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Brasilien - Aufstieg eines BRICS-Staates

Brasilien gehört wegen seines Ressourcenreichtums zu den wirtschaftlich aufstrebenden BRICS-Ländern - Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika. Der Wohlstand im südamerikanischen Boomland ist zwar ungleich verteilt - doch es gibt Fortschritte.

Von Gottfried Stein |
    20. Juni, Rio de Janeiro. Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff eröffnet die Klimakonferenz "Rio+20". Sie begrüßt Staatschefs, Politiker und Experten aus aller Welt. Für eine Woche steht Brasilien wieder im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit, wie schon im Oktober 2009; als IOC Präsident Jacques Rogge Rio de Janeiro zur Olympiastadt 2016 erklärt hatte.

    Die Entscheidung für Rio war ein Triumph für ganz Brasilien – besonders aber für den 2009 noch amtierenden Präsidenten Lula da Silva. Er hatte das Prestigeprojekt massiv gefördert und die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees zum politischen Großereignis erklärt:

    "Ich denke, dass das ein Tag zum Feiern ist. Brasilien ist kein Land zweiter Klasse mehr, wir sind in den Klub der 1. Klasse-Länder aufgestiegen. Heute haben wir die Anerkennung dafür spüren können."
    Zumindest auf der sportpolitischen Ebene liegt Brasilien international auf Spitzenplätzen: 2007 die Panamerikanischen Spiele in Rio, 2014 die Fußballweltmeisterschaft, 2016 Olympia am Zuckerhut. Das ist Balsam für die Seele der fast 200 Millionen Menschen. Es sei gut für ihr Selbstbewusstsein, meint der in Brasilien bekannte Fernsehjournalist Gudryan Neufert:

    "Brasilien war auch früher schon selbstbewusst. Aber dieses Selbstbewusstsein war stets flüchtig, oberflächlich. Es setzte nur ein, wenn die Nationalelf eine Fußball-WM oder wenn ein Rennfahrer die Formel 1 gewann. Dieses Selbstbewusstsein hielt dann vielleicht eine Woche lang an. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass dieses Gefühl nicht wieder verschwinden wird."

    Das Selbstbewusstsein Brasiliens ist auch international zu spüren. Brasilia fordert einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat, zählt inzwischen zu den Geberländern des Internationalen Währungsfonds und besetzt in Lateinamerika immer stärker eine Führungsrolle. Auch US-Präsident Obama fordert, Brasilien müsse endlich als größtes Land die Führungsrolle auf dem Subkontinent übernehmen. Nach Einschätzung des Soziologen und Wirtschaftsexperten Demetrio Magnoli wird das politische strategische Gewicht Brasiliens weiter zunehmen, aber:

    "Brasiliens politisches Gewicht wird niemals so groß sein wie sein wirtschaftliches Gewicht. Schon wegen seiner geografischen Lage, denn Brasilien und der ganze Kontinent liegen abseits der großen Machtzentren der Welt. Außerdem will Brasilien keine Nuklearmacht werden. Deshalb erreicht das politische Gewicht Brasiliens schnell eine Grenze."

    In den großen brasilianischen Autowerken – egal, ob bei VW oder Brasil, Toyota oder Fiat – laufen die Fließbänder Tag und Nacht. In der Autoproduktion liegt das Land hinter China, den USA und Japan auf Platz vier. Brasiliens Industrie boomt, egal ob in der Mobilfunk-, der Computerbranche oder in der Flugzeugherstellung. Im internationalen Vergleich liegt Brasilien immer vorne. In der Gruppe der sogenannten "BRICS-Staaten" Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika steht das Land glänzend da. Claudio Roberto Amitrano, Direktor des Instituts für makroökonomische Studien in Brasilia:

    "Brasilien hat etwa zwischen 1930 und 1980 eine beschleunigte Industrialisierung erlebt. Danach hat ein Prozess der wirtschaftlichen Freiheit stattgefunden; und heute haben wir eine Produktionsstruktur, die international gesehen stark mit dem Export von Rohstoffen verbunden ist, und da besteht eine starke Verbindung, ein wirtschaftlicher Dialog zwischen Brasilien und China – China benötigt sehr viele Rohstoffe."

    Noch vor wenigen Jahren galt Brasilien als absolutes Entwicklungsland – ein Synonym für Kriminalität, Armut und Unterentwicklung. Heute ist das größte Land Lateinamerikas mit bald 200 Millionen Einwohnern ein Vorbild. Um den Wandel des neuen Riesen zu verstehen, muss man in den Nordosten reisen, in das Bundesland Pernambuco, dem einstigen Armenhaus Brasiliens.

