Eine eigene Sprache erfinden und sich mit Geschichten retten: Das ist es, was die kleine Frau mit der Knubbelnase aus ihren bitteren Jugendjahren mitgenommen hat - neben den chronisch kranken, halbblinden Augen und so mancher anderen Narbe. Kaum den Gefängnissen entkommen, entdeckt Mariella Mehr mit 28 die Welt der Randständigen neu: als Journalistin. "Ob das Psychiatriepatientinnen waren, ob das Knastis waren, ich hab mich eigentlich immer nur an die Ränder rangemacht und daraus die große Lehre gezogen, daß die Ränder eigentlich die Mitte sind."
Aus dieser Mitte kommt auch Mehrs literarisches Schaffen. Im Debütroman "Steinzeit", der 1981 erschien, dampft sie ihre eigene Vergangenheit auf 200 Seiten Stammeln, Schmerz und Schock ein. In "Zeus oder Der Zwillingston" schildert sie die Grausamkeiten der Schweizer Irrenhäuser in einer Farce; und im preisgekrönten Roman "DasKind" von 1995 leiht sie einem verstummten und gequälten Pflegekind eine klirrende, künstliche Stimme. Die ist so kühl, so grausam und ohne Mitleid wie das verstörte Mädchen selbst, das mit seiner Schleuder erst Amseln und dann seine Peiniger totschießt. Der Weg vom Opfer zum Täter interessiert die Autorin auch in ihrem jüngsten Buch, dem Roman "Brandzauber." Ein Zigeunerhürli und eine Judensau - so werden die beiden Anstaltskinder Anna und Franziska oft beschimpft - geraten mitten in der feindlichen Umgebung in eine Art sadomasochistischen Rausch. "Ich habe mich immer mit Gewalt beschäftigt: Wie entsteht Gewalt, wie reagiert man auf Gewalt, wie gibt man Gewalt zurück. Und heute bin ich natürlich an dem Punkt, an dem ich mich damit beschäftige, wie werden aus Opfer Täter? Wie geschieht das. Die letzten drei Bücher, die ich geschrieben habe, sowohl ‘Zeus’ als auch ‘DasKind’ und ‘Brandzauber’, die beschäftigen sich ja nur mit dieser Frage. Das sind ja alles Opfer, aus denen Täter werden."DasKind", ‘Brandzauber’ und das Stück, an dem ich jetzt dran bin, ‘Edelweiß und Cherubim’, das soll ja eine Art Trilogie geben, die sich nur mit Gewalt und Gegenwalt auseinandersetzt."
Erlittene Gewalt, ausgeübte Gewalt, stillschweigend tolerierte Gewalt: Mariella Mehr hat in ihrem Leben alle drei Formen erlebt und meint, daß sie sich erst später von dem Thema lösen kann und lösen wird. Zu lange hat sie in den unfreundlichen Ecken des helvetischen Idylls hausen müssen. "Diese Franziska, die hieß tatsächlich Franziska. Sie war mit mir in einer Anstalt, und bevor ich überhaupt zu schreiben begann - da hat man in der Schweiz noch gar nicht vom Holocaust-Geld und der Flüchtlingspolitik gesprochen - habe ich jahrelang nach ihr gesucht. Weil ich plötzlich irgendwann das Gefühl hatte, ich muß das Mädchen finden. Ich hab sie nicht gefunden. Ich weiß nicht, ob sie sich umgebracht hat; ich kann mir das vorstellen. Vielleicht ist sie auch nach Israel ausgewandert. Sie war jedenfalls ein Mädchen, das noch im letzten Moment - so hat sie mir das selber erzählt - einfach über den Schlagbaum geworfen wurde von ihrem Vater. Sie hat die ganze Familie verloren. Sie selbst wurde, weil niemand, weil keine Pflegeeltern zur Hand waren, die sie wollten - sie hatte Schorf und war ein häßliches Mädchen -, ist sie dann einfach in Kinderheimen untergebracht wurden. Und zufällig in Anstalten, wo auch jenische Kinder waren. Und so habe ich sie dann kennengelernt."
