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Brasilien, Bolsonaro und das Coronavirus
"Zustimmung steigt, wenn Schutzmaßnahmen verhängt werden"

Lateinamerika-Expertin Claudia Zilla bewertet die Situation Brasiliens aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus als kritisch. Mittlerweile sei das Virus auch in Amazonien angekommen, sagte sie im Dlf. Präsident Jair Bolsonaro gerate nicht nur wegen seiner Coronavirus-Politik zunehmend unter Druck.

Claudia Zilla im Gespräch mit Silvia Engels |
Durch eine schmale Lücke zwischen zwei Personen im Vordergrund ist Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro zu sehen. Vor ihm stehen mehrere Mikrofone.
Jair Bolsonaro vor Medienvertretern in Brasiliens Hauptstadt Brasilia (imago/ Joedson Alves)
Brasilien ist das Land Lateinamerikas, das von der Corona-Pandemie besonders stark betroffen ist. Die Zahl der bestätigten Toten ist binnen weniger Wochen auf über 5.400 gestiegen. Beobachter vermuten allerdings, dass die Zahl der Opfer in Wirklichkeit noch höher ist, da in ländlichen Regionen wenig getestet wird. Doch das Land durchlebt auch noch eine weitere Krise: Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro und sein enges Umfeld stehen zunehmend im Fokus der Justiz.
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Claudia Zilla ist Lateinamerika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Die Situation in Brasilien bezüglich des Coronavirus sei sehr kritisch. "Es ist besonders problematisch in den Großstädten", sagte sie im Dlf. "Mittlerweile gibt es aber auch Infektionsfälle in Amazonien. Es hat auch die indigene Bevölkerung erreicht."
Das Gesundheitssystem sei bereits vor der Pandemie in einem sehr schlechten Zustand gewesen. "Die Quarantäne-Maßnahmen treffen die Menschen auch ökonomisch sehr stark, wir müssen bedenken, dass viele Leute sich in Wohnungsnot befinden. Und zu Hause zu bleiben, ist ein großes Problem." Genauso problematisch sei es, nicht arbeiten gehen zu können. "Leute sind sehr stark davon abhängig, heute zu arbeiten, um morgen Essen auf dem Tisch zu haben", so Zilla. "Das Virus trifft alle, aber unterschiedlich stark."
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Bolsonaro unter Druck
Präsident Jair Bolsonaro hat lange die Pandemie klein geredet, auch bis heute noch. Viele Gouverneure haben aber gehandelt und Beschränkungen eingeführt. "Es gibt Leute, die eher der Botschaft des Präsidenten folgen. (...). Und dann gibt es andere, die sehr froh darüber sind, dass der eigene Gouverneur eine Quarantäne verhängt hat, weil sie sich dadurch geschützt fühlen."
Mit Blick auf die politische Lage im Land, sagte Zilla, dass ein Amtsenthebungsverfahren Bolsonaros zwar eine Möglichkeit sei, aber es am Ende eher nicht zum Erfolg führen werde. Bolsonaro wird derzeit vorgeworfen, politischen Einfluss auf Untersuchungen der Bundespolizei genommen zu haben. "Er hat jetzt auch Probleme im eigenen Kabinett", sagte Zilla.
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Silvia Engels: Welche Schilderungen hören Sie aus Brasilien über die Ausbreitung des Virus?
Claudia Zilla: Es ist eine sehr kritische Situation, besonders problematisch in Großstädten wie Sao Paulo und Rio de Janeiro, aber auch in Manaus und anderen Regionen. Mittlerweile gibt es auch Infektionsfälle in Amazonien, es hat auch die indigenen Völker erreicht, und schon vor der Pandemie war das Gesundheitssystem in einem sehr schlechten Zustand. Die Quarantänemaßnahmen treffen auch die Leute ökonomisch sehr stark. Sie müssen bedenken, dass viele Leute zunächst mal sich in Wohnungsnot befinden, und zuhause zu bleiben ein großes Problem ist, und genauso problematisch ist, nicht arbeiten gehen zu können, weil Leute sehr stark davon abhängig sind, heute arbeiten zu können, um morgen was auf dem Tisch zum Essen zu haben.