    Ankunft in Castanhinho am Rande von Garanhuns. Castanhinho ist eine der vielen ehemaligen Ansiedlungen, wohin früher Sklaven geflüchtet waren. Hier leben immer noch die Nachfahren der Sklaven. Sie werden Quilombolas genannt. Die Menschen in Castaninho seien sehr arm, erzählt Eurenice, die für die katholische Kirche arbeitet:

    "Anfangs haben hier viele als Leiharbeiter gearbeitet und von Maniok gelebt. Heute nicht mehr. Im Vergleich zu früher ist vieles besser geworden, da gibt es die staatliche Unterstützung wie 'Bolsa Familia', was sehr geholfen hat. Früher haben sie sogar gebettelt. Es sind arme Familien. Aber viele gehen heute zur Schule, manche zur Uni, die Kinder haben jetzt eine Schule. Also, vergleicht man das mit der Situation der 90er-Jahre, ist das heute eine andere Wirklichkeit."

    In Castanhinho leben etwa 170 Familien in einem landwirtschaftlichen Kollektiv. Sie pflanzen Maniok, Bohnen, Mais, und produzieren Farinh, zusammen bewirtschaften sie 198 Hektar. Das ist nicht viel, aber das Land gehöre ihnen, auch wenn die Besitzverhältnisse noch nicht hundertprozentig geklärt seien, klagt Jose Carlos da Silva, der Vorsteher der Gemeinschaft:

    "Die Gemeinschaft ist dabei, die Besitzrechte zu bekommen, das ist kollektives Gebiet. Damit wollen wir verhindern, dass jemand sein Stück Land wieder verkauft und in die Armut zurück fällt. Deshalb arbeiten wir hier täglich im Kollektiv, so sind wir uns näher, das ist für uns das Wichtigste."

    Die Verfassung von 1988 gibt den sogenannten "Landlosen", also Kleinbauern, das Recht auf eigene Anbauflächen. Früher waren sie von Großgrundbesitzern abhängig. Brasilien ist vermutlich der Staat mit der ungerechtesten Landverteilung der Welt: Wenige Reiche besitzen einen Großteil der Fläche, Millionen von Kleinbauern und Landarbeitern bleibt kaum etwas.

    Unter einem Vordach waschen Frauen in einem Plastikbottich Maniok aus. Anschließend werden die kartoffelähnlichen Pflanzen zerhackt, getrocknet und zu Mehl verarbeitet. Zum Leben reichen die Erträge nicht, weshalb drei Viertel der Familien hier auf "Bolsa familia", das große Sozialprogramm der Regierung, angewiesen sind. Anspruch auf Bolsa Familia hat nur, wer seine Kinder zur Schule und zu Gesundheitskontrollen schickt. Joseni ist Mitte 30, sie sagt, ihrer Familie, auch den drei Kindern, gehe es jetzt besser:

    "Ja, viel besser. Hier, wo wir arbeiten, haben wir einiges ausgebaut, jetzt können wir auch bei Regen arbeiten. Früher war das sehr kompliziert. Ich selber habe mit fünf Jahren angefangen zu arbeiten, meine Kinder dürfen das gar nicht. Die Behörden erlauben uns das nicht. Sie müssen in die Schule gehen. Kinderarbeit ist auf keinen Fall mehr möglich."

    "Bolsa Familia" heißt soviel wie "Familienstipendium". Über 12 Millionen Haushalte bekommen Unterstützung, gut 40 Millionen Menschen leben inzwischen davon. Jede Mutter erhält - je nach Anzahl der Kinder - monatlich umgerechnet bis zu 80 Euro. Jose Carlos wäre es allerdings lieber, wenn die Landfrage endlich geklärt und die Sozialhilfe damit überflüssig würde:

    "Diese Programme mildern nur die Not, und die Frage des Überlebens darf nicht von der Teilnahme an den Bolsa-Programmen abhängen. Wir kennen viele Familien, die vollkommen abhängig sind von den Bolsas, die kein Land haben und keine Arbeit, und am Ende des Monats bekommen sie ein wenig Geld und gehen zum Supermarkt. Das ist doch keine Freiheit!"

    Das größte Land Lateinamerikas hat mit unzähligen Problemen zu kämpfen. Noch immer gilt die Hälfte der Bevölkerung als arm, die Bildung ist schlecht, die Zahl der Analphabeten hoch.

