Brasiliens Nationalkongress im vergangenen April. Eine Parlamentskommission berät über den nationalen Bildungsplan, der für die nächsten zehn Jahre die Ziele und Strategien des brasilianischen Bildungssystems festlegen soll. Dass die Gemüter der Abgeordneten und einiger anwesender Interessengruppen so erhitzt sind, liegt vor allem an einem umstrittenen Punkt: Soll in dem Plan verankert werden, dass sich Brasiliens Schulen für Geschlechter-Gleichheit und gegen die Diskriminierung von Homosexuellen einsetzen sollen – oder nicht?
"Es gibt Bestrebungen, in diesen Plan eine gefährliche Geschlechter-Ideologie aufzunehmen. Die Schulen sollen den Kindern beibringen, dass es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt, dass sich Mann und Frau nicht ergänzen, und dass alle Sexualpraktiken erlaubt sind",
schimpft der Abgeordnete Antonio Bulhoes in der Fernsehsendung "Sprich – ich höre dir zu". Bulhoes ist nicht nur Politiker, sondern auch Bischof einer der größten Pfingstkirchen Brasiliens, der Igreja Universal do Reino de Deus. Der Parlamentarier gehört der sogenannten evangelikalen Fraktion im Kongress an, die mehr als siebzig Mitglieder hat – unter ihnen viele Pastoren. Die einflussreiche Fraktion steht für eine strenge Moralpolitik und verteidigt christliche Werte und Lebensformen wie die traditionelle Familie.
"Wenn diese Geschlechter-Ideologie Einzug in unsere Schulen hielte, hieße das, jede Art von sexueller Perversion zuzulassen, darunter Pädophilie, Homosexualität und Inzest. Diese Ideologie ist widernatürlich und, noch schlimmer, anti-christlich. Beten Sie für uns, die wir im Parlament die Institution der Familie verteidigen. Die Zukunft der brasilianischen Familie steht auf dem Spiel."
Wachsende Intoleranz
Was der Politiker vor seinem Fernsehpublikum als "gefährliche Geschlechter-Ideologie" brandmarkte, war – genau genommen – ein Artikel, der vorsah, die Gleichberechtigung aller Rassen, Regionen, Geschlechter und sexuellen Orientierungen im brasilianischen Bildungssystem zu fördern. Ende April stimmte der Kongress-Ausschuss gegen diesen Anti-Diskriminierungs-Artikel, er wird im neuen nationalen Bildungsplan nicht enthalten sein. Zu den Gegnern der Gender-Klausel gehörten nicht nur evangelikale Politiker, sondern auch Abgeordnete, die dem Katholizismus nahe stehen, der in Brasilien nach wie vor stärksten Konfession. Daniel Cara, Befürworter der Klausel und Koordinator der "Nationalen Kampagne für ein Recht auf Bildung", einer Nichtregierungs-Organisation, ist enttäuscht:
"Vorurteile gegenüber Homosexuellen sind weit verbreitet in der brasilianischen Gesellschaft, und die Schulen sollten dagegen arbeiten. Aber stattdessen wird nun das Machotum verstärkt. Wir wollten erreichen, dass die Diskriminierung von Homosexuellen in den Schulen thematisiert wird, um sie damit zu überwinden."
Dass konservative religiöse Gruppierungen in Brasiliens Politik immer mehr an Einfluss gewinnen, hängt nach Ansicht von Daniel Cara damit zusammen, dass die Gesellschaft insgesamt konservativer geworden sei.
"Unser Land, in dessen Gesellschaft es nach Ende der Militärdiktatur 1985 viele Freiheiten gab, wird heute immer intoleranter. Mit dem Aufstieg von Millionen von Brasilianern in die untere Mittelklasse hat sich auch die Zahl der konservativen Wähler erhöht. Ebenso stieg die Zahl der Anhänger evangelikaler Kirchen und katholisch-charismatischer Kreise. Die evangelikalen Kirchen haben heute großen Einfluss im Kongress. Im Wahlkampf vor vier Jahren sahen sich die beiden aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten gezwungen, ihre Programme den Moralforderungen der Kirchen anzupassen."
Die heutige Präsidentin und damalige Kandidatin der linken Arbeiterpartei, Dilma Rousseff, schrieb sogar einen Brief an die evangelikalen Kirchen – die Millionen von Wählerstimmen ihrer Mitglieder im Blick. Darin versprach Rousseff, sie würde keine Pro-Abtreibungs-Initiative ergreifen, und beruhigte die Gläubigen in Bezug auf ein geplantes Gesetz, das vorsah, die Diskriminierung von Homosexuellen unter Strafe zu stellen. Sie verpflichtete sich, keine Gesetzesparagrafen abzusegnen, die die Glaubens- und Meinungsfreiheit verletzen würden. Im vergangenen Jahr legte der Kongress das Projekt schließlich auf Eis. Einer, der das Anti-Homophobie-Gesetz erbittert bekämpfte, war der bekannte evangelikale Fernsehprediger Silas Malafaia.
"Dieses Gesetz wollte Homosexuelle nicht nur verteidigen, sondern ihnen Privilegien verleihen. Nur ein Beispiel: Ein schwules Paar küsst sich hier in meiner Kirche, und ich werfe es raus. Dafür wäre ich drei bis fünf Jahre ins Gefängnis gekommen",
empört sich Pastor Malafia, und lässt keinen Zweifel daran. Er will mitmischen in Brasiliens Politik.
Gefahr für laizistischen Charakter des Staates
"Unseren Kirchenmitgliedern empfehle ich ausdrücklich Kandidaten fürs Parlament, fürs Gouverneurs- und fürs Präsidentenamt. Meine Kriterien' Dass diese Politiker meine Prinzipien verteidigen, und dass sie für das Amt geeignet sind. Wir Evangelikalen sind heute fast dreißig Prozent von Brasiliens Bevölkerung, wir haben Gewicht."
Dem Religionssoziologen José Reginaldo Prandi von der Universität Sao Paulo behagt so viel religiöser Einfluss in der Politik nicht.
Dem Religionssoziologen José Reginaldo Prandi von der Universität Sao Paulo behagt so viel religiöser Einfluss in der Politik nicht.
"Die Abgeordneten der evangelikalen Fraktion verteidigen auch die materiellen Interessen der Kirchen. Die sind wegen ihrer enormen Spenden-Einnahmen unglaublich reich, aber zahlen keinen Cent Steuern! Mit mehr als einem Fünftel der Abgeordneten lässt sich viel Druck ausüben. Die Politiker sterben vor Angst, dass die evangelikalen Prediger den Gläubigen sagen könnten: Wählt den und den nicht, er ist des Teufels."
Manche Kritiker, darunter der bekannte katholische Befreiungstheologe Frei Betto, sehen wegen der starken religiösen Präsenz im Parlament sogar den laizistischen Charakter des Staates gefährdet. Doch es gibt auch die gegenteilige Position. So sagt der Politologe Joao Paulo Peixoto von der Universität Brasilia unumwunden: Die Evangelikalen hätten das Recht, ihre Positionen kundzutun und Vertreter in die Politik zu entsenden.