Hasan sitzt in einem Café in Kadiköy auf der asiatischen Seite Istanbuls. Der 23-Jährige studiert an der Istanbul Universität Kommunikationswissenschaften. Nächstes Jahr ist er fertig, dann würde er gerne als Journalist arbeiten. Doch in der Türkei sieht er, genauso wie viele seiner Studienkollegen, keine Zukunft:
"Für Journalisten ist dieses Land nicht sicher. Wenn wir etwas gegen die Regierung schreiben, können wir einfach ins Gefängnis kommen. Und deshalb schrecken viele Journalisten davor zurück, etwas Schlechtes über die Regierung oder Erdogan zu schreiben. Wir fühlen uns nicht frei und nicht sicher. Deshalb sehen wir hier keine Zukunft."
Zum Studium ins Ausland
Doch nicht nur Journalisten kehren der Türkei den Rücken zu. Der Deutsche Akademische Austauschdienst verzeichnet ein sprunghaft gestiegenes Interesse aus der Türkei. Auch Absolventen türkischer Eliteschulen entscheiden sich noch häufiger als sonst für ein Studium im Ausland. Bülent Mengüc ist Dekan der Fakultät für Betriebswirtschaft an der Istanbuler Kadir-Has-Universität. Er kann Menschen wie Hasan aber nicht verstehen:
"Wir Türken reden uns viele Probleme ein. Warum sehe ich denn diese Probleme nicht? 20 Jahre habe ich im Ausland gearbeitet. In mehreren Ländern. An die Kadir-Has-Universität bin ich vom Londoner Kings College gekommen. Warum nehme ich diesen Druck nicht wahr? Ich bin doch auch türkischer Staatsbürger."
Alles nur Einstellungssache? - Nein! Ganz so weit möchte Dimitri Triantaphyllou, Leiter des Center for International and European Studies an der Kadir-Has-Universität in Istanbul, nicht gehen. Aber auch er meint, was neuerdings als Braindrain bezeichnet werde, sei eigentlich schon immer da gewesen. Junge Leute wollten nun einmal die Welt entdecken. Allerdings mit einem Unterschied:
"Du machst im Ausland dein Magisterexamen oder deine Doktorarbeit und versuchst damit in deiner Heimat einen Job zu finden. Das hat sich geändert. Wer jetzt im Ausland studiert, kommt nicht zurück."
So sei es auch ihm gegangen. Vor zehn Jahren kam der gebürtige Grieche in die Türkei und blieb dort. So wie er hätten es viele Griechen gemacht, was dem Begriff Braindrain dort wirklich eine dramatische Bedeutung gegeben habe:
"Ich habe Statistiken gelesen, denen zufolge haben während der Wirtschaftskrise in den letzten sieben oder acht Jahren fast eine Million Griechen ihre Heimat verlassen. Bei einer Gesamtbevölkerung von weniger als elf Millionen sind das sehr viele."
Interesse an Deutschkursen gestiegen
Ob vergleichbar viele gut gebildete Menschen die Türkei verlassen werden, ist derzeit nicht abzusehen. Jedoch ist das Interesse groß. Die vier Niederlassungen des Goethe-Instituts in der Türkei müssen zwei von drei Interessenten für einen Sprachkurs abweisen. Deutschkurse sind gefragter denn je. Dabei, so meint der Dekan der Kadir-Has-Universität, Bülent Mengüc, stellten sich viele türkische Akademiker das Leben im Ausland einfacher vor, als es ist:
"Hätte ich in all den Ländern, in denen ich war, nicht viermal so viel gearbeitet wie die einheimischen Kollegen, hätte ich wohl kaum Professor werden können. Als Türke oder als Ausländer an sich hat man Probleme. Ich habe zum Beispiel in einem EU-Land gearbeitet. Und wurde dort diskriminiert, weil ich Türke bin."
Auf in den Westen
Trotz solcher Bedenken wollen Student Hasan und seine Kommilitonen die Türkei verlassen, sobald sie ihren Abschluss haben. Es sollte ein westliches Land sein, meint Hasan:
"Am liebsten nach Kanada, Deutschland, die Niederlande oder Frankreich. Allerdings sind nach der Flüchtlingskrise rechte Parteien auch in Westeuropa populär geworden. Möglicherweise würden wir dort mit Rassismus konfrontiert. Aber wir werden sehen."
Hasans Vertrauen ist jedenfalls so groß, dass er schon mal einen Deutschkurs belegt hat. Was er sagen wird, wenn es mit einem Studienplatz in Deutschland klappen sollte, hat er schon gelernt:
"Danke schön."
In der türkischen Öffentlichkeit ist der Braindrain noch kein großes Thema. Staatliche Stellen verzichten bisher gerne auf Arbeitskräfte, die sich mit den Ansichten der Regierung nicht identifizieren können. Erste leise Bedenken sind aber aus der Wirtschaft zu hören. Denn während die einheimischen Kräfte das Land verlassen, kommen umgekehrt kaum noch ausländische Fachkräfte in die Türkei.