    Eine Großbaustelle inmitten des Sertao, dem Herzen des brasilianischen Nordostens. Hier, in einer Bucht des Rio Sao Francisco, wächst ein gigantisches Projekt. Schaufelbagger graben unermüdlich ein Kanalbett, Lastwagen schütten im Minutentakt Sand an die Ufer. Der Sao Francisco ist für weite Teile Brasiliens eine Lebensquelle, nur um den Sertao macht er einen Bogen. Aus Sicht von Joao Bosco Almeida, Sekretär des Bundesstaats für Wasserwesen, muss sich das ändern:

    "Das Landesinnere von Pernambuco ist eine sehr dicht besiedelte Region, aber dort gibt es sehr wenig Wasser. Alle Vorkommen, die dort existieren, sind bereits erschlossen worden. Mit dem Projekt wird Wasser auf 63 Städte im Inneren Pernambucos verteilt. Der größte Nutzen der Transposicao ist die Stabilisierung der Wasserversorgung im Landesinneren."

    Hier bei Floresta wird der Fluss angezapft, zwei Kanäle sollen Wasser über 600 Kilometer tief in die Dürregebiete leiten. Es geht nicht nur um Wasser. Das Projekt soll die neue Lebensgrundlage für die Nortestinos werden. Dom Adriano Ciocca, Bischof von Floresta:

    "Unsere Bevölkerung lebt anders als die Menschen im Rest Brasiliens. Bis vor Kurzem war der Nordosten wirtschaftlich und sozial eindeutig die rückständigste Region des Landes. Sie wurde eher als Arbeitskräftereservoir für die Entwicklung des Südens und des zentralen Westens angesehen. Außerdem als Arbeitskräftereservoir für die Projekte der Regierung zur Besiedlung der Amazonasregion, eine Region die es zu 'erobern' und zu besiedeln galt."

    Der Rio Sao Francisco ist der zweitgrößte Fluss Brasiliens, gut 2700 Kilometer lang. Fünf Bundesstaaten versorgt er mit seinem Wasser, außerdem speist er die gigantischen Wasserkraftwerke Sobradinho und Paulo Afonso. Sie produzieren 95 Prozent der Energie im Nordosten. Aber die Euphorie wird nicht von allen geteilt. Viele Menschen in der Umgebung sind skeptisch geworden. Die Regierung hatte versprochen, ihren Durst zu löschen, die Felder zu bewässern, Arbeitsplätze zu schaffen und die gesamte ökonomische und soziale Situation zu verbessern. Anfangs waren die meisten dafür, sagt Marcelo Manoel dos Santos, Sprecher der Anwohner, aber die Stimmung sei inzwischen gekippt:

    "Am Anfang haben die Leute hier im Dorf geglaubt, dass es ein gutes Projekt sei, das der Gemeinschaft hier viele Vorteile bringen würde. Aber mit der Zeit haben wir gesehen, dass es anders ist, als wir uns das vorgestellt hatten. Es gibt immer noch Leute, die glauben, dass es gut ist, aber die Mehrheit glaubt nicht mehr so daran wie früher."

    Das Sao Francisco Projekt soll etwa 2,6 Milliarden Euro kosten. 8000 Arbeiter schuften an der Baustelle, viele kommen – oder besser gesagt, kamen aus der Region. Sie stehen inzwischen mit leeren Händen da, klagt Manoel:

    "Am Anfang wurden viele Arbeitsplätze geschaffen. Heute werden viele Leute schon wieder entlassen, deshalb sind wir nicht mehr so sicher, dass noch viele Arbeitsplätze entstehen werden. So kehren viele zurück zur Landwirtschaft, aber vielen anderen ist das nicht mehr möglich. Sie hatten ihre Ländereien aufgegeben und müssen wieder bei Null anfangen."

    Die Transposiciao ist nicht das einzige Großprojekt der Regierung, das auf heftigen Widerstand in der Bevölkerung stößt. Geplant sind mehrere Wasserkraftprojekte wie Belo Monte, mit gigantischen Staudämmen, am Rio Xingu soll das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt entstehen, 500 Quadratkilometer Amazonas-Urwald würden dadurch vernichtet. Belo Monte mobilisiert inzwischen weltweit Umwelt- und Naturschützer sowie Sympathisanten der indigenen Urbevölkerung in der Region.

    Im Frachthafen von Suapé, gut 20 Kilometer außerhalb von Recife, der Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco, hat die Zukunft schon begonnen. Seit 2007 hat die Regierung hier gut 500 Millionen Euro investiert und weitere Mittel in die Region gesteckt. Zehntausende von Arbeitsplätzen entstanden, das Ausbildungsniveau ist beträchtlich gestiegen und in den nächsten Jahren werden vier weitere Hafenbecken für Großschiffe gebaut. Suape, sagt Sidnei Jose Aires, einer der Verantwortlichen, sei ein Symbol für den Aufschwung Brasiliens – und Pernambucos:

    "Es war eine Entscheidung von Präsident Lula, Suape besonders zu fördern und zwar aus regionalen Gründen. Der Nordosten wächst schneller als andere Teile Brasiliens, und Pernambuco wächst im ganzen Nordosten am stärksten. Raffinerien, Werften, neue Terminals, - das alles begleitet das wirtschaftliche Wachstum."

