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"Boykott mit Völkerfreundschaft"

Heute vor 25 Jahren glühten die Telefon- und Telegrafendrähte zwischen den Sportchefs beider deutscher Staaten. Wenige Wochen nachdem sich die Sowjetunion - und in der Folge auch die DDR - für einen Boykott der Olympischen Sommerspiele in Los Angeles entschieden hatten, versuchten Sportfunktionäre in Ost und West zu retten, was nicht mehr zu retten war. Ein Rückblick auf den heißen Frühsommer der Jahres 1984.

Von Jens Weinreich |
    Am 29. Mai 1984 schickte Willi Daume, Präsident des NOK-West, ein Fernschreiben an Manfred Ewald, den Präsidenten des NOK-Ost. Daume erinnerte Ewald an ihr Gespräch vier Jahre zuvor in Bonn, unmittelbar nachdem das bundesdeutsche NOK unter politischem Druck für einen Boykott der Sommerspiele in Moskau gestimmt hatte. Daume bat Ewald in dieser neuerlichen kritischen Situation um einen Gegenbesuch in Ost-Berlin. Denn eines war allen Beteiligten damals, in der Hoch-Zeit des Kalten Krieges klar: Eine weitere Verschärfung der Lage würde das Ende der Olympischen Spiele bedeuten. Es galt sofort, also noch knapp zwei Monate vor den Sommerspielen in Los Angeles, die Ende Juli begannen, Maßnahmen zu ergreifen, um die Teilnahme des Ostblocks an den Spielen 1988 wieder zu gewährleisten.

    Am 30. Mai 1984 schickte Egon Krenz, damals im SED-Politbüro für Sport zuständig, Daumes Fernschreiben weiter an Staats- und Parteichef Erich Honecker. Am 1. Juni unterschrieb Honecker mit seinen Initialen "EH" und dem Wort "einverstanden": Ewald durfte sich mit Daume treffen.

    Drei Wochen zuvor hatte zunächst das NOK der Sowjetunion seine "Nicht-Teilnahme" - so hieß das damals im Osten - an den Spielen in Los Angeles verkündet. Kurz darauf meldete auch Radio DDR:

    "Das Nationale Olympische Komitee der DDR hat in Verantwortung für den Schutz der Ehre, der Würde und des Lebens der Sportler entschieden, nicht an den Spielen der XXIII. Olympiade 1984 in Los Angeles teilzunehmen. Wie in einer heute beschlossenen Erklärung festgestellt wird, schufen die ständige politische Einmischung der USA-Administration in die Vorbereitung der Olympischen Spiele sowie die wiederholten Verletzungen der Olympischen Charta seitens der Organisatoren seit langem ernsthafte Gefahren für die Teilnahme der DDR-Sportler."

    Das NOK der DDR hat natürlich gar nichts entschieden. Es war eine politische Entscheidung, die in Moskau im Politbüro der KPdSU gefällt wurde - ein Jahr bevor Gorbatschow an die Macht kam und das "Neue Denken" kreierte. In Moskau waren kurz zuvor mit Breschnew und Andropow zwei greise Generalsekretäre verstorben. Der dritte Greis, Tschernenko, war frisch im Amt. Das DDR-Politbüro hatte den Anweisungen der Russen zu folgen. Das DDR-NOK musste pro forma abnicken, was auf politischer Ebene schon seit Anfang April feststand. An dieser NOK-Versammlung nahm NOK-Chef und DTSB-Präsident Manfred Ewald gar nicht teil, denn er war sofort nach Moskau geflogen, um mit dem dortigen Sportchef Marat Gramow zu reden, einem Hardliner, der sogar Ewald übertraf.

    Eine öffentliche Debatte über diesen Boykott hat es in der DDR nie gegeben, nur eine hinter den Kulissen - und in den Nischen der Nischengesellschaft.

    Ewald, damals schon schwer alkoholkrank, sah sich um sein Lebenswerk gebracht. Diese Sommerspiele sollten eigentlich seine Krönungsmesse werden. Kurz zuvor hatte die DDR bei den Winterspielen in Sarajevo erstmals Rang eins in der Nationenwertung belegt. Ewalds Planungen waren so angelegt, dass rund 300 DDR-Athleten sogar in der Höhle des Löwen, in Los Angeles, die Amerikaner übertrumpfen sollten. Nach zweiten Plätzen 1976 in Montreal und bei den Boykottspielen 1980 in Moskau jeweils hinter der Sowjetunion, sollte die DDR Rang eins bei den Sommerspielen einnehmen.

    Man war auf dem besten Wege dorthin, wie 1983 beispielsweise zwei Leichtathletik-Wettbewerbe bewiesen: Beim Länderkampf in Los Angeles, gewissermaßen dem Olympiatest, gewann die DDR gegen die Amerikaner. Und bei der ersten Leichtathletik-WM in Helsinki holte die DDR die meisten Medaillen. In einer Studie des DDR-Leichtathletikverbandes hieß es schon Ende 1983: "Die USA sind politischer und sportlicher Hauptgegner der DDR-Mannschaft."

    Die DDR maß sich mit Weltmächten.

    Wie Volker Kluge, damaliger Sprecher des DDR-NOK, gerade der "FAZ" anvertraute, hatte Ewald kurzzeitig noch den kühnen Plan, eine Mini-Mannschaft nach Los Angeles zu schicken: 40 Top-Athleten sollten 40 Goldmedaillen gewinnen. Doch daraus wurde nichts.

    In Gesprächen mit Willi Daume, am 6. Juni, und mit IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch, am 2. Juli 1984 in Lausanne, blieb Ewald in der Sache ein harter Klassenkämpfer, wie die Protokolle beweisen - er hielt sich jedoch immer ein Hintertürchen offen. Denn einen weiteren Olympiaboykott 1988 wollte er mit allen Mitteln verhindern. Das wollten auch Daume und Samaranch, die von einer "Wiedervereinigung der Olympischen Spiele auf Dauer" sprachen. Wenngleich Daume, der Samaranch hasste und der wegen des bundesdeutschen Boykotts vier Jahre zuvor um eine größere Chance gebracht wurde, IOC-Präsident zu werden, dem Spanier eine Hauptschuld an der Lage zusprach - jedenfalls in Treffen mit Manfred Ewald.

    In der Folgezeit traf sich IOC-Vizepräsident Berthold Beitz mehrfach mit Erich Honecker, noch vor der IOC-Session im Juni 1985 in Ost-Berlin, auf der die Weichen gestellt wurden für eine Art olympische Wiedervereinigung, und auf der Erich Honecker olympischer Ordensträger wurde.

    Doch im Sommer 1984 blieb es beim Boykott. Aus dem Ostblock nahmen nur Rumänien und Jugoslawien an den Sommerspielen teil. Für DDR und Sowjetunion wurden die "Spiele der Freundschaft" als Ersatz-Olympiade an verschiedenen Orten organisiert. In manchen Sportarten waren auch andere Wettbewerbe das Olympia-Äquivalent: in der Leichtathletik war es der Olympische Tag in Ost-Berlin, im Rudern die Rotsee-Regatta in Luzern.

    Die DDR-Sportler erhielten ihre Olympia-Einkleidung und ihre Prämien, so als wären sie in Los Angeles gestartet. Im August, kaum war in Los Angeles das olympische Feuer verloschen, unternahmen die ersten DDR-Sportler ihre Auszeichnungsreise nach Kuba. Der Name des Schiffes war ein Hohn auf die politische Instrumentalisierung des Sports in jenen Jahren: "MS Völkerfreundschaft".