Bei offenen Fenstern sitzen die Sechstklässler der Sonnengrundschule an den Gruppentischchen - und sprechen über müllschluckende Roboter.
"Ihr habt doch einen Roboter hier, wollt ihr mal was dazu erzählen?"
Es ist Nachhaltigkeits-Projektwoche an der Sonnen-Grundschule in Neukölln, Celine und ihre Mitschülerinnen haben aus Plastikmüll kleine Roboter gebastelt, die selbst Müll fressen.
"Die sollen dann auch Plastik essen und wir sollen ihre Lebensgeschichte schreiben."
In der Klasse hat es knapp 30 Grad, es ist die sechste Stunde – trotzdem geht es relativ ruhig zu, keiner macht Randale, niemand stört. An der Sonnenschule ist das ist das nicht immer so, erzählt Schulleiterin Karoline Pocko Moukoury, während sie über die Schulflure in ihr Büro führt. Sie habe momentan sehr viele Kinder in den Klassen, die Probleme haben, sich zu beherrschen, die den Unterricht, gelinde gesagt, verkomplizieren.
"Nackenklatsche, Ellbogen, Flaschen werfen. Oder die ganze Zeit durch die Klasse rennen, auch mal raus, Tür auf, Tür zu. Bis dann endlich jemand ausrastet. Aber wenn das Kind dann jemand an der Seite hätte, der sagt, du willst jetzt stressen, komm mal raus, wir gucken mal, ob wir etwas anders machen könnten ja dann würde es gehen."
Diese Inklusionshelfer habe sie aber nicht – jedenfalls nicht genügend sagt, Pocko Moukoury. Gemeinsam mit fünf anderen Grundschulen in Berlin Neukölln hat sie vor einigen Wochen einen Brandbrief an die Berliner Schulsenatorin geschickt. Der Tenor: Wir sind überfordert, überlastet, wir schaffen es nicht mit der Inklusion.
"Wir haben das Personal nicht, und es ist ganz klar, wenn ich ein Kind hab mit einer Lernbehinderung und ein Kind, das aufs Gymnasium gehen wird, dann hab ich die in einer Klasse, ich habe eine heterogene Schülerschaft von bestimmt zehn verschiedenen Leistungsniveaus. Ich bin allein im Unterricht. Das kann nicht funktionieren."
Viele Kinder mit besonderem Förderbedarf
Einfach war es an den Schulen im Berliner Bezirk Neukölln noch nie, sagt Pocko Moukoury. 90 Prozent der Kinder an ihrer Schule haben einen Migrationshintergrund, viele sind Flüchtlingskinder, die kaum Deutsch sprechen, wenn sie in die Sonnenschule kommen.
"Die sind vielleicht nicht in der Kita gewesen, die müssen beigebracht bekommen, was ein roter Stift ist, was eine Schere ist, wie ich versuche, mich zu konzentrieren. Das ist Basisarbeit, Unterrichtsbefähigung, aber kein Unterricht. Ich fange nicht an mit Schwungübungen und der Wortschatz ist bekannt.
In diesem Schuljahr ist nun auch noch die Inklusion dazu gekommen. Pocko-Moukoury geht kurz in sich, zählt zusammen, wie viele Kinder mit "besonderem Förderbedarf" sie an der Schule hat. Sie kommt auf 50 von 330 Schülern. In jeder Klasse habe sie nun Kinder mit Lernbehinderungen oder emotional-sozialer Störungen. "Em-Soz", sagt sie in ihrer Pädagogensprache dazu. Ein Schüler reiche da schon aus, um den Unterricht komplett zu sprengen.
"Weil die Wut schon zu groß ist, vielleicht auch von zuhause, oder sonstige Erlebnisse, viele kennen da keinen verbalen Konfliktlösungsweg - der wird dann mit uns erarbeitet - aber da wird zugeschlagen, dann wird auch drauf getreten, das gibt es hier - kann ich nicht wegleugnen."