Engels: Sie haben es angesprochen: Die Situation in den Städten ist zum Teil verheerend. Ist denn überhaupt etwas über die ländliche Region bekannt? Ist das Virus dort schon angekommen, oder weiß man da einfach in Teilen zu wenig?
Zilla: Die Berichterstattung ist unterschiedlich gut. Die Zahlen sind unterschiedlich zuverlässig. Aber man könnte schon davon ausgehen, dass es keine Region gibt, die vom Virus verschont blieb. Die Frage ist, inwiefern diese Zahlen ermittelt werden können, inwiefern die Leute sich trauen oder es schaffen, an die Krankenhäuser zu kommen. Aber es gibt kein Gebiet, das von dieser Gefahr frei ist.
"Es fehlt an Investitionen"
Engels: Sie haben es schon angesprochen: Das Gesundheitssystem in Brasilien gilt ohnehin als nicht sehr belastbar. Woran fehlt es denn besonders?
Zilla: Zunächst mal an Investitionen. Lateinamerika insgesamt, aber auch Brasilien ist ein Land, das sehr wenig in den Gesundheitssektor investiert. Das andere ist, es ist nicht nur eine Frage der Menge des Geldes, sondern wo geht dieses Geld hin, wie effizient werden diese Investitionen im Gesundheitssektor getätigt. Das weitere ist eine Fragmentierung des Systems. Das heißt, wir haben einen privaten Sektor, den sich nur Leute in einer besseren ökonomischen Position leisten können, und dann haben wir einen öffentlichen Gesundheitssektor, zu dem Leute, die die ökonomischen Mittel nicht haben, verdammt sind. Sie sind verdammt dazu, sie haben keine Wahl, sich dort behandeln zu lassen, und die Infrastruktur ist sehr defizitär.
Engels: Das bedeutet, dass dieses Virus in seinen verheerenden Auswirkungen wahrscheinlich vor allem die arme Bevölkerung treffen wird?
Zilla: Es trifft alle, aber es trifft alle unterschiedlich stark, und die Konsequenzen der Infektion können in einigen Fällen mehr oder weniger direkt tödlich sein und in anderen große Chancen auf Heilung haben. Ich kritisiere die Leute, die sagen, in dieser Betroffenheit des Virus gibt es einen Moment der Gleichheit. Das Moment sehe ich nicht, weil die Implikationen stark unterschiedlich sind, und die Effekte verteilen sich ungleich entlang der sozialen Asymmetrien.
"Erratische Politik von Bolsonaro steht unter Kritik"
Engels: Schauen wir nun auf die politische Entwicklung. Brasilien hat hier ja das Problem, dass die Führung hier nicht einheitlich handelt. Präsident Bolsonaro hat lange die Folgen der Pandemie kleingeredet, bis heute. Viele Gouverneure hatten dagegen für ihre Regionen gehandelt und Beschränkungen eingeführt. Bis das zu weitreichenden Quarantäneregelungen führte, dauerte es eine Weile. Führt denn dieses Hin und Her dazu, dass die Menschen in Brasilien die Kontakteinschränkungen nun eher befolgen oder eher missachten?
Zilla: Es führt zu einer heterogenen Befolgung. Das heißt, es gibt Leute, die eher der Botschaft des Präsidenten folgen und sagen, er relativiert die Gefahr, er kritisiert die Medien für eine hysterische Berichterstattung, und vielleicht hat er recht. Warum soll ich zuhause bleiben und auf meine Arbeit verzichten, auf mein Einkommen verzichten. Dann gibt es wiederum andere, die sehr froh darüber sind, dass der eigene Gouverneur eine Quarantäne verhängt hat, weil sie sich dadurch geschützt fühlen.
