Man stelle sich vor, man stünde im Dortmund-Trikot im Schalke-Block und die Borussia gewinnt 7:1. Oder man stelle sich Gregor Gysi vor, wie er im Thomas-Dehler-Haus mit den Liberalen zusammen das Scheitern der FDP an der Fünf-Prozent-Hürde im Fernsehen beobachtet. Ungefähr so fühlt es sich unter rund 200 brasilianischen Anhängern auf dem Largo Santa Cecilia, einem Platz in einem Mittelklasseviertel Sao Paulos an. Als Einziger im Deutschland-Shirt. In leuchtgelben Lettern „Alemanha" auf der Brust. Zu schüchtern um zu jubeln. Zu höflich um aufzuspringen. Nicht die Gastfreundschaft verletzen. Und innerlich doch platzend vor Begeisterung.
Inbrünstig singen anfangs die Besucher an den Plastiktischen noch die brasilianische Nationalhymne mit. Von einem heroischen Volk ist da die Rede und von einer Sonne der Freiheit, die das Vaterland funkeln lässt. Anschließend Gegröhle, Getröte, Gejohle. Endlich kann es losgehen. Der vorletzte Schritt zum langgehegten Traum des sechsten Titels. Des ersten Titels zuhause im eigenen Land. Zur Wiedergutmachung der Schmach von 1950. Dem verlorenen WM-Endspiel gegen Uruguay im Maracana-Stadion.
Und dann steht es nach weniger als einer halben Stunde 0:5. Das erste frühe Gegentor haben die Zuschauer noch gut weggesteckt. Klar, kann man umbiegen. Immer noch wird mitgefiebert, gesungen und getrötet. Doch als dann innerhalb von gerade mal sechs Minuten vier Gegentreffer fallen herrscht: Totenstille. Fassungslosigkeit. Entsetzen. Ungläubigkeit. Kopfschütteln an den Plastiktischen. Ist das real, was man gerade sieht? Oder träumt man nur? Ein Blick zum Nachbarn versichert: Ja, dieser Alptraum ist wahr.
Die Jacke ist mittlerweile halb geschlossen. Die Alemanha-Buchstaben ragen nur ganz leicht hervor. Auch wenn nach dem einzelnen kurzen Aufschrei beim 0:1 ohnehin alle wissen, das ein Fan der deutschen Elf unter ihnen weilt. Sicher ist sicher. Auch beim dringend anstehenden Gang auf die Toilette. Der Halbzeitplausch dort war bislang immer Gelegenheit für kurze, humorvolle Begegnungen. Doch ob das auch heute so ist?
Die Schlange ist lang. Möglichst betroffenes Gesicht machen. Am besten auf den Boden starren. Doch hier nicht angesprochen zu werden, ist unmöglich. „Das hätte ja selbst Mano Menezes besser gemacht." Ein älterer Mann im offenen, karierten Hemd, wünscht sich den vermeintlich unbeliebtesten Ex-Nationaltrainer Brasiliens zurück. Besser nichts groß erwidern. Nicht zu viel sprechen, sonst hört man den ausländischen Akzent. Im Fernsehen läuft ein Werbeclip eines Schnellrestaurants: „Schön, dass Du da bist", singt eine Frauenstimme darin. Na, ich weiß nicht.
Beim Händewaschen fällt das 0:6. Es wird nur noch zur Kenntnis genommen. Manche Verzweifelte zünden jetzt schon die Böller, die eigentlich für die Siegesfeier gedacht waren. Einige Leute verlassen ihre Plätze. Stunden vor Spielbeginn hatten sie sie mühsam ergattert. Im Stadion bejubeln die brasilianischen Fans schon die deutschen Ballstaffeten. Als das 0:7 fällt ist der Jubel größer als beim 1:7 Ehrentreffer der eigenen Mannschaft.
Nationaltorhüter Julio Cesar sagt nach der Partie: „ Ich verliere lieber 0:1 durch einen eigenen Fehler, als so." Abwehrspieler David Luiz ebenfalls unter Tränen: „Es ist ein Tag voller Traurigkeit. So ist das Leben." Der TV-Reporter schließt sich nüchtern an: „Deutschland war besser, wir müssen die Niederlage eingestehen." Als jemand den Fernseher ausstellt, braust erlösender Applaus auf. Die dann folgende Musik aus den Lautsprechern übertönt alles. Die Ersten tanzen sofort.