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Brasilien
Politologe: Sorge wächst, dass Bolsonaro noch autoritärer wird

Wegen seines Verhaltens in der Corona-Pandemie gerate Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro zunehmend unter Druck, sagte der Politologe Oliver Stuenkel im Dlf. Damit wachse die Sorge, dass er noch autoritärer werden könnte. Die Zukunft des Landes hänge auch davon ab, wie sich das Militär positioniert.

Oliver Stuenkel im Gespräch mit Peter Sawicki |
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro
Gerät in der Corona-Pandemie zunehmend unter Druck: Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro ( dpa/ AP | Eraldo Peres)
Weltweit leidet Brasilien derzeit mit am stärksten unter Corona-Pandemie. Mehr als 3.000 Covid-19-Tote pro Tag meldete das größte Land Südamerikas zuletzt. Nicht wenige machen dafür Präsident Jair Bolsonaro persönlich verantwortlich. Der hat nun in der Woche vor Ostern sein Kabinett radikal umgebaut: Sechs Minister wurden ausgetauscht und dazu die Kommandeure des Heeres, der Marine und der Luftwaffe.
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"Ordnung, Wirtschaftswachstum und Moral" – so lauteten die Wahlversprechen Bolsonaros. Seit seinem Amtsantritt haben sich soziale und ökologische Konflikte dramatisch verschärft. Dann kam Corona.
Befürchtungen, Bolsonaro wolle sich auf diese Weise das Militär für eigene Zwecke gefügig machen, hält der Politikwissenschaftler Oliver Stuenkel von Universität Getulio Vargas in Sao Paulo für nicht unbegründet. Bolsonaro habe bereits in der Vergangenheit ganz unverhohlen sein Sympathie für ein autoritäre Regime geäußert. Wegen seinem Verhalten in der Corona-Pandemie wachse nun der politische Druck auf ihn. Darauf reagiere Boslonaro unter anderem dadurch, dass er sich noch stärker radikalisiere.
Der brasilianische Präsident schaut, mit Atemschutzmaske, während Sonnenuntergangsstimmung vor seiner offiziellen Wohnstätte, dem Avorada Palast in Brasilia, nach oben.
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Weltweit ist Brasilien nach den USA am schwersten von der Corona-Pandemie betroffen. Armut und strukturelle Probleme ebneten dem Virus den Weg. Doch vor allem erweist sich die Verharmlosungspolitik von Präsident Jair Bolsonaro als fatal.
Peter Sawicki: Die Opposition in Brasilien spricht ja davon, dass Bolsonaro möglicherweise einen Staatsstreich vorbereitet. Ist es wirklich so prekär derzeit?
Oliver Stuenkel: Ja, man muss sagen, dass Bolsonaro das nicht nur versteckt tut, sondern tatsächlich auch während der Kampagne schon 2018 ganz explizit gesagt hat, dass er das autoritäre Regime in Brasilien zwischen 1964 und 1985 besser findet als die Demokratie, dass er eigentlich davon träumt, den Kongress zuzumachen, dass alle Entscheidungskraft im Präsidentschaftspalast konzentriert werden sollte und hat immer wieder in den letzten zwei Jahren, seit er Präsident ist, versucht, tatsächlich auch den Kongress und den Obersten Gerichtshof zu bekämpfen, die Presse angegriffen.
In den letzten Wochen hat sich verstärkt, und er hat versucht, die Armee zu überreden – er spricht immer von seiner Armee, also es ist tatsächlich ganz wichtig für ihn, dass ihm das Recht gegeben wird, Lockdowns, die Gouverneure verhängen wollen, zu unterbinden mithilfe der Armee. Denn aus Bolsonaros Sicht sind die Lockdowns nicht für ihn politisch sinnvoll. Das hat dann dazu geführt, dass der Verteidigungsminister zurückgetreten ist, weil er gesagt hat, das ist ganz klar ein Versuch, die Armee politisch zu nutzen.

