"Eines der Probleme in Rio de Janeiro ist, dass Schießereien banalisiert werden. So sehr, dass der Einsatz von Schusswaffen so normal ist, dass er noch nicht mal Einzug in die Kriminalstatistik erhält. Die Situation in Rio ist so schlimm, dass du hier keinen einzigen Bezirk ohne Schießereien finden wirst", sagt Maria Isabel Couto.
Nicht mal hier in Copacabana?
Couto antwortet: "Copacabana ist der Stadtteil mit den meisten Schusswechseln!"
Maria Isabel Couto sitzt in ihrem Arbeitszimmer in Copacabana, einem der reicheren Viertel von Rio de Janeiro, in der Nähe des berühmten Strandes. Sie sichtet Daten zur Waffengewalt in der Stadt. Abrufbar sind sie über die App "Fogo Cruzado", zu Deutsch "Kreuzfeuer".
Maria Isabel Couto sitzt in ihrem Arbeitszimmer in Copacabana, einem der reicheren Viertel von Rio de Janeiro, in der Nähe des berühmten Strandes. Sie sichtet Daten zur Waffengewalt in der Stadt. Abrufbar sind sie über die App "Fogo Cruzado", zu Deutsch "Kreuzfeuer".
"Hier, kannst du die Filter einstellen, auswählen, welche Stadt du angezeigt haben möchtest. Schusswechsel, an denen die Polizei beteiligt ist oder auch welche Quelle: Wir sammeln die Zahlen aus der Presse, von den Nutzern und aus offiziellen Polizeistatistiken", sagt Couto.
Rasch, oft fast in Echtzeit werden auf einer Karte mit einem orangefarbenen Standort-Symbol die Orte der Schusswechsel visualisiert, später, wie viele Menschen dabei gestorben sind, ob die Polizei daran beteiligt war oder gerufen wurde. Die hohe Zahl der Morde und die Sorge um die öffentliche Sicherheit bestimmen die politische Debatte in Brasilien.
Rasch, oft fast in Echtzeit werden auf einer Karte mit einem orangefarbenen Standort-Symbol die Orte der Schusswechsel visualisiert, später, wie viele Menschen dabei gestorben sind, ob die Polizei daran beteiligt war oder gerufen wurde. Die hohe Zahl der Morde und die Sorge um die öffentliche Sicherheit bestimmen die politische Debatte in Brasilien.
50.000 Morde im Jahr
Im vergangenen Jahr zählte das "Brasilianische Forum für öffentliche Sicherheit" über 50.000 Morde. Jair Bolsonaro, der seit Anfang des Jahres Präsident ist, hatte das schon im Wahlkampf für sich zu nutzen versucht:
Bolsonaro, im letzten Jahr bei einer Kundgebung im Bundesstaat Acre. Er rief dazu auf, Anhänger der PT, der Brasilianischen Arbeiterpartei zu erschießen. Er hielt dabei ein schwarzes Kamerastativ so in die Höhe, als könne er damit schießen.
Von der jubelnden Menge wurde Bolsonaro dafür gefeiert. Die Waffe, genauer gesagt die zu einer Pistole geformte Hand war das Markenzeichen seines Wahlkampfs. Sie war mehr als ein Symbol.
Die Debatte über die öffentliche Sicherheit brachte ihm Sympathien und dann entscheidende Wählerstimmen ein. Sein Versprechen: Jedem "anständigen Bürger" solle es erleichtert werden, Waffen zu besitzen.
"Man muss 20 Jahre alt sein und ein paar Voraussetzungen erfüllen: ein psychologisches Attest, einen Waffenschein und einen Wohnsitz. Das bisher geltende Waffengesetz hat den anständigen Staatsbürger entwaffnet und Verbrechern ihre Waffe gelassen", sagt Bolsonaro.
Schon zu Beginn seiner Amtszeit löst Bolsonaro sein Versprechen aus dem Wahlkampf ein, allerdings mit einigen Abweichungen. Alle Brasilianer, die älter als 25 Jahre sind, können bis zu vier Schusswaffen erwerben und sie zu Hause oder am Arbeitsplatz aufzubewahren.
