Im Haus von Jean-Marcel Nartz gibt es eine Treppe, die zurück führt in "die schöne Zeit", wie der langjährige Technische Direktor unterschiedlicher Boxställe sagt. Fast 30 Jahre lang hatte der 72-Jährige bei fast jedem größeren Boxkampf in Deutschland seine Finger im Spiel. Nun führt er Besucher gerne hinunter in sein kleines Privatmuseum, wo Ankündigungsplakate zu den großen Kämpfen hängen. Neben signierten Erinnerungsfotos, Boxhandschuhen und Vitrinen voller Trophäen.
In der Welt von heute fristet der Boxsport in Deutschland dagegen ein eher trostloses Dasein. "Es ist 25 Jahre her, dass Henry Maske Weltmeister wurde", sagt Nartz. "Das ist alles der Schnee von gestern und Schnee von heute gibt es nicht."
"Entscheidend für den Aufschwung war die Wende"
Hier unten in dem Keller weht noch der Geist der goldenen Zeit, als sich über 19 Millionen Menschen vor dem Fernseher versammelten, um Axel Schulz gegen Frans Botha boxen zu sehen. Als es permanent neue deutsche Helden gab: Sven Ottke, Gracciano Rocchigiani, Markus Beyer, Torsten May, Dariusz Michalszewski oder Henry Maske. Mitte der 2000er Jahre war der Zenit erreicht, 20 Weltmeister verdienten ihr Geld in Deutschland, an fast jedem Wochenende gab es opulente TV-Übertragungen.
In der Ära, in der auch das Frauenboxen mit Regina Halmich seine eigene Ikone hatte, überwiesen ARD, RTL und ZDF jedes Jahr zweistellige Millionensummen an die Boxställe. Jetzt zeigen der MDR, der RBB und Sport1 die Kämpfe, die in 2000-Zuschauer-Hallen in der Provinz stattfinden. An eine Renaissance der alten Erfolge glaubt Jean-Marcel Nartz nicht. Die guten Jahre waren auch die Folge einer historischen Besonderheit.
"Entscheidend für den Aufschwung in Deutschland", so Nartz, "war natürlich die Wende, weil in der DDR Boxen einen ganz anderen Stellenwert hatte als in der BRD. Und die Wende ist fast 30 Jahre her, also können wir da auch nicht mehr drauf zurückgreifen. Damals gab es diese Talente, ob sie Rüdiger und Torsten May hießen, ob Axel Schulz, Henry Maske oder Markus Bayer, das sind alles Dinge, die wir nicht mehr haben."
Investoren haben sich zurückgezogen
Doch das ist nur ein Grund für die Probleme der Gegenwart. Das Geld hat sich aus dem deutschen Boxsport zurückgezogen. Die TV-Sender investieren nicht mehr und die Zeit, in der die beiden legendären Promoter Wilfried Sauerland und sein ewiger Rivale Klaus-Peter Kohl mit seinem Universum-Boxstall ihr Privatvermögen ins Boxen steckten, ist lange vorbei.
Der ehemalige Weltmeister Sven Ottke wirkt im Gespräch mit "welt.de" geradezu verzweifelt, wenn er die Situation beschreibt: "Man muss schon sagen, dass der Boxsport sich immer mehr aus dem Fokus verabschiedet, wir haben nicht mehr so viele Helden, und deswegen ist es irgendwo fast schade. Ach, auch die jungen Sportler werden sofort rein geschmissen ins heiße Feuer, müssen sofort um Titel Boxen, haben keine Zeit mehr sich aufzubauen, das ist sehr schwierig gerade. Dann geht es zu schnell gegen die harten Jungs, und dann kriegen sie warme Ohren."
Zu wenig Geduld und Geld für Aufbauarbeit
Es mangelt an Geduld, die Promoter stehen unter Druck. Die Investition in eine mehrjährige behutsame Aufbauarbeit kann und will sich kaum noch jemand leisten, sagt der Boxjournalist Bertram Job: "Man merkt schon, dass eine gewisse Ungeduld da ist, die Promoter möchten schneller an den Return on Investment kommen, also dann werden 12, 13, 14 relativ leichte Gegner bestellt, und der 15. Kampf soll dann schon spätestens die WM sein. Und dann kommt aber jemand, der ein ganz anderes Kaliber mitbringt, und da erschrecken sich auch manche Leute während des Kampfes."
Ein paar talentierte Kämpfer gibt zwar auch jetzt, Tyron Zeuge, Leon Bauer, Abass Baraou, Agit Kabayel, die Brüder Robert und Artem Harutyunyan und einige mehr. Jenseits des Fachpublikums sind diese Namen aber kaum bekannt. Und dass nicht einmal mehr Experten das Gewirr unterschiedlichster Titel von immer neuen Verbänden durchschauen, trägt auch nicht dazu bei, neues Interesse zu wecken.
Entscheidend seien an dieser Stelle die Promoter, sagt Journalist Bertram Job: "Die Promoter müssten aufeinander zugehen, mehr Kooperationen machen und nicht immer nur versuchen, ihre kleinen Veranstaltungen zu Weltklasseevents hochzujazzen. Dass das nicht immer so funktioniert, merkt mittlerweile auch jeder. Im Grunde genommen ist es ja nicht schlimm, wenn das auf einer bescheideneren Ebene stattfindet."
Konkurrenz durch andere Kampfsportarten
Dass die deutschen Promoter sich immer eher als Konkurrenten gesehen haben und kaum einmal gemeinsam an der langfristigen Entwicklung ihrer Sportart arbeiten wollten, ist ein weiterer Grund für den Abschwung. Der in den Augen von Jean Marcel Nartz aber auch Ursachen hat, die ganz woanders liegen. Immer mehr Kampfsportfans wenden sich neuen, spektakuläreren, weniger reglementierten Wettbewerben zu.
"Die Gesellschaft ist ja brutaler geworden", so Nartz, "und dieses K1 und diese Käfigkämpfe und das alles, die ja auch teilweise so brutal geführt werden, dass es Tote gibt, diese Sensationslust, die scheinbar in den Menschen steckt, ich glaube dass diese Brutalität die Leute anzieht."
Im Boxen achten die Kampfrichter nach verschiedenen Unfällen vermehrt darauf, dass Kämpfe im Zweifel abgebrochen werden. Jene Teile des Publikums, die eher auf Spektakel und Gewalt aus sind als auf Taktik und von komplizierten Regeln gelenkte Wettkämpfe finden immer mehr andere Angebote. Am kommenden Wochenende findet eine große Mixed Martial Arts Veranstaltung in einer Berliner 17.000-Zuschauer-Arena statt. Vor einer Menge, von der die deutschen Boxer derzeit nut träumen können.