Eine Jüdin auf der Flucht vor den Nazis und eine Zigeunerin, die nirgendwohin mehr flüchten kann: Durch Mariella Mehrs Welten, durch die christlichen Mädcheninternate mit den omnipräsenten Kreuzen an den Wänden weht ein kalter Wind; und Liebe heißt hier Tod. Anna, die Jenische, wird Franziska in einer ihrer liebenden Umklammerungen töten; sie wird sie von diesem gequälten Dasein befreien. Jahrzehntelang überlebt Anna diesen Mord irgendwie; und schließlich arbeitet sie als Pflegerin in einem Kurhotel. Unangreifbar hat sie sich eingesargt in einem Glashaus voll fleischfressender Pflanzen, die sie in ihren Mußestunden mit Hingabe beobachtet. Sie ist selbst eine Karnivore; sie nimmt sich den Pfleger, wenn sie Lust hat, kämpft mit ihm, besiegt ihn zwischen ihren Beinen und spuckt ihn wieder aus. Die Handlanger ihres Mordens sind nicht, wie in "DasKind", Steinschleudern, selbstgebastelte Waffen, sondern harmlose Kreaturen der Natur: Pflanzen. So schildert Mariella Mehr die Mordlust dieser Geschöpfe: "Sie hatte die überhängende Außenwand des Kruges erklommen und roch die süße Ausdünstung der Nektardrüsen. Ihr Körper vibrierte. Zu spät merkte sie, daß das scheinbar leblose Gebilde ihre Schritte lenkte. Bewimperte Flügelleisten hatten sie zum glatten Kannenrand geleitet, wo ein rotgerippter Rand mit nach innen gebogenen Widerhaken die Jagd übernahm. Mit hastigen Rückwärtsschritten versuchte sie, den Sperrwulst zu überwinden. Bald umfing sie die Wärme, verführerisch glänzte die todbringende Flüssigkeit. Schon verklebte ihr der Nektar die Atemwege. Über der Ameise schloss sich der regenbogenfarbene Deckel mit den langen, durchscheinenden Fenstern, die dem Opfer bis zum Schluß die Illusion vorgaukelten, es gäbe einen Fluchtweg. Die Verdauungsdrüsen der Jägerin begannen zu arbeiten."
Das ist der erste Tod in diesem Buch, der Tod einer Ameise. Es ist ein kleiner und doch monströser Tod. Es ist ein Tod, der an die Zeiten erinnert, als Anna noch Amseln kreuzigte. Damals suchte das kleine Mädchen die dünne Haut des Tiers zwischen den Federkielen, klemmte sie zwischen Daumen und Zeigefinger und trieb mit dem letzten Hammerschlag einen Nagel durch das panisch klopfende Vogelherz. Die Autorin mit dem verschmitzten Lachen schreckt vor der Erbarmlosigkeit der Opfer nicht zurück. Sondern sie macht sich eine ebenso erbarmungslos klare und einfache Sprache zurecht, um genau davon zu erzählen. "Es war auch ein Wunsch von mir oder ein Versuch, eine grausame Geschichte auf einem ganz einfachen sprachlichen Level zu bringen", so Mehr. "Wie das halt im Leben geschieht, wo einen gerade die einfache Sprache davon abhält, die Grausamkeit des Lebens zu schauen."
Aber gerade in dieser Einfachheit liegt eine beherrschte Ästhetik des Schmerzes und der Gewalt; eine Karnivoren-Ästhetik. Eine Kindersprache ist das nicht, genausowenig wie eine Kinderperspektive, ganz gleich, was uns der Text zuweilen glauben machen mag. Anna erinnert sich: "Vom Töten müde sang ich ihr ein Lied. Ich sang, mit Franziskas Blut auf meiner Haut, Leib auf Leib, die Hände auf Franziskas ausgestreckten Händen, die Beine um Franziskas Beine geschlungen. Meine Hände tasteten nach den Nägeln in ihrem Fleisch. Mein Herz schlug im Rhythmus des Blutes, das aus Fraziskas Herzen strömte. Die Tränen verwirrten mich. Ich weinte und sang und wiegte den Körper, der mir in den Händen fremd zu werden begann. An por e kale ruvesko dikhav aver charana. e cara hamske isi e bare chonutesa. korkorutne peren e farbe diveske mamujal lendar. Doch Franziska hörte mich nicht mehr."