Kritik kam von Gouverneuren
Sie müssen ein psychologisches Attest vorlegen und eine Erklärung, die rechtfertigt, dass sie die Waffen brauchen und die Zahl der Morde in ihrem Wohnort hoch ist.
Im Mai folgte das zweite Dekret, das auch Politikern, Landwirten, Lastwagenfahrern, Jägern und Sportschützen erlaubte automatische Gewehre in der Öffentlichkeit mit sich zu führen. Auch den Import und Vertrieb von Waffen in Brasilien hat Bolsonaro erleichtert, die zulässigen Verkaufsmengen von Munition erhöht.
Kritik kam von Gouverneuren der Bundestaaten, die die höchsten Mordraten aufweisen: Rio Grande do Norte, Ceara und Pernambuco.
Die Maßnahmen würden "nicht dazu beitragen, die Situation sicherer zu machen". Die größere Menge von Waffen und Munition erhöhe vielmehr "das Risiko für unsere Bürger, am Ende tragisch zu sterben".
Aber auch der Senat stellte sich quer, votierte gegen die Durchsetzung des Dekrets und das Oberste Gericht kündigte an zu prüfen, ob die Dekrete überhaupt verfassungskonform sind.
Bolsonaro zog die Dekrete zurück und reichte im Kongress einen Gesetzesvorschlag ein, der es ihm ermöglicht Regeln für den Waffenbesitz und die Waffennutzung selbst festzulegen - ohne die Zustimmung der Abgeordneten im Kongress. Gleichzeitig unterzeichnete er drei neue Dekrete, die sich inhaltlich kaum von den vorangegangenen unterscheiden.
Bolsonaro möchte aber nicht nur den Waffenbesitz erleichtern, sondern einen rechtlichen Rahmen für die Polizei schaffen, der selbst bei Fehlern der Beamten eine Bestrafung durch Gerichte verhindert. Er sagt:
"Es ist ein Ungleichgewicht: Der Verbrecher hat mehr Rechte, als der 'gesetzestreue Bürger'. Wir müssen eine gesetzliche Grundlage schaffen, für die, die sich um die Sicherheit kümmern, die Zivil-und die Militärpolizei.
Sie müssen während des Einsatzes ihre Marke und ihren Gürtel tragen können, nach Hause gehen können, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden. Wenn der Polizist eine Garantie hat, dass er nicht ins Gefängnis kommt, wenn er schießt, überlegt es sich ein Verbrecher zweimal, ob er Dummheiten macht."
Änderung des Strafgesetzbuch
Jair Bolsonaro möchte den "excludente de ilicitude", einen Artikel im brasilianischen Strafgesetzbuch, ändern, damit Handlungen die normalerweise justiziabel sind straffrei bleiben.
Dazu gehört das Töten von Menschen, die an einem Verbrechen nicht beteiligt sind. Der brasilianische Präsident möchte damit das Recht auf Notwehr stärken. Sein Gesetzesvorhaben, das er zur Not als Dekret durchsetzen will, soll für alle "anständigen Bürger" gelten, aber vor allem die Polizisten schützen.
Dass Polizisten oder Soldaten verurteilt werden, weil sie nicht in Notwehr gehandelt haben sei allerdings eher die Ausnahme als die Regel, erklärt Pablo Nunes. Er ist Wissenschaftler am Cesec, dem Zentrum für Sicherheits- und Bürgerrechts-Studien in Rio de Janeiro:
"Bei den Daten über Polizeigewalt kommt es natürlich auch darauf an, wer sie analysiert. Wenn die Polizei das tut, dann heißt es oft: Selbstverteidigung. Aber es ist Polizeigewalt, wenn die Polizei eine Person während eines Einsatzes angeblich aus Notwehr tötet.
Wir haben sehr viele Probleme, die damit zusammenhängen, weil die einzige Aussage, wonach der Polizist in Notwehr gehandelt hat, vom Polizisten selbst kommt. Und selbst wenn es eine Autopsie gibt, die zum Beispiel beweist, dass die Person auf den Boden gedrückt wurde selbst dann gibt es Fälle, in denen Polizisten straffrei bleiben."
