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Boxing Day 2004
Der Tag, der die Tsunamiforschung veränderte

Am Zweiten Weihnachtstag vor zehn Jahren löste ein gewaltiges Erdbeben im Indischen Ozean eine Reihe von verheerenden Tsunamiwellen aus - den sogenannten Boxing-Day-Tsunami. Mehr als 230.000 Menschen starben. Obwohl es anders möglich gewesen wäre, traf die meisten die Katastrophe ohne Vorwarnung. Seitdem hat sich vieles verbessert, aber längst nicht alle Lehren wurden gezogen.

Von Dagmar Röhrlich |
    Ein Warnschild mit dem Hinweis Tsunami Evacuation Route.
    Ein thailändisches Hinweisschild zur Evakuierung bei einem Tsunami. (Deutschlandradio / Ellen Wilke)
    Kurz nach dem schweren Erdbeben vor der Küste Sumatras gab das pazifische Tsunamiwarnzentrum ein Bulletin heraus: Im Indischen Ozean droht ein Tsunami. Mangels Daten waren nähere Berechnungen unmöglich. Die Warnung lief jedoch ohnehin ins Leere, denn rund um den Indischen Ozean gab es niemanden, der sie hätte in Empfang nehmen können. Charitha Pattiarachi von der University of Western Australia in Crawley:
    "Vor 2004 war die Tsunamiforschung ein kleines Feld. Das hat sich geändert. Auch ist weltweit die Instrumentierung inzwischen so gut, dass wir Seebeben und Veränderungen im Meeresspiegel sehr viel besser erfassen und damit bessere Vorhersagen machen können. "
    So arbeitet dank deutscher Hilfe auch im Indischen Ozean ein Warnsystem. Inzwischen wird jeder Tsunami in Echtzeit beobachtet und analysiert. Die Daten von GPS-Stationen, Gezeitenpegeln oder Sensoren für Druckveränderungen am Meeresboden per Satellit in die Warnzentren übertragen. Sie fließen in automatisierte Berechnungen ein, die mithilfe einer Datenbank aus mehr als 2000 echten Ereignissen unterfüttert werden. Vasily Titov vom National Oceanic and Atmospheric Administration Center for Tsunami Research:
    "Wie wir durch den Boxing-Day-Tsunami gelernt haben, spielen für unsere Berechnungen auch untermeerische Gebirge eine wichtige Rolle. Wir wissen nun, dass sie Tsunamiwellen reflektieren und brechen, sie umlenken oder verstärken können. Deshalb sind manchmal später einlaufende Tsunamiwellen sogar höher als die ersten."
    Das erhöht den Zeitraum, in dem die Wellen gefährlich werden, erklärt Vasily Titov. Auch diese Erkenntnis fließt in moderne Vorhersagen ein.
    Berechnung der Welle dauert noch zu lange
    Am Ziel sind die Forscher jedoch nicht. So geben die Warnzentren zwar binnen Minuten ein erstes Bulletin zur allgemeinen Gefährdung heraus. Die Berechnung der Karten, wann die Wellen mit welcher Höhe wo eintreffen, dauert jedoch noch eine Stunde. Angepeilt sind fünf Minuten. Außerdem ist die Qualität der Karten regional unterschiedlich.
    Der Grund: Hochauflösende Daten über Meeresboden und Küste gelten in manchen Staaten rund um den Indischen Ozean als sicherheitsrelevant, bleiben unter Verschluss, erklärt Eddie Bernard, Emeritus vom National Oceanic and Atmospheric Administration Center in Seattle:
    "Wir haben deshalb eine Technologie entwickelt, bei der die Regierungsbehörden ein Computermodell herunterladen und selbst mit den von ihnen als sensibel angesehenen Daten durchlaufen lassen können. Sie behalten ihre sensiblen Daten, und wir bekommen die Vorhersage. Aus der lassen sich dann keine Details zu den Meereskarten mehr ablesen. Wir haben also eine technologische Lösung für ein politisches Problem."
    Trotz aller Fortschritte bereite ein Faktor immer noch Sorgen: der Faktor Mensch, erläutert Costas Synolakis von der University of Southern California in Los Angeles und erzählt von einem Tsunami, der 2010 nach einem Beben vor Chile die Küste Kaliforniens traf:
    "Wir haben ein Video vom Santa-Monica-Pier in Los Angeles. Der Tsunami trifft um 13 Uhr ein. Man sieht, wie sich das Meer innerhalb von Minuten sehr weit zurückzieht. Trotzdem wird der Strand nicht geschlossen. Die Menschen laufen sogar zum Wasser, um zu sehen, was da passiert. Das ist genau das falsche Verhalten, das Verhalten, durch das 2004 viele Menschen in Thailand starben."
    Weil Warnsysteme zu langsam sein oder ausfallen können, gebe es nur ein richtiges Verhalten: Sobald sich das Meer ungewöhnlich verhalte - sofort in höher gelegene Gebiete fliehen.
    Tödliche Verwirrung, wenn zwei Katastrophen zusammentreffen
    "Ich möchte Ihnen noch ein anderes Beispiel geben, aus Japan, dem am besten auf Tsunamis vorbereiteten Land der Welt. Eine Grundschule in Sendai beim Tohoku-Beben 2011. Die Schüler hatten gelernt, das Gebäude bei einem Erdbeben zu verlassen. Dann ging der Tsunamialarm los. Alle begaben sich, wie vorgesehen, in den zweiten Stock der Schule. Wegen eines Nachbebens gingen die Schüler wieder hinaus. Dann ertönten wieder die Tsunami-Sirenen. Diesmal kehrte nur die Hälfte der Schüler ins Gebäude zurück. Die, die draußen blieben, starben."
    Weil niemals beide Situationen gemeinsam geprobt worden seien, habe es eine tödliche Verwirrung geben können, erklärt Costas Synolakis - allen Warnsystemen zum Trotz.