    Pernambuco ist eine einzige Boom-Zone. Suape, die Transposicao, der Ausbau des Frachtflughafens in Petrolina, eine Eisenbahnlinie quer durch den Nordosten, das alles soll blühende Landschaften und glückliche Menschen schaffen. Ein bisschen sei das schon gelungen, meint Pater Juvenal, ein Franziskanermönch, der sich um die Landbevölkerung von Garanhuns kümmert:

    "Ich denke, dass sich die Situation für alle verbessert. Wer schon reich war, hat allerdings besonders profitiert. Den Banken hat man viele Privilegien eingeräumt, während die Agrarreform nicht umgesetzt wurde. In diesen acht Jahren gab es in der Bildung einige Fortschritte, auch bei der Gesundheit, und vor allem, was die Ernährung und den Wohlstand der Bevölkerung angeht. Tatsächlich ist dies ein Land mit vielen Reichtümern, die für die Zukunft sehr viel versprechen."

    Für den Soziologen und Wirtschaftsexperten Demetrio Magnoli aus Sao Paulo, hängt der wirtschaftliche Erfolg Brasiliens allerdings auch mit der Globalisierung der Weltwirtschaft und besonders mit der Entwicklung Chinas zusammen.

    "Brasilien ist Trittbrettfahrer bei dieser Entwicklung, aber das ist kein Zufall, denn Brasilien hat seine Hausaufgaben gemacht, Brasilien hat seine Währung stabilisiert und die öffentlichen Finanzen in den Griff bekommen. Diese Entwicklungen haben die Basis dafür gelegt, dass Brasilien wachsen konnte. International gesehen ist Brasilien allerdings nicht übermäßig gewachsen – nicht stärker als Lateinamerika insgesamt."

    Weltweit betrachtet gehört Brasilien immer noch zu den Ländern, in denen der Wohlstand besonders ungleich verteilt ist. Sechs Millionen Wohnungen fehlen, die Hälfte der Bürger hat keinen Abwasseranschluss, wegen der enormen Kriminalität zählt Brasilien zu den gefährlichsten Ländern Lateinamerikas. Das größte Hindernis für die langfristig angestrebten wirtschaftlichen Ziele ist die völlig veraltete und unzureichende Infrastruktur. Trotzdem meint der Wirtschaftsexperte Bolivar La Monjeu:

    "Ich denke, dass die brasilianische Wirtschaft ein sehr großes Potenzial hat, und das ist das Werk Gottes, der uns mit Metallvorkommen, einem guten Boden und einem guten Klima gesegnet hat. Jetzt kommt auch noch Erdöl hinzu."
    Auf einer Bohrinsel vor der brasilianischen Atlantikküste werden Geräte startklar gemacht, um kilometertief im Meeresboden nach neuen Quellen zu suchen. In den letzten Jahren verlief das überaus erfolgreich. Vor der Küste zwischen Rio de Janeiro und Sao Paulo schlummern riesige Ölvorkommen, Experten sprechen von bis zu 80 Milliarden Barrel. Das Projekt namens "Pre Sal" soll Brasilien in eine Liga mit den großen OPEC-Ländern katapultieren. Allerdings hat die Sache einen Haken: Die Ölquellen liegen unter einer kilometerdicken Salzschicht in mindestens 6000 Meter Tiefe, und bislang gibt es keine entsprechende Technik, um das Öl zu fördern. Der staatliche Ölkonzern Petrobras investiert trotzdem 175 Milliarden Dollar in Bohrinseln, Schiffe und anderes Gerät, um die Quellen zum Sprudeln zu bringen.
    Im Grunde genommen sind sich die meisten internationalen Wirtschaftsexperten einig: Brasilien kann in den kommenden zehn, 15 oder 20 Jahren den Sprung unter die fünf größten Volkswirtschaften der Welt schaffen. Brasilien habe alle Chancen, so Demetrio Magnoli:

    "Brasilien wird eine der großen Volkswirtschaften der Welt sein. In dieser neuen Etappe der Weltwirtschaft werden die Unterschiede in der Produktivität zwischen der Ersten Welt und dem Rest schrumpfen, der demografische Faktor der Schwellenländer gewinnt an Gewicht."