Gewalt an der Tagesordnung
Der Wissenschaftler Pablo Nunes verfasst Studien zu Polizeigewalt, vor allem zu den Einsätzen, die in den Favelas fast täglich stattfinden. Gerade dort kommt es häufig vor, dass Menschen sterben, die mit Verbrechen gar nichts zu tun haben.
Gewalt, vor allem von Seiten der Militärpolizei, ist in den brasilianischen Favelas seit Jahren an der Tagesordnung. In diesem Jahr hat sie Rekordhöhen erreicht. Die Militärpolizei hat bis Ende April in Rio 434 Menschen erschossen.
"Wir sehen heute, dass die Gewalt wieder steigt", sagt Pablo Nunes: "Die ersten vier Monate ist die Zahl der Toten durch die Polizei die höchste in der gesamten Geschichte Rio de Janeiros. Das heißt: Seit 20 Jahren, seitdem wir Daten dazu haben, hat die Polizei die meisten Menschen getötet. Das ist ein sehr schlechtes Signal."
Rio de Janeiro wird von dem Gouverneur Wilson Witzel regiert, von der Partido Social Cristão, der Sozialen Christlichen Partei, die religiös und zumindest rechtspopulistisch ausgerichtet ist. Manche bezeichnen sie als rechtsextrem.
Witzel war bis zu seinem Wahlsieg im Oktober fast unbekannt. Bolsonaro unterstützte seine Kampagne und Witzel setzt auf ähnliche Themen wie der brasilianische Präsident: Der Kampf gegen Korruption und Kriminalität.
Eine carte blanche
Er führt seinen Wahlkampf mit dem Versprechen, den Polizisten eine "carte blanche" zu erteilen und verteidigt das Vorgehen der Polizei in den Favelas gegen die Kritik von Menschenrechtsaktivisten und der Opposition.
"In jedem anderen Land ist das so: Wer ein Gewehr trägt, wird von der Polizei erschossen. Wer das Gewehr nicht abgibt, ist tot", sagt Witzel: "Wenn es Menschen gibt, die bewaffnet sind, mit Drogen handeln und die Bevölkerung als Schutzschild nutzen, dann ist das nichts anderes als das, was die Hezbollah oder andere Terrororganisationen auf der ganzen Welt machen. Terrorismus bekämpft man nicht mit Blumen."
Aus Sicht des Wissenschaftlers Pablo Nunes polarisiert die Rhetorik des Gouverneurs von Rio Wilson Witzel die brasilianische Gesellschaft.
Aus Sicht des Wissenschaftlers Pablo Nunes polarisiert die Rhetorik des Gouverneurs von Rio Wilson Witzel die brasilianische Gesellschaft.
Die eine Seite findet Gefallen an Waffen und dem martialischen Auftreten, so wie es der Gouverneur offen zur Schau stellt. Die andere kritisiert ihn dafür, dass die Militärpolizei unverhältnismäßig Gewalt anwendet und dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wird.
Wilson Witzel steigt mit bewaffneten Zivilbeamten in einen Helikopter, fliegt über eine Favela in Angra dos Reis, im Bundesstaat Rio de Janeiro und die Polizisten schießen während des Flugs nach unten.
Das Video veröffentlichte der Politiker auf seinem eigenen Twitterkanal. Solche Einsätze der Militärpolizei sind in den Favelas keine Seltenheit. Auch Kinder und Minderjährige sterben dabei.
In der Diskussion darüber bekam ein Bild besonders viel Aufmerksamkeit: Ein gelbes Schild, platziert auf dem Dach einer Schule der Favela Maré, eine der größten Favelas im Norden Rio de Janeiros.
Dort steht in schwarzer Schrift: "Schule! Bitte nicht schießen!". Kritik an solchen Polizeieinsätzen lässt Gouverneur Wilson Witzel aber nicht gelten. Für ihn sind regierungsunabhängige Organisationen Teil des Problems:
"Wenn Unschuldige sterben, halten sie deren Fotos hoch und sagen, dass die Polizei sie umgebracht hat. Aber wenn ich dann sage, dass man diejenigen, die Waffen tragen umbringen muss, dann sind sie dagegen.
