WM-Halbfinale 2014
Wie das 1:7 gegen Deutschland Brasilien verändert hat

Im WM-Halbfinale 2014 verlor Gastgeber Brasilien mit 1:7 gegen Deutschland. Für die Brasilianer war es eine schwerwiegende Niederlage. Das Spiel markierte einen Wendepunkt im Verhältnis der Fans zur Seleção und vielleicht sogar für das ganze Land.

Von Viktor Coco |
Ein brasilianischer Fan hat das Trikot über den Kopf gezogen und das Gesicht in den Händen vergraben.
Unter den brasilianischen Fans herrschte nach der 1:7-Niederlage im WM-Halbfinale 2014 gegen Deutschland Schockzustand. Die Niederlage hat das Land nachhaltig verändert. (picture alliance / Sven Simon / Franz Waelischmiller / SVEN SIMON)
"Herr Schiedsrichter, ich flehe Sie an, pfeifen Sie endlich ab", so der brasilianische Radiokommentator in den letzten Sekunden der 1:7-Niederlage der Seleção gegen Deutschland. "Ich habe gerade die größte Schande in der Geschichte des brasilianischen Fußballs kommentiert. Nie wieder wird man so etwas Abscheuliches sehen."
Pfiffe übertönen Fangesänge mit Treueschwüren, auf der Tribüne Blicke voller Wut und Schmerz. Das Estadio Mineirão in Belo Horizonte steht unter Schock, erinnert sich auch Béla Rethy, der das Spiel für das ZDF kommentierte: "Das war völlig surreal. Ich habe in meinen Schlusssätzen am Ende des Spiels gesagt, dass diese Niederlage etwas mit diesem Land machen wird. Das wird noch lange nicht abgehakt sein."

Trauerschleier über Brasilien

Am Folgetag erschienen Zeitungen mit schwarzer Titelseite – als Ausdruck für Enttäuschung und Sprachlosigkeit. Über Brasilien lag spürbar ein Trauerschleier. "7:1" – "Sete a um" ist in Brasilien seitdem ein geflügeltes Wort für üble Pleiten oder peinliche Katastrophen.
Titelseiten von brasilianischen Zeitungen nach dem 1:7 der brasilianischen Nationalmannschaft bei der WM 2014 gegen Deutschland.
Die Titelseiten der brasilianischen Zeitungen waren am Tag nach dem 1:7 der brasilianischen Nationalmannschaft gegen Deutschland schwarz gefärbt. (Victor Coco)
Nur in einem kleinen Zipfel des Landes wurde damals der Sieg der Deutschen bejubelt. Im Stranddorf Santo André im Süden des Bundesstaates Bahia haben die Einheimischen das Spiel positiv verewigt. "Unser Strand heißt bis heute '7:1'. Denn hier war das Mannschaftshotel von Deutschland, als sie Brasilien geschlagen haben." Rafael serviert Bier in einer der wenigen Hütten am kilometerlangen Strand. Hier, unweit des DFB-Quartiers von 2014 "Campo Bahia", weht zehn Jahre nach dem WM-Halbfinale noch immer eine Deutschlandfahne. 

"Hat das Gemüt der Brasilianer verändert"

Susete führt ein kleines Restaurant im Ort und hat beste Erinnerung an die deutsche Delegation. Aber das 1:7 hat auch sie damals sehr mitgenommen: "Ich glaube schon, dass es das Gemüt der Brasilianer verändert hat. Das war eine zu große Enttäuschung, riesige Trauer. Wir hatten das nicht verdient. Etwas hatte sich verändert. Die Begeisterung für den Fußball ist seitdem nicht mehr dieselbe."
Stolz und manchmal auch überheblich identifizieren sich die brasilianischen Fans mit den vielen Erfolgen des Rekordweltmeisters. Aber mit dieser Niederlage haderten sie genauso. "Wir sind ein sehr emotionales Volk und beim 7:1 waren wir zu passiv. Dem Land fehlte es an Durchschlagskraft." Köchin Susete klingt, als empfinde sie persönliche Verantwortung.
Eine typische Reaktion, sagt der brasilianische Sport-Historiker Bernardo Borges Buarque de Hollanda: "Bei Niederlagen wird landesweit nach Gründen gesucht. Und zwar von Fehlern auf dem Feld bis zu vermeintlichen nationalen Schwächen."

Auswirkungen des Sports auf die Gesellschaft messbar

Umgekehrt gibt es wie vielerorts messbare Auswirkungen der sportlichen Leistungen der Nationalteams auf das gesellschaftliche Gemüt. Auf den Weltmeistertitel 2002 etwa folgte unter Präsident Lula da Silva ein Jahrzehnt von wirtschaftlichem Wachstum und internationaler Anerkennung Brasiliens. Das Land wuchs zur sechstgrößten Volkwirtschaft der Welt.
"Es gibt auch diese Analogie der Boomjahre nach den Weltmeistertiteln 1958 und 1962. Damals herrschte großer Optimismus in der brasilianischen Gesellschaft dank der beiden Hauptexportgüter Sport und Musik. Und das ging einher mit einer starken wirtschaftlichen Entwicklung", sagte Borges.

Politisierung der Seleção

Vor der WM 2014 kam es dann unter Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff erstmals zu Missstimmungen, auch wegen der hohen Staatsausgaben für die Austragung des Turniers. Bernardo Borges spricht von einer Politisierung der Seleção. Das Verhältnis der Bevölkerung zur Mannschaft verschlechterte sich, kurz kaschiert durch die WM-Euphorie. Das 1:7 markierte einen endgültigen Wendepunkt.
Zwar gelang 2016 die sportliche Revanche gegen Deutschland durch den Sieg des olympischen Fußballturniers. Aber Brasilien war gleichzeitig politisch und wirtschaftlich nicht wie erhofft der Global Player geworden. Die Stimmung war mies, viele Menschen unzufrieden. Nicht mal das Nationaltrikot einte nun Brasilianer und Brasilianerinnen. 2018 wurde der Rechtsextreme Jair Bolsonaro Präsident.
Borges: "Dann kam Bolsonaro, der das Nationaltrikot für seine Anhängerschaft erobert. Das Trikot einte nicht mehr, sondern spaltete. Soweit, dass die ihm gegenüberstehenden linken Bewegungen auf Demonstrationen eher Vereinstrikots tragen, um sich vom Nationaltrikot abzugrenzen."

Vereinsfußball in Brasilien boomt

Aber die anhaltende Entfremdung zwischen Fans und Nationalelf hat noch mehr Gründe: Der brasilianische Vereinsfußball boomt in den letzten Jahren sportlich und finanziell. Die Identifikation der Fans mit ihren Klubs ist hoch und durch internationale Erfolge weiter gestiegen.
Eine Entwicklung, die sich im nächsten Jahr fortsetzen kann, erwartet Historiker Borges: "Jetzt ist eine große Klubweltmeisterschaft geplant. Das zeigt, dass die Bedeutung der Vereine weiter zunimmt und im Gegenzug die der Nationalmannschaft zurückgeht."

Bedeutung des Frauenfußballs steigt

Und auch der Boom des Frauenfußballs in Brasilien – zudem als Ausrichter der Weltmeisterschaft 2027 – habe die Männermannschaft als einzigen Ausdruck nationaler Identität weiter aus dem Fokus genommen.
Wahrscheinlich würde erst ein Weltmeistertitel der Männer die bittere Erinnerung des 1:7 endgültig wiedergutmachen und das leidenschaftliche Verhältnis zur Seleção wiederherstellen.