Anna singt eine Totenklage und gleichzeitig eine Klage über die verlorene Identität. Das Lied auf Romanés handelt vom Mond, der vom Rauhreif gefressen wurde, und von den Sternen, die im Bauch des großen Wolfes verschwunden sind. "Roma, Rom, das ist eigentlich der Begriff für alle Zigeuner - das Roma-Volk. Das spaltet sich auf in fast 24 Stämme, glaube ich; ich kenne auch nicht alle. Ein Stamm davon sind die Jenischen, ein anderer die Lovari, die Sinto, die Calderasch und so weiter. Die reden ganz verschiedene Roma-Dialekte. Und davon ist das Jenische den Sprachen seiner Gastländer am nächsten. Die optimale Entwicklung, um Kultur, Sprache zu erhalten, auch die Familienstruktur, ist der Kampf um den Respekt der Gastländern. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Aber es ist ganz klar, daß die Zeiten so sind, daß die Jenischen in ein, zwei Jahren so diskrimiert werden, wie sie vorher diskrimiert wurden. Und dann kommt noch dazu, daß die Schweiz etwas ganz Gescheites gemacht hat: Sie unterscheidet zwischen fahrenden Jenischen und zwischen nicht-fahrenden Jenischen. Die werden boshafterweise Beton-Jenische genannt. Die Fahrenden, die werden jetzt gehätschelt. Denen stellt man auch Plätze zur Verfügung, man versucht das ganze Patentwesen zu ändern zu ihren Gunsten. Aber man muß sich klar sein, daß von der Mehrzahl der 35000 Jenischen in der Schweiz vielleicht noch etwa 1000 fahren. Alles andere ist Übertreibung. Und für die restlichen 34000 macht kein Mensch etwas. Und die hätten ja eigentlich Hilfe nötig in der Identitätsfindung, beruflich, auch wirtschaftlich und so weiter. Für die wird überhaupt nichts getan."
Mariella Mehr versteht sich nicht nur auf dicht - manchmal allzu dicht - geflochtene Texturen voller Leitmotive; wie im Roman "Brandzauber" etwa das Kreuz, das Feuer oder der Vogel. Sondern sie setzt sich auch politisch für die Belange Benachteiligter ein. Zum Beispiel für Asylsuchende oder eben – für Zigeuner. Dafür mußte sie auch schon bitter bezahlen. In den letzten Jahren vor ihrem Umzug nach Italien 1996 wurde sie in der Schweiz dreimal überfallen. "Einmal wurde ich aus dem Zug geschmissen, einmal wurde ich öffentlich von einer Frau verprügelt, die behauptet hat, Hitler hätte vergessen, mich zu vergasen, einmal wurde ich von zwei Typen in einen Hauseingang gezerrt und mit Stiefeltritten traktiert - das klingt so kitschig - aber es war so."
Unter den Folgen des Rauswurfs aus dem Zug hat die Schriftstellerin heute noch zu leiden. Aber die Täter, die die Autorin mit dem Namen ansprachen, bevor sie sie herausschleuderten, wurden nie gefaßt. Und einen öffentlichen Protest seitens des Schriftstellerverbandes hat es nicht gegeben. Es ist fast so, als ob Mariella Mehr, seit sie Erfolg hat, nicht mehr als jenische Schriftstellerin wahr genommen wird. Zu ihrer Einladung in Frankfurt meint sie: "Das finde ich das Lustige. Ich werde als Schweizer Schriftstellerin eingeladen. Kein Mensch denkt dran, daß ich eine Roma-Schriftstellerin bin, die lange Zeit in der Schweiz gelebt hat. Nein, die Romas wurden völlig vergessen. Deshalb auch dieser Versuch mit dem Drawa-Verlag. Das ist mein Gedichtband, den Raikod Juridz, also der Präsident der internationalen Roma-Vereinigung, übersetzt hat, der auf der Buchmesse rauskommt, um wenigstens einen kleinen Akzent zu setzen auf die Roma-Literatur in der Schweiz."
Aber den hat Mariella Mehr auch mit ihrem Roman "Brandzauber" auf unüberhörbare Weise gesetzt. So wie sie sich das Schimpfwort Zigeuner zurückerobert hat als einen Teil ihrer Identität, hat sie sich in "Brandzauber" einen Spiegel der Vergangenheit erschrieben - ohne Sentimentalität, ohne schwerblütige Autobiographismen. Einen kristallklaren Spiegel der Verkrümmungen auf dem Weg durch das "enge Tal" Schweiz.