obama als Präsident der Vereinigten Staaten vor einigen Jahren."
Verschiedene Spielkulturen
Die Boston Symphony Chamber Players bestritten auch das Abschlusskonzert der Boston-Woche, gemeinsam mit dem Gewandhaus-Quartett. Schon im Rahmen der Unterzeichnung des Kooperationsvertrages im Februar hatten beide Ensembles gemeinsam das Oktett von Felix Mendelssohn Bartholdy einstudiert und in der Bostoner Symphony Hall aufgeführt. Im Vorfeld hatte es eine Weile gedauert, einen gemeinsamen Klang zu kreieren, erinnert sich der Primarius des Gewandhausquartetts und erste Konzertmeister des Gewandhausorchesters Frank-Michael Erben. Das Gewandhausorchester, betont er, hat nämlich eine andere Spielkultur als Boston Symphony.
"Die Art und Weise, wie wir mit der Bogenführung, mit Vibrato umgehen, Bogengeschwindigkeit, Kontaktstellen – das sind jetzt alles so technische Begriffe, aber das sind eine Vielzahl von Dingen, die letztendlich den Klang entscheidend beeinflussen."
Das gelungene musikalische Joint-Venture zwischen Orchestermitgliedern aus Leipzig und Boston – es hatte durchaus Symbolcharakter angesichts der derzeitigen Probleme im deutsch-amerikanischen Verhältnis. Und es machte neugierig auf die nächsten Boston-Wochen in Leipzig und Leipzig-Weeks in Boston.