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Kölner Forum für Journalismuskritik
Botschaft der Nowaja Gaseta Europe

Die Nowaja Gaseta ist eines der wichtigsten kritischen Medien in Russland. Die Redaktion um Friedensnobelpreisträger Dimitri Muratov war eigentlich immer unter staatlichem Druck, erst recht seit Beginn des Kriegs in der Ukraine. Zum "Kölner Forum für Journalismuskritik" hat die Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion eine Botschaft der neuen Nowaja Gaseta Europe erreicht.

Blick in die Redaktionsräume der Novaja Gaseta im Jahr 2020.
Blick in die Redaktionsräume der Novaja Gaseta im Jahr 2020. (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
Die Nowaja Gaseta galt lange als die letzte unabhängige Stimme in der russischen Presse. Mehrere ihrer Redaktionsmitglieder wurden offenkundig aus politischen Gründen ermordet. So etwa 2006 die Putin-Kritikerin Anna Poliktowskaja, die über den Tschetschenienkrieg recherchiert hatte. Im vergangenen Jahr erhielt der Gründer und Chefredakteur Dimitri Muratov den Friedensnobelpreis, gemeinsam mit der philippinischen Journalistin Maria Ressa.
Nach der Invasion in die Ukraine und auch nach einer ersten Verschärfung der Mediengesetze erschien die Nowaja Gaseta weiter. Die Redaktion verzichtete damals auf Begriffe wie 'Krieg' oder 'Besatzung'. Ende März stellte die Zeitung ihren Betrieb in Russland dann doch ein. Seit dem 20. April wird aus dem Exil die Webseite Nowaja Gaseta Europe publiziert. Mit einem leitenden Redakteur der Zeitung hat sich für unsere Veranstaltung eine russische Kollegin unterhalten. Beider Namen nennen wir aus Gründen der Vorsicht nicht. Hier einige der Aussagen des Kollegen der Nowaja Gaseta Europe, gerichtet an das Publikum des Kölner Forums für Journalismuskritik und vorgetragen von Deutschlandfunk-Chefsprecher Gerd Daaßen.

"Um fünf Uhr morgens erschien Putin im TV"

"Wir haben ab dem ersten Tag angefangen über den Krieg zu berichten. Wir hatten erwartet, dass der Krieg beginnen konnte, und deswegen beschlossen, die Nachtschicht vom 23. auf den 24. Februar zu besetzen. Mitten in der Nacht war die Gewissheit da, dass etwas passiert. Wir haben auf den Satellitenbildern vom Flightradar gesehen, dass es kein einziges Flugzeug über der Ukraine gibt, außer amerikanischen Beobachtungsfliegern. Und dass es in den Grenzgebieten Russlands mitten in der Nacht aus irgendeinem Grund Staus auf Google Maps gibt: auf den Hauptrouten, die in die Ukraine führen. Wir haben deshalb beschlossen, bis zum Morgen zu bleiben. Um fünf Uhr morgens erschien Putin im TV.“

"Ja, wir mussten am 28. März mit der Arbeit aufhören. Das heißt, vom 24. Februar bis 28. März konnten wir arbeiten. Fast sofort, Ende Februar, erhielten wir einen Brief des Verteidigungsministeriums. Er ist in einer schrecklichen Sprache ungefähr so geschrieben: `Einige russische Medien, insbesondere die Nowaja Gaseta, verbreiten Fälschungen von bekifften ukrainischen Nationalisten, und es ist Zeit für Sie, dieses Geschäft zu stoppen.´ Wir lachten, aber dann waren diese Kriegsgesetze schon am Horizont sichtbar. Wir hatten keine Ahnung, wie schnell sie beschlossen werden würden. Deswegen schrieben wir weiter so, wie früher. Dann wurden rasch Gesetze zur Militärzensur verabschiedet: bis zu 15 Jahre Haft wegen Diskreditierung des Russischen Militärs. Dies war der erste Moment, in dem wir dachten, dass wir präventiv schließen müssten, weil wir große Angst hatten, dass wir als Geiseln genommen würden.“

"Wir entschieden, dass es besser sei, die Arbeit einzustellen."

"Damals haben wir zum Beispiel einen Ausweg gefunden, dass wir nicht schreiben würden, wer die Stadt oder das Theater von Mariupol bombardiert hat, selbst wenn die ganze Welt es ahnen konnte. Wir schrieben, dass unter dem Raketenbeschuss dieses und jenes Gebäude getroffen wurde, und in der nächsten Zeile schreiben wir: Das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation erklärt, dass es nur militärische Einrichtungen beschießt."

"So haben wir bis zum 28. März gearbeitet, und dann haben wir zwei Mahnungen von der Medienaufsicht Roskomnadzor erhalten. Die dritte hätte den Entzug der Lizenz bedeutet, die Unmöglichkeit, jemals wieder eine gedruckte Zeitung herauszugeben. Wir entschieden, dass es besser sei, die Arbeit einzustellen und nach anderen Auswegen zu suchen. Es ist mir wichtig zu sagen, dass Nowaja Gaseta Europe erschienen ist. Wir haben einen Nachrichtendienst auf Englisch gestartet. Wir wollen einen Nachrichtendienst schaffen, der frei von Missverständnissen inländischer russischer Nuancen ist, wie es bei westlichen Journalisten oft der Fall ist. Abonniert und lest es, bitte. Vielleicht starten wir bald auf Deutsch.“

Zweifel an Umfragen zur Kriegszustimmung in Russland

"Im Westen, in der deutschen Presse, stoße ich oft auf Hinweise auf Umfragen, dass die Mehrheit der Russen den Krieg unterstützt. Es ist aber sehr wichtig, die Essenz der russischen Soziologie zu verstehen: Sie basiert auf Angst. Wenn dich eine Person aus einem Meinungsumfragezentrum anruft, die deine Telefonnummer kennt, dann verstehst du schon unbewusst, dass die Person weiß, wo du wohnst, wie man zu dir kommen und die Tür aufbrechen kann. Du wirst schon einen loyalen Standpunkt vertreten, denn du willst nicht in einem Gefängnis landen. Und in Russland ist es sehr einfach, in einem Gefängnis zu landen.

"Alle Versuche, die Russen durch Sanktionsdruck zum Protestieren zu zwingen, sind zum Scheitern verurteilt"

"Angst bestimmt heute weitgehend die russische Gesellschaft. Man sollte den Menschen wohl nicht vorwerfen, dass sie immer noch in dem Sinne untätig sind, wie es europäische Journalisten gewohnt sind, Proteste zu sehen. Und europäische Sanktionen, die nicht darauf abzielen, Gaslieferungen zu verbieten, sondern darauf, das Leben der Russen weniger komfortabel zu machen, tragen nicht dazu bei, die Gesellschaft von der Angst zu befreien. Sie richten sich eher an die Bevölkerung, die bereits Proteststimmungen hatte."
"Aber diejenigen, die nur eine Frage haben: "Wie kann ich überleben?", sind europäische Journalisten, europäische Sanktionen und überhaupt die gesamte westliche zivilisierte Welt absolut egal. Sie wollen überleben, weil sie in ihren Regionen so 150 bis 300 Euro monatlich bekommen und versuchen, davon zu leben. Sie haben noch nie in ihrem Leben einen Reisepass gesehen, weil sie dafür etwa 50 Euro Gebühr zahlen müssen von einem monatlichen Gehalt von 150 Euro. Sie werden die Welt außerhalb Russlands nie sehen. Daher sind alle Versuche, die Russen durch Sanktionsdruck zum Protestieren zu zwingen, zum Scheitern verurteilt.“