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Brasilien
Die Massenproteste ein Jahr danach

Genau vor einem Jahr waren Millionen Menschen auf Brasiliens Straßen. Eine Protestwelle durchzog das Land. Demonstranten lieferten sich heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Groß war die Angst, dass das während der Fußball-WM wieder geschehen würde.

Von Jonas Reese |
    Im Sonnenuntergang hält ein Mann die Flagge von Brasilien.
    Die Gründe für die Proteste bleiben bestehen. (picture alliance / dpa / Antonio Lacerda)
    Gut, dass es so kalt ist. Dann zittern den Polizisten vielleicht die Hände, wenn sie mit ihren Gummigeschossen zielen. Das sagt einer der 40 unabhängigen Beobachter in den gelben Westen, die hier an einer Kreuzung in Sao Paulos Innenstadt zusammenstehen und warten. Fast ausnahmslos tragen sie Fahrrad- oder Skihelm, eine Gasmaske lose um den Hals und Block und Stift in der Hand.
    "Wir versuchen, die Sicherheitslage der Demonstranten zu verbessern, besonders seitdem vor genau einem Jahr die Proteste hier in Brasilien so groß geworden sind, aber gleichzeitig eben auch die Repression dagegen vonseiten des Staates. Insofern war eine unabhängige Gruppe notwendig, die auf die Einhaltung der Gesetze achtet."
    Andre Zanardo ist einer der Advogados Ativistas -der Rechtsanwalt-Aktivisten. Ein Netzwerk von Juristen, die Demonstrationen begleiten, Vorfälle dokumentieren, um quasi die Polizei zu kontrollieren und die Rechte der Teilnehmer zu sichern. Die vergangenen Protestzüge in Brasilien, die vor einem Jahr ihren Anfang nahmen, sind fast ausnahmslos in Gewalt eskaliert.
    "In vielen Fällen werden Demonstranten festgenommen ohne echten Tatbestand. Beschuldigt wegen Sachbeschädigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Ungehorsam, aber ohne echte rechtliche Grundlage. Das hat sehr stark zugenommen seit Juni 2013. 250 Menschen sitzen heute im Gefängnis deswegen. Die Menschen wurden eingesperrt und dann erst wird ermittelt. Aus einem einfachen Grund: Damit diese Leute nicht mehr auf die Straße gehen."
    Verletzte Demonstranten beklagen massive Polizeigewalt
    Hundert Meter entfernt vom Treffpunkt der Anwälte sammeln sich die eigentlichen Demonstranten. Heute wird auch wieder gegen eine Tarifpreiserhöhung demonstriert. Genauso wie vor einem Jahr. Der Auftakt der landesweiten Unruhen. Damals wurden mindestens 20 Menschen festgenommen, Dutzende verletzt.
    Einer der Demonstranten ist Vinicius Duarte. Er hat die Polizeigewalt am eigenen Leib erfahren. Bei einer Demo im vergangenen Januar hatte der 27-Jährige Zuflucht in einem Hotel gesucht. Die Polizei befürchtete Randale darin und stürmte das Gebäude.
    "Die Polizei hat dann auf mich eingeprügelt. Nach einem Schlag auf den Kopf bin ich zu Boden gegangen, aber selbst dann haben sie noch weiter auf meinem Helm geschlagen. Dadurch hatte ich eine Schädelfraktur, sechs Zähne und viel Blut verloren, meine Nase war gebrochen."
    Seine Darstellung ist von verschiedenen Medien dokumentiert. Auch verschiedene Fotos von seinem zugerichteten Zustand sind im Internet noch zu finden.
    Auch damit das nicht wieder passiert sind die Rechtsanwälte um Andre Zanardo hier. Sie dokumentieren diese Dinge, um gegebenenfalls rechtliche Schritte gegen die Polizei einzuleiten. Die Gewalt, so hört man immer wieder, war es auch, die dafür gesorgt hat, dass heute bei weitem nicht mehr so viele Brasilianer an den Demos teilnehmen.
    Doch dieser Eindruck trügt ein wenig sagt Anwalt Zanardo.
    "Schwarzer Block" als Gegenpart zur Polizei
    "Insgesamt sind die Menschen nur zweimal in so großen Massen auf die Straße gegangen. Jetzt sind die Demos kleiner. Aber es gibt immer noch Millionen Menschen, die dafür häufiger auf die Straße gehen. Also wenn man sagt, die Proteste sind geschrumpft, ist das oft nur die eine Seite der Geschichte."
    Unter den Demonstranten sind heute viele Schwarzgekleidete und Vermummte. Sie nennen sich Schwarzer Block und sind augenscheinlich eine Mischung zwischen Anarchisten, Randalierern und Abenteurern. Sie sind sozusagen der Gegenpart der Polizei. Viele Demonstranten sagen sogar, der Schwarze Block beschütze sie vor der Polizei, meint Jurist Zanardo.
    "Wir sehen den Schwarzen Block als eine sehr kleine Gruppe an. Die übt keine Gewalt gegenüber Menschen aus, aber beschädigt öffentliche Gegenstände Bushaltestellen aber auch Banken. Und diese Gewalt wurde von den Medien dafür verwendet, um die Leute davon abzuhalten, auf die Straße zu gehen. "
    Dieses Mal ist rings um die Demo kaum ein Streifenwagen in Sichtweite. Die Sicherheitskräfte scheinen nicht mehr auf massive Präsenz zu setzen, sondern beobachten aus einigem Abstand. Mit Erfolg: Der Demo-Zug kommt heute bis an sein vier Kilometer entferntes Ziel und endet nicht vorher schon im Chaos.
    Auf dem Weg muss sich die Gruppe dann selbst im Zaum halten. Mehrere Male versuchen Vermummte entlang der Route Bankhäuser zu beschädigen. Stets werden sie von anderen Maskierten davon abgehalten.
    Zum Schluss gelingt es dennoch ein paar Vermummten in ein angrenzendes Autohaus einzudringen. Eine Million Euro Sachschaden, bis das gefürchtete Schock-Kommando der Militärpolizei mit Tränengasbomben anrückt. Am nächsten Tag beschuldigen sich wieder einmal beide Seiten unverhältnismäßig agiert zu haben. Bei der nächsten Demo vier Tage später stellt die Militärpolizei wieder ein Großaufgebot.