"Wenn Unschuldige sterben, halten sie deren Fotos hoch und sagen, dass die Polizei sie umgebracht hat. Aber wenn ich dann sage, dass man diejenigen, die Waffen tragen umbringen muss, dann sind sie dagegen.
Diejenigen, die in den Favelas Waffen tragen, töten Unschuldige. Diese Verteidiger der Menschenrechte, diese Pseudo-Verteidiger der Menschenrechte, wollen nicht, dass die Polizei bewaffnete Personen tötet. Die Leichen der Jugendlichen gehen auf eure Rechnung, nicht auf meine!"
Wer in Bezirken wie Copacabana oder Botafogo, im Süden Rio de Janeiros lebt, wird von den Polizei-Einsätzen wenig mitbekommen. In diesen Bezirken wohnt die weiße, brasilianische Mittelschicht.
Fehlende Empathie
In den Favelas ändert sich das. Sie liegen an den Rändern, besonders viele im Norden. Hier leben meist Schwarze. Fehlende Empathie, das sei ein weiterer Grund für die anhaltende Polarisierung sagt Pablo Nunes.
"Natürlich stellt sich die Frage, wen diese Gewalt trifft. Das sind schwarze Menschen, mit einem ganz klaren sozioökonomischen Profil, das ziemlich weit unten angesiedelt ist. Und so ist es schwierig, dafür eine Bevölkerung zu sensibilisieren, die in der Zona Sul lebt und ein ganz anderes Profil hat."
In der Zona Norte, im Norden der Stadt, befindet sich die Favela Maré. Rund 130.000 Menschen leben dort, viele von ihnen passen in das Profil, das der Wissenschaftler Pablo Nunes beschreibt:
Sie gehören der Arbeiterklasse an, die meisten von ihnen sind schwarz. Statistisch gesehen sind sie häufiger Opfer von Schusswaffengewalt. Amnesty International zufolge sind 77 Prozent der Mordopfer in Brasilien schwarz.
Wer in der Favela Maré schnell vorankommen will, braucht ein Motorrad. Busse und U-Bahnen wie im Stadtzentrum gibt es in der Favela nicht. Genauso wenig wie hohe Zäune, Hochhäuser und die Anonymität der Großstadt. Man kennt sich untereinander.
Irone Santiago ist bei ihren Nachbarn bekannt. Nicht nur als gute Nachbarin, sondern vor allem als Mutter, die fast ihren Sohn verlor.
"Ich habe geschlafen, als das Telefon klingelte. Als ich im Krankenhaus ankam, waren dort sehr viele Soldaten. Ich sagte: Ich will meinen Sohn sehen. Man sagte mir nur, dass er angeschossen wurde", erzählt Santiago:
"Ich wusste damals noch nicht, dass ich vier Monate lang um das Überleben meines Sohnes kämpfen musste. Ich stand einfach unter Schock."
Irone Santiago lebt mit ihrer Familie in der Favela Maré. Ihr Sohn Vitor Santiago saß gerade im Auto, als er von Militärs angeschossen wurde. Er hat überlebt, ist aber arbeitsunfähig, sein linkes Bein musste amputiert werden. Seine Geschichte erregte auch öffentliches Interesse, erzählt Santiago:
"Ein Reporter hat meinen Sohn interviewt und alles falsch dargestellt, so als wäre es ein Fall von Selbstverteidigung. Sie haben viele verschiedene Versionen wiedergegeben. Und es bleibt dann an den Müttern hängen, das Gegenteil zu beweisen.
Irone Santiago lebt mit ihrer Familie in der Favela Maré. Ihr Sohn Vitor Santiago saß gerade im Auto, als er von Militärs angeschossen wurde. Er hat überlebt, ist aber arbeitsunfähig, sein linkes Bein musste amputiert werden. Seine Geschichte erregte auch öffentliches Interesse, erzählt Santiago:
"Ein Reporter hat meinen Sohn interviewt und alles falsch dargestellt, so als wäre es ein Fall von Selbstverteidigung. Sie haben viele verschiedene Versionen wiedergegeben. Und es bleibt dann an den Müttern hängen, das Gegenteil zu beweisen.
