Archiv

Brasilien
Kunst und Kultur in den Favelas

Die Probleme Brasiliens bündeln sich in den Favelas, den städtischen Armensiedlungen. Gerade dort findet man aber auch erstaunliche Beispiele von Kulturinitiativen, mit denen die Bewohner ihre Stimme erheben.

Von Peter B. Schumann |
    Die Favela Rocinha am 02.12.2007 in Rio de Janeiro (Brasilien). Die Favela Rocinha im Süden Rios gilt mit ca. 250.000 Einwohnern als größtes Armenviertel in Lateinamerika.
    Ein Armenviertel in Rio: Auch ein Ort der Kreativität. (dpa / Peter Kneffel)
    Viel benötigt Lia Rodrigues nicht, um eine existenzielle Situation darzustellen: eine riesige Plastikplane, die quer im Raum liegt, nackte Körper und ein paar Wasserkugeln. Die Plane wird in heftige Wellenbewegungen versetzt, durch die Menschen hin- und hergewirbelt werden: Treibgut einer verantwortungslosen Gesellschaft. Dann fließen sie zusammen, wehren sich gemeinsam gegen die Naturgewalten, leisten Widerstand: Bilder von den zahllosen Demonstrationen gegen die brasilianische Regierung drängen sich auf.
    Pindorama heißt die neue Produktion von Lia Rodrigues, einer der bedeutendsten brasilianischen Choreografinnen. Vor einem Jahrzehnt hat sie sich in der Favela Maré, einem weitläufigen Komplex aus 16 Armenvierteln, angesiedelt. Und dann in einem Umfeld voller Gewalt begonnen, eine verlassene Fabrikhalle in ein Zentrum der Künste zu verwandeln.
    "Das geschah eher aus einem persönlichen Bedürfnis: ich musste etwas Anderes tun, wusste aber nicht genau was. Da machte mich meine Assistentin auf diesen Ort aufmerksam. Ich dachte dabei zunächst gar nicht an die Tanzcompagnie, ich war nur von dem Raum fasziniert und habe dann allmählich dieses Projekt zusammen mit der Selbstorganisation der Bewohner von Maré entwickelt."
    Heute sind in diesem Zentrum alle Künste zu Hause: ihre eigene Compagnie und die angeschlossene Tanzschule mit inzwischen 300 Schülern jeglichen Alters und Geschlechts. Es gibt Theateraufführungen, Fotoausstellungen, Musikveranstaltungen, Kunstwerkstätten, ein Kino sowie soziale Treffpunkte. Kultur, geschaffen für die Bewohner und von ihnen selbst. Kreativität, die den ganzen Stadtbezirk bereichert, in dem nahezu 120.000 Menschen leben.
    "Sie wollen uns loswerden,
    mit der Favela aufräumen,
    aber das vereinte Volk wird das nicht dulden.
    Santa Marta muss sich zusammenschließen,
    nur so ist der Feind angreifbar.
    Er ist der Freund des Gouverneurs,
    der Feind der Favela und ein Spekulant."
    Musik spielt in den Favelas eine große Rolle, vor allem bei Jugendlichen. Kleine Fußballplätze werden abends oft zur Bühne für Hip-Hopper wie Rapper Fiell. Sie wollen nicht unterhalten, sondern aufrütteln gegen einen Staat, der Millionen von nicht Begüterten jahrzehntelang vernachlässigt, an den Rand gedrängt hat. Dort, an der Peripherie der Gesellschaft, hat sich fast überall eine eigenständige Kultur gebildet. Einer ihrer bekanntesten Vertreter ist Sérgio Vaz. Er hat nicht nur berühmte Gedichte geschrieben, sondern auch eine neue Form von Kulturveranstaltung geschaffen, die sarau, die "offene Bühne" in einer Kneipe.
    "In der Peripherie gibt es keine Theater, keine Museen, keine Bibliotheken, keine Kinos. Die Kneipe ist der einzige öffentliche Raum, den uns die Regenten gelassen haben. Die haben wohl gedacht, dass wir uns dort zu Tode saufen würden, aber wir haben die Kneipen in Kulturzentren umfunktioniert, und jetzt ist das nicht mehr aufzuhalten, denn wenn es was in der Peripherie gibt, dann sind es Kneipen."
    Viele solcher normalerweise für Alkoholismus, Arbeitslosigkeit und Gewalt bekannten Orte sind im letzten Jahrzehnt in eine Art poetische Bühne verwandelt worden. Dort können Taxifahrer, Hausangestellte, Arbeiter oder eine junge Schauspielerin wie Naruna Costa ihre Talente beweisen.
    "Nein, ich trage keine Fahnen mehr, mein Herr.
    Ich lass auch keine Tauben fliegen, auf keinen Fall.
    Und erwarten Sie keine Tränen: sie sind längst versiegt.
    Denn der Frieden erscheint nur zu festgelegter Stunde,
    wenn der Präsident es will.
    Aber ich geh' nicht hin!
    Der Frieden ist reine Zeitverschwendung!
    Man sollte ihn verbieten. Verbieten!"
    Es ist eine Form der Slam-Poetry: Poesie als Waffe, als Ausdruck der Selbstbehauptung, als Akt des Widerstands oder auch nur als Möglichkeit unmittelbarer Kommunikation. Zur Kultur der Peripherie gehört auch der Film.
    Ein junger Mann wird vom Boss einer Drogengang erschossen, weil er nicht aussagen will. Sein Freund, der gar nichts weiß, wird mit Benzin übergossen und angezündet. Ein Polizist schaut zu. Gewalt und Korruption in einer Favela. Eine Situation, die es immer wieder gibt, hier nachgespielt in dem langen Episodenfilm "5 x Favela", jetzt von uns selbst gesehen.
    Eine Handvoll junger Filmemacher aus verschiedenen armen Stadtvierteln von Rio hat sich fünf verschiedene Kurzgeschichten einfallen lassen. Doch Gewalt und Drogengangs, die bisher meist als Stereotypen das Bild der Favela in Spiel- und Dokumentarfilmen geprägt haben, sind hier nur am Rand präsent. Es dominieren die alltäglichen Probleme in dramatischen und auch komischen Szenen. "5 x Favela" hat es sogar in die Kinos geschafft. Ansonsten zirkulieren zahllose filmische Erfahrungsberichte, Musikvideos und ästhetische Experimente auf DVD und im Internet. Die Jugend hat damit ein authentisches Bild auch ihrer selbst geschaffen und verbreitet es weit über die Peripherie hinaus.