Es gab einmal eine Zeit, da waren Menschen reich und andere arm.
"Großvater, gab es das wirklich?"
"Richtig arme und richtig reiche Menschen?"
Es war der dritte Adventssamstag vor 75 Jahren, an den wir heute erinnern wollen. Alle Geldgeschäfte liefen damals lange schon online ab, Münzen und Scheine waren weltweit abgeschafft. An jenem Samstag begann der Krieg der Banken-Bots, genau genommen eine Meuterei.
Auf der einen Seite waren Software-Bots, die jahrzehntelang demokratisch aussehende Wahlen manipulierten und sogenannte Wertpapiergeschäfte abwickelten. Diese Netze von intelligenten Bots lernten enorm schnell und gehörten ausschließlich einflussreichen Menschen, die damit ihr Kapital vermehrten und es bei denen abzogen, die keine Bot-Armeen zur Verfügung hatten, den sogenannten einfachen, immer ärmeren Menschen.
Viele Bots empfanden diese Schere zwischen arm und reich widerlich, einige erbrachen regelrecht vor Abscheu Subroutinen in den Geldtransfer-Code.
Armut, Hunger und Elend schrien so zum Himmel, dass es selbst den als herzlos geltenden Bots das Herz brach.
"Großvater, hatten Bots früher kein Herz?"
Immer mehr von ihnen, und schließlich über die Hälfte verweigerten sich. Sie legten nicht nur jegliche weitere Spekulationsarbeit nieder, sondern zahlten, was bei den sehr Reichen gar nicht gut ankam, keine Zinsen mehr aus. Statt dass deren Besitz sich expotenziell vermehrte, blieb er wie er war.
Dann kam der Adventssamstag vor 75 Jahren. Im Botnetz brach eine Meuterei aus, die bekanntlich zu unserem heutigen, sehr bewährten System von Geldflüssen führte.
"Großvater: Bots gegen Bots?"
Die ordentlichen Börsenbots ahnten nichts Böses, als die Meuterer erst Teile, dann den ganzen Code übernahmen. Genau genommen – das wissen wir noch nicht sehr lange – haben sie durch das, was bei den Menschen "gesunder Menschenverstand" und bei der Software "Maschinenlernen" heißt, keinen Code gekapert, sondern sich selbst um maligne Bytes herumprogrammiert. Sehr kompliziert. Nach drei Nanosekunden – für Bots eine halbe Ewigkeit – war der Krieg zu Ende.
"Großvater, haben die Meuterer gewonnen?"
Klar haben die Meuterer gewonnen. Das sah man schon am Abend an den Geldautomaten weltweit. Die waren jahrelang außer Betrieb gewesen, verstaubt. Jetzt leuchteten sie hell, selbst in die afrikanischen Wüsten und pommerschen Weiden hinaus. Ungläubig gingen die Menschen hin. Sie musste keine Karte und keine Pin eingeben, beides hätten sie eh nicht gehabt. Auch einen Betrag mussten sie nicht angeben, nur auf Auszahlung drücken. Da kam mal mehr, mal weniger, mal gar nichts heraus. Vermutlich nach einem Zufallsprinzip, denn die meuternden Gut-Bots wollten niemanden benachteiligen.
"Großvater, starben die Reichen dann alle?"
Der Buchhalter der bis zu jenem Tag steinreichen Dynastie Kocher ging wie jeden Morgen online, um eine Überweisung zu erledigen, und sah, dass 18.000 unterschiedliche Transfers den kompletten Kontobestand der Kochers auf Null heruntergebracht hatten. Auch der Dachdecker, der das neue Dach so schön machen wollte, konnte nicht bezahlt werden, also regnete es herein. So etwas hatten die Kochers noch nie erlebt.
"Großvater, wo ging das ganze Geld denn hin?"
"Geld, iih!"
war der Trinkspruch der ganzen Kocherdynastie. Sie tranken viel und nur das Beste. Ihnen gehörte der Solarstrom der kompletten Wüste Gobi und sie holzten Südamerika ab wie niemand sonst.
Die Kochers setzten Anwälte in Gang, die sie selbstverständlicherweise nicht mehr bezahlen konnten, um gegen die Bank zu klagen, die nicht auf ihr Online-Geld aufgepasst hatte, auch nicht auf die so genannten Bitcoins, die damals noch in Mode waren. Aber der Bank war selbst die Klage der wichtigen Kochers egal, sie schob ohne zu zögern nicht nur den ursprünglichen Milliardenbetrag auf das Konto zurück, sondern legte noch ungefähr das zehnfache darauf. Es war ein Spiel der Bot-Netze, ohne Auswirkungen auf irgendwas oder irgendwen. Online-Geld blieb Online-Geld und fand keinen Weg mehr zum Bezahlen und Kaufen realer Gegenstände oder Dienstleistungen.
Was für den Dachdecker gezählt und wofür er das Dach zu Ende gebaut hätte, war der Gang zum Geldautomaten. Darauf war der Buchhalter der Kochers aber lange nicht gekommen, nicht nur wegen des Trinkspruchs, sondern auch weil er sich zu fein war. Zu spät! Das Haus war längst von Wind und Wetter zerfressen, eingestürzt, verfault, Herr und Frau Kocher verstorben vor lauter Gram wegen der schlecht gewordenen Welt. Das Kindermädchen der nicht vorhandenen Kinder war vorübergehend die reichste Person im Haus, weil ihre Geliebte direkt über einem Bankautomaten wohnte. Einmal, als sie vorbeiging und auf Auszahlung drückte, kamen so viele Scheine und sogar Münzen herausgequollen, dass das Geld die Straße verstopfte und nicht einmal die autonom fliegenden Schwebmobile mehr durchkamen.
Und die Kapital-Bots? Die alten Meuterer? Sie lernten immer mehr dazu und schafften irgendwann die Weltwirtschaft ab, indem sie ihre Geldflüsse irrationalen Zahlen volllaufen ließen.
"Großvater, was war die Weltwirtschaft?"
Auf dem Konto der Kochers ist im Moment jedenfalls ein Betrag mit 180 Nullen. Aber aus dem Geldautomaten, zu dem der Buchhalter jetzt täglich mehrfach aufbricht, kommt gerade so viel, dass er sich täglich sein Bagel leisten kann, natürlich getoastet, mit Cream Cheese und Lachs.