Angst vor einem Szenario wie nach den US-Wahlen

Sawicki: Also ist der Vorwurf berechtigt?
Stuenkel: Ja, denke ich auch, gerade deshalb, weil viele Angst haben, dass sich in Brasilien im nächsten Jahr, wenn Wahlen stattfinden, ein ähnliches Szenario aufkommen könnte, wie das in Amerika der Fall war, wo der Präsident die Wahl verliert, das aber nicht akzeptiert und es zu politischer Gewalt kommen kann – mit dem Unterschied, dass in Amerika die Armee ganz klar auf der Seite der Demokratie stand, das ist hier längst nicht so klar.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Sawicki: Noch mal vielleicht ganz kurz zu den ganzen personellen Wechseln, die es gegeben hat: Der Außenminister ist ja auch ausgetauscht worden, und er galt ja als ausgesprochener Hardliner, und einen neuen Gesundheitsminister gibt es auch seit einigen Tagen, der ja diesmal als Fachmann gilt. Kann man trotzdem dann sagen, dass das Ganze sich jetzt autoritärer gestaltet, oder sind das vielleicht auch Personalentscheidungen, die positiv zu werten sind?
Stuenkel: Es sind zwei Tendenzen: Zuerst mal wächst der politische Druck auf Bolsonaro schon. Im letzten Jahr trotz sehr hoher Todeszahlen, hat er es immer wieder geschafft, seine Zustimmungswerte relativ hoch zu halten. Jetzt beginnen die Brasilianer zu merken, dass sich die Situation hier sehr verschlechtert: Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen, nicht nur das öffentliche, sondern auch das private, und im Rest der Welt sieht die Situation besser aus.
Das hat dazu geführt, dass der Kongress gesagt hat, es muss eine klare Strategie geben. Es kann nicht einfach nur heißen, das Virus ist nächste Woche vorbei, oder wir müssen einfach fest daran glauben, dass sich nicht mehr so viele Menschen infizieren, sondern wir brauchen eine richtige Strategie. Die neue Führung im Kongress und auch im Senat hat klargemacht, dass es Bolsonaro die Unterstützung entziehen würde, wenn es nicht eine moderatere Gesundheitspolitik und auch Außenpolitik verfolgen würde – die Außenpolitik deshalb, weil die Kritik an Bolsonaro wächst, dass er nicht genug Impfstoff gekauft hat.

"Er hat sich jetzt auch radikalisiert"

Sawicki: Darauf ist Bolsonaro eingegangen.
Stuenkel: Darauf ist er eingegangen. Das liegt auch daran, dass sein ehemaliger Außenminister ein ausgewiesener Trump-Fan ist, der auch die Invasoren des US-Kapitols am 6. Januar angefeuert hat und bis heute nicht anerkannt hat, dass Biden wirklich die Wahlen gewonnen hat. Also wirklich sehr, sehr radikal auch gesagt hat, dass es den Klimawandel eigentlich gar nicht gibt. Und dass einfach in dieser neuen Konstellation in der Welt mit Biden im Weißen Haus der politische Druck und die Kosten, einen solchen Außenminister zu haben, einfach zu hoch sind.
Er ist also unter Druck, aber er hat sich jetzt auch radikalisiert, und dadurch wächst auch die Sorge, dass er jetzt noch autoritärer werden kann, weil in den nächsten Monaten es zu politischer Instabilität führen kann, gerade deshalb, weil sich die Lage hier leider mit der Pandemie noch weiter verschlechtern wird. Wir hatten jetzt in den letzten Tagen fast 4.000 Tote pro Tag, und wir kommen jetzt in den Herbst, sind bald im Winter, und viele Spezialisten gehen davon aus, dass das dann auf noch über 5.000 Tote pro Tag ansteigen kann.
Sawicki: Und wenn Sie sagen, dass es politisch instabiler werden könnte, was müsste man dann befürchten, was für Maßnahmen könnte Bolsonaro da ergreifen wollen?
Stuenkel: Es könnte zu Massendemonstrationen kommen. Das hat sich bisher noch nicht so ergeben paradoxerweise, weil die Pandemie so schlimm ist, dass sich viele Leute natürlich auch nicht raus trauen.
Sawicki: Gegen Bolsonaro oder zu seinen Gunsten?
Stuenkel: Die zu seinen Gunsten protestieren regelmäßig, weil die in der Regel keine Angst vor der Pandemie haben.

Künftige Position der Generäle unklar

Sawicki: Also seine Gegner könnten demonstrieren.
Stuenkel: Genau, dazu könnte es kommen, und es kann dazu kommen, dass der Kongress – das sind viele kleine Parteien, die in der Regel ideologisch nicht klar positioniert sind und da relativ opportunistisch agieren, die im Moment den Präsidenten unterstützen –, dass diese sich vom Präsidenten wegbewegen und es dann zu einem Impeachment-Verfahren kommen könnte. Das kann natürlich dann zu einer Situation führen, dass der Präsident versucht, den Kongress, die Legitimität des Kongresses zu bekämpfen.
Er hat ganz oft schon gesagt, dass es letztendlich mit