Kampf um Gerechtigkeit
Wir sind die Gruppe, die am meisten für Gerechtigkeit kämpft und diese Medien sind diejenigen, die unsere Söhne wie die schlimmsten Menschen überhaupt darstellen und das ist nicht wahr. Das ist kein Einzelfall. In Maré haben sich die Reporter unmöglich verhalten."
Irone Santiago redet sich schnell in Rage, sie ist müde, immer wieder ihre Geschichte zu erzählen, tut es aber dennoch. Seit ihr eigener Sohn Opfer von Polizeigewalt wurde, engagiert sie sich in ihrem Viertel. Jahrelang kämpfte sie gegen alle juristischen und bürokratischen Hürden, damit ihrem Sohn Vitor Santiago Gerechtigkeit wiederfuhr.
"Ich wurde gedemütigt, ich wurde von den Behörden als verrückt bezeichnet. Ich wurde missachtet und respektlos behandelt. Geholfen hat mir ein Anwalt. Ich habe Anzeige erstattet", erzählt Santiago:
Irone Santiago redet sich schnell in Rage, sie ist müde, immer wieder ihre Geschichte zu erzählen, tut es aber dennoch. Seit ihr eigener Sohn Opfer von Polizeigewalt wurde, engagiert sie sich in ihrem Viertel. Jahrelang kämpfte sie gegen alle juristischen und bürokratischen Hürden, damit ihrem Sohn Vitor Santiago Gerechtigkeit wiederfuhr.
"Ich wurde gedemütigt, ich wurde von den Behörden als verrückt bezeichnet. Ich wurde missachtet und respektlos behandelt. Geholfen hat mir ein Anwalt. Ich habe Anzeige erstattet", erzählt Santiago:
"Nach einem Monat sagte man mir, dass der Fall bei der Bundespolizei liege und dass ich mich später noch mal melden solle. Ein Jahr lang passierte nichts."
Mittlerweile wurden der Familie die Behandlungskosten erstattet. Weil Vitor Santiago mit 29 Jahren im Rollstuhl sitzt und nicht mehr arbeiten kann, bekommt er eine monatliche Frührente von rund 260 Euro.
Irone Santiago schildert, dass die meisten Opfer von Polizeigewalt nicht so weit kommen. Auch deshalb möchte sie weitermachen, andere Mütter dazu ermutigen sich zu engagieren. Sie kritisiert die Regierung und die Polizeieinsätze in den Favelas:
"Ich kann das nicht akzeptieren. Wenn du schweigst, dann rechtfertigst du die Taten des Staates und ich kann das nicht gutheißen. Ich habe einen schwarzen Sohn, mein Mann ist schwarz, meine Familie ist schwarz. Und diejenigen, die am meisten leiden, sind wir, die arm sind, schwarz sind und aus der Favela kommen."
"Ich kann das nicht akzeptieren. Wenn du schweigst, dann rechtfertigst du die Taten des Staates und ich kann das nicht gutheißen. Ich habe einen schwarzen Sohn, mein Mann ist schwarz, meine Familie ist schwarz. Und diejenigen, die am meisten leiden, sind wir, die arm sind, schwarz sind und aus der Favela kommen."
Vor allem die Helikoptereinsätze, die häufig auch in der Favela Maré stattfinden, findet Irone Santiago unverhältnismäßig:
"Ich weiß nicht, wie es in deinem Land ist, klar, wir wissen, es gab in Deutschland Hitler und die Nazis, aber gibt es bei euch auch Helikopter, die über deinem Kopf kreisen und aus denen geschossen wird?
"Ich weiß nicht, wie es in deinem Land ist, klar, wir wissen, es gab in Deutschland Hitler und die Nazis, aber gibt es bei euch auch Helikopter, die über deinem Kopf kreisen und aus denen geschossen wird?