Was man aber auf jeden Fall beobachten kann in den Umfragen ist, dass die Zustimmung eher steigt, wenn Schutzmaßnahmen im Sinne der Quarantäne verhängt werden, getroffen werden, und dass eher diese erratische Politik von Bolsonaro unter Kritik steht.
"Bolsonaro hat Probleme im eigenen Kabinett"
Engels: Erschwerend zur Pandemie-Bekämpfung kommt nun hinzu, dass die Regierung Bolsonaro auch in anderen politischen Turbolenzen steckt. Anfang der Woche hatte das oberste Gericht ein Verfahren gegen Bolsonaro wegen des Verdachts politischer Einflussnahme auf die Bundespolizei eingeleitet. Könnte hier am Ende ein Amtsenthebungsverfahren stehen?
Zilla: Das ist eine Möglichkeit, wobei Brasilien hat eine Geschichte von vielen Versuchen dieser Art und sehr wenige sind geglückt. Das heißt, bei einem Impeachment ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses durchgeht, relativ klein. Aber die Gefahr besteht, zumal Bolsonaro eine schwache Unterstützung im Parlament hat, und die ist entscheidend für die Wahrscheinlichkeit der Durchsetzung oder nicht eines Impeachments. Und jetzt hat er Probleme im eigenen Kabinett, wo er auch von einigen Ministern die Unterstützung verliert. Das heißt, wir sehen auch eine fehlende Koordinierung vertikal zwischen den verschiedenen Staatsebenen, aber hinzu kommen jetzt Unstimmigkeiten auf der horizontalen Ebene, nämlich zwischen den Ressorts in den Ministerien.
Engels: Sie haben es angesprochen: Zum Beispiel ist Justizminister Moro zurückgetreten, nachdem Bolsonaro den Chef der Bundespolizei entlassen hatte. Moro beschuldigt Bolsonaro, so seine Söhne vor Ermittlungen schützen zu wollen. Nun hat wiederum der oberste Richter den neu ernannten Chef der Bundespolizei, den Bolsonaro ernannt hat, abgelehnt. Haben wir hier ein langes Ringen zwischen Justiz und dem Präsidenten vor uns?
Zilla: Möglicherweise, und das wäre nicht neu. Ein Spannungsverhältnis zwischen Justiz und Politik beobachten wir schon länger in Brasilien. Brisant war es mit der Verhaftung und Verurteilung von Lula, vom ehemaligen Präsidenten. Die Erwartung war, dass diese Spannung sich nun legt, und was wir sehen ist, dass Konflikte wieder aufkommen – nicht zuletzt, weil eine Oppositionspartei eine einstweilige Verfügung eingereicht hat, der stattgegeben wurde durch den Bundesrichter.
Wahlversprechen umsetzen
Engels: Dann kommen wir zum Ende wieder auf den Schwenk in Richtung der Pandemie-Bekämpfung. Bolsonaro hat nämlich auch seinen Gesundheitsminister entlassen, der für strenge Quarantänerichtlinien war, und der Nachfolger äußert sich noch nicht zu seinem Kurs in der Pandemie. Wenn wir das alles zusammennehmen – Sie haben angesprochen, dass Umfragewerte für Politiker, die strenge Quarantänemaßnahmen beschließen, eigentlich positiv sind. Heißt das im Umkehrschluss, dass Bolsonaro aufgrund dessen und auch aufgrund der neuen politischen Krisen, die er in seinem Kabinett hat, nun unbeliebter wird?
Zilla: Das ist sehr wahrscheinlich. Entscheidend für ihn ist folgendes: Er ist mit drei großen Themen angetreten und hat mit drei großen Versprechen die Wahlen gewonnen: Aktivierung der Wirtschaft, Bekämpfung der Korruption und Bekämpfung der Kriminalität. Die Wirtschaft leidet jetzt unter der Pandemie. Für die Korruptionsbekämpfung und für die Bekämpfung der Kriminalität war Sérgio Moro das Aushängeschild. Jetzt ist er weg! Das heißt, seine drei Hauptversprechen vom Wahlkampf sind jetzt unter Leistungsdruck.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.