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Brasilien
Job-Börse oder Sklavenmarkt?

Hunderte Haitianer gelangen wöchentlich nach Brasilien. Auf der Suche nach Arbeit landen sie schnell in Sao Paulo. Dort werden sie häufig direkt von Unternehmen rekrutiert. Für Jobs, die Brasilianer nicht machen wollen.

Von Jonas Reese |
    Junge Männer auf Haiti betrachten ein Schiff, auf dem sich viele Flüchtlinge befinden.
    Junge Männer auf Haiti betrachten ein Schiff, auf dem sich viele Flüchtlinge befinden. (dpa / Benjamin J. Myers)
    Mit kerzengeradem Rücken steht Jonny im Schatten der Kirche "Unsere Mutter des Friedens" in einer ärmlichen Gegend Sao Paulos. Über dem Kragen seines blau-weiß geringelten Polo-Shirts leuchtet eine silberne Halskette. Sein Schnauzbart ist akkurat gestutzt. In der Hand hält der 30-Jährige eine etwas ramponierte Aktentasche. Ohne Inhalt, wie sich später herausstellen wird.
    "Ich bin vor 5 Tagen hier angekommen. Von Port-au-Prince ging es nach Panama, von da nach Ecuador, Bolivien und dann nach Brasilien. Drei Wochen war ich unterwegs. Insgesamt habe ich für die ganze Reise 3.500 Dollar bezahlt."
    Wöchentlich kommen rund 400 Flüchtlinge nach Brasilien
    Seit gut einem Monat kommen wöchentlich Medienberichten zufolge rund 400 Flüchtlinge über diese Route nach Brasilien. Die meisten von ihnen stammen wie Jonny aus dem erdbebengeplagten Haiti. Seit ein paar Wochen werden sie im Auftrag des Gouverneurs des Bundesstaates Acre in der Stadt Rio Branco im Nordwesten des Landes direkt in den Bus nach Sao Paulo gesetzt. Ohne Rückfahrschein. Und dann stehen sie erst mal hier neben der Kirche in der Rua Glicério und warten.
    "Ich brauche erst mal Arbeit. Wenn du arbeitest, ist alles gut. Hier gibt es viel Arbeit. Ich habe schon vorher auf Baustellen oder in der Landwirtschaft gearbeitet. Aber noch habe ich keine Arbeit, ich bin am Suchen."
    Das tun eigentlich alle hier. In kleinen Gruppen stehen sie auf dem Kirchenvorplatz zusammen. Fast ausschließlich junge Männer um die 30.
    Keine Erfahrung mit illegalen Einwanderern
    Zunächst wussten die Behörden in Brasilien nicht so recht, wie sie mit den Flüchtlingen umgehen sollen. Das Land hat kaum Erfahrung mit illegalen Einwanderern. Sie schliefen auf der Straße und bettelten, bis sich die Kirche einschaltete. Sie hat Massenunterkünfte und regelmäßige Mahlzeiten organisiert und die Presse mobilisiert.
    "Unsere Aufgabe ist es die Situation der Flüchtlinge zu verbessern. Zunächst war es natürlich wichtig eine Unterkunft für sie zu finden, zum Schlafen und Essen, dann haben wir uns um die Dokumente gekümmert und nun brauchen sie Arbeit. Über den medialen Druck, den wir aufgebaut haben, haben wir etwas ganz Wichtiges erreicht. Jetzt erhalten die Menschen hier innerhalb eines Tages ihre Arbeitsgenehmigung. Vorher hat es mal zwei, gar drei Monate gedauert."
    Kirche versucht die Situation der Einwanderer zu verbessern
    Padre Luis sitzt in seinem kahlen Büro der Kirchengemeinde. Computer, zahlreiche Papiere auf dem Schreibtisch, grelles Neonlicht. Strahlend weiße Wände – nur ein kleines Kruzifix erinnert hier an Kirche.
    "Vor der spirituellen Erfahrung kommt das reale Bedürfnis des Lebens: Sozialer Anschluss, Kultur, Arbeit und erst danach die Religion. Also ist es unsere Aufgabe dort zu helfen. Brasilianer wollen manche Jobs nicht machen. Und viele Firmen haben gute Erfahrungen mit Migranten gemacht. Oft bevorzugen sie sie sogar vor lokalen Arbeitern. Aber es kommen nicht nur Flüchtlinge aus Haiti hierher, sondern alle Migranten, die Arbeit suchen."
    Drei Mal die Woche veranstaltet die Gemeinde von Padre Luis zusammen mit einer Hilfsorganisation regelrechte Job-Börsen. Dort werden die Flüchtlinge gleich auf der Stelle rekrutiert.
    In der Aula der Gemeinde sitzen auf weißen Plastikstühlen rund 150 Migranten. Sie alle sind dunkelhäutig. An der Seite warten die möglichen Arbeitgeber in einer eigenen Sitzreihe. Heute sind insgesamt neun Unternehmen da. Sie kommen alle nacheinander nach vorne und stellen ihr Angebot vor.
    250 Euro im Monat
    Eine blonde Frau begrüßt die Haitianer auf Französisch, in ihrer Heimatsprache. Dann aber hilft ein Übersetzer. Sie sucht für eine Fleischfabrik im Süden des Landes rund 40 Arbeiter. Sie bietet Unterkunft, Essen und den Mindestlohn von umgerechnet rund 250 Euro pro Monat.
    Obwohl es im kalten, hunderte Kilometer entfernten Santa Catarina liegt, drängeln sich die Bewerber nach vorne. Die Unternehmerin wird ihre Stellen problemlos besetzen können.
    Gleich danach tritt eine kleine, kräftige, ältere Dame nach vorne. Sie trägt eine schwarze, modische Designer-Brille. Ihre glatten weißen Haare hat sie zu einem Dutt zurückgebunden. Resolut kommandiert sie ihren Begleiter herum. Sie sucht Näherinnen für ihren Betrieb. Auch sie will den Mindestlohn bezahlen. Für wie viele Stunden und wie ihre Firma heißt, will sie aber nicht verraten.
    Jobs, die Brasilianer nicht machen wollen
    Mittlerweile ist ein regelrechtes Gerangel ausgebrochen. Die Flüchtlinge konkurrieren um diese Jobs, die Brasilianer oft nicht machen wollen.
    Von all dem bekommt Jonny schon nichts mehr mit. Er sitzt etwas abseits an einem Tisch und füllt Dokumente aus. Ihm gegenüber sitzt eine junge, hübsche Frau - seine neue Arbeitgeberin. Er wird auf ihrem Anwesen als Hausmeister anfangen. Sie bezahlt ihm 50 Euro mehr als die 250-Euro Mindestlohn und bietet dazu Unterkunft und Verpflegung.
    "Ich hab ihn schon vor der Veranstaltung angesprochen und ich finde ihn sehr sympathisch. Er scheint sehr sensibel zu sein. Wir werden es ausprobieren."
    Ein Experiment. So scheint es auch Jonny zu sehen. Er wirkt etwas zurückhaltend.
    "Es fühlt sich schon etwas komisch an. Aber alles gut."