Du hast heute Glück. Am Montag, um 11 Uhr, kam aus dem Nichts ein Helikopter angeflogen und begann zu feuern. Acht Menschen wurden umgebracht. Acht menschliche Wesen. ‚Aber das waren ja Verbrecher‘, sagen sie. Ach, wirklich?"
Für die Bewohner der Favelas sind rasche Informationen über solche Einsätze, konkrete Daten mit genauen Ortsangaben lebensentscheidend. Verlasse ich das Haus? Kann ich zur Arbeit oder zur Schule gehen? Ist meine Straße sicher?
"Wenn du an einem bestimmten Ort wohnst und dein Kind aus der Krippe abholen willst, kann ich dir nicht sagen: Meide diese Gegend", sagt Maria Isabel Couto: "Aber ich kann dir Informationen geben, damit du Dich so sicher wie möglich bewegen kannst. Eigentlich ist der Staat für die öffentliche Sicherheit verantwortlich, aber er kommt seiner Aufgabe nicht nach."
Den öffentlichen Raum sicherer machen
Maria Isabel Couto möchte mit der App "Fogo Cruzado" aber weder bestimmte Stadtteile, noch deren Bewohner stigmatisieren. Sie will damit auch Politiker dazu bringen, den öffentlichen Raum sicherer zu machen. Die Zahlen decken allerdings nur einen Teil der Schusswaffengewalt in Rio de Janeiro ab.
"Wir haben eine Dunkelziffer. Wir wissen, dass es einen Bereich gibt, den uns die Nutzer nicht melden", so Couto.
"Wir haben eine Dunkelziffer. Wir wissen, dass es einen Bereich gibt, den uns die Nutzer nicht melden", so Couto.
Welcher Bereich genau?
"Ist die Reportage für Brasilien oder Deutschland?", fragt Couto.
Für Deutschland.
Für Deutschland.
Couto sagt: "Ok. Die Milizen. Das ist schwierig zu kartieren. Gegenden, die komplett von den Milizen kontrolliert werden, da haben die Menschen Angst, Schießereien zu melden.
Wir wissen das, weil sich die Nutzer aus diesen Stadteilen anders verhalten, sie nutzen nicht die App, sondern melden die Informationen über andere Wege. Manche twittern, andere schicken uns lieber eine SMS."
Würde die Reportage in Brasilien gesendet, hätte Maria Isabel Couto auf diese heikle Frage nicht geantwortet. Es sei schwierig in Brasilien offen paramilitärische Milizen zu kritisieren.
Diese Gruppen bestehen aus ehemaligen und aktiven Polizisten, Beamten und Feuerwehrleuten. Sie finanzieren sich unter anderem durch Schutzgelderpressung, Drogen-und Immobilienhandel.
Seit der Wahl Bolsonaros 2018 treten die Milizen immer häufiger in Erscheinung. Immer wieder zeigen Journalisten Verbindungen zwischen ihnen, Bolsonaro und seinen Familienmitgliedern auf.
Vor allem der älteste Sohn, der Abgeordnete Flávio Bolsonaro steht im Fokus: Er hat häufig seine Sympathien für die Milizen zum Ausdruck gebracht.
Dazu kommt, dass ihm Verbindungen zu Adriano Magalhães da Nóbrega, Chef einer Miliz, nachgesagt werden. Er ist einer der Hauptverdächtigen im Mordfall Marielle Franco.
Die Politikerin hatte sich vehement gegen Einsätze der Militärpolizei im Inland und Polizeigewalt ausgesprochen und war den paramilitärischen Milizen deshalb ein Dorn im Auge. Der Mordfall ist bis heute nicht aufgeklärt.
Diese Recherche entstand mit Unterstützung der Agência Pública, einer regierungsunabhängigen Agentur, die in Brasilien investigative Reportagen publiziert und Journalisten fördert.
Diese Recherche entstand mit Unterstützung der Agência Pública, einer regierungsunabhängigen Agentur, die in Brasilien investigative Reportagen publiziert und Journalisten fördert.