Krasse Einzelfälle? Oder doch eher Alltag an den Berliner Schulen? Marcel Luthe, der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus wollte wissen wie groß allein das Gewaltproblem an Berliner Schulen ist. Und hat den Senat um konkrete Zahlen zu gebeten. Lange Zeit vergeblich.
"Die Senatsverwaltungen haben viele Jahre gemauert und wollten keine Zahlen zu den Kriminalitätsstatistiken rausrücken. Ich hab daraufhin intensiv mich mit dem Statistiksystem der Polizei beschäftigt und festgestellt, dass es sehr wohl geht, wenn man nach den Adressen fragt."
Luthe musste am Verfassungsgerichtshof des Landes klagen um an die Daten zu kommen. Und die fallen deutlich aus. Die Zahlen, die ihm nun vorliegen, sind höher als jene, die der Senat nennt. Etwa 7200 Gewaltdelikte wurden an Adressen von Schulen angezeigt, der Senat gab 5500 an. Und: Die Gewalt an Berliner Schulen hat zwischen 2014 und 2017 zugenommen.
"Es gibt einen Anstieg um 15 Prozent der Straftaten an Schulen generell. Und darüber hinaus gibt es einen Anstieg um 20 Prozent bei den Gewaltdelikten. Im Vergleich in Berlin allgemein haben sie einen Anstieg um etwa drei Prozent im gleichen Zeitraum. Das Klima an den Schulen ist also deutlich aggressiver geworden in den letzten Jahren."
Es fehlen Lehrer
Die Senatsverwaltung für Bildung hält diese Zahlen nicht für aussagekräftig und viel zu hoch. Die Auswertung der Polizeistatistik gebe lediglich die Anzahl der Straftaten im Umfeld der Schulen wider, sagt Sprecherin Beate Stoffers. Und auch die Klagen der Neuköllner Brennpunktschulen kann sie nur bedingt nachvollziehen.
"Die Überforderung hört man ja seit Jahren. Wir sehen, dass es anstrengend ist, aber deshalb bekommen Grundschullehrer ab dem nächsten Schuljahr auch 500 Euro mehr - im Monat! Wir geben Verwaltungsleiterstunden rein, wir bauen die Jugendsozialarbeit sukzessive aus. Wir sehen sehr wohl, dass das hochbelastete Kieze sind, dass es schwierig ist, Elternarbeit zu machen. Wir wollen nicht kleinreden, dass es schwierig ist, aber wir helfen auch mit Instrumenten, um das eben abzufangen."
Tatsächlich sind die Klassen in Berlin Neukölln kleiner als in allen anderen Berliner Bezirken, maximal 19 Schüler werden gemeinsam unterrichtet, Brennpunktschulen wie der Sonnen-Grundschule in Neukölln stehen außerdem Ermäßigungsstunden, Integrationsstunden und bis zu 100 000 Euro aus einem Bonusprogramm zu.
An der Sonnengrundschule ist die siebte Stunde gerade zu Ende gegangen, die meisten Kinder machen sich auf den Heimweg. Schulleiterin Pocko-Moukoury fertigt noch einen Sechstklässler ab, der sich ungerecht behandelt fühlt.
Die Schulleiterin streitet gar nicht ab, dass es für ihre Schüler mit Sprach-, oder Lern- oder Verhaltensproblemen besondere Hilfen gibt. Nur: Entweder bekomme sie die Leute dafür nicht, oder sie kompensieren gerade einmal die krankgeschriebenen regulären Lehrkräfte. Acht von 30 fehlen momentan, die meisten fallen für längere Zeit aus, weil sie mit den Bedingungen nicht mehr klar kommen.
"Meine Kollegen arbeiten zwischen elf und 13 Stunden, das kann auf Dauer nicht ausgehalten werden. Weil es ihnen wichtig ist, den Unterricht effektiv zu gestalten und nebenbei diese ganzen Formalitäten zu erledigen. Die letzten Lehrkräfte brechen mir gerade weg und haben massive Schlafstörungen, weil es nicht mehr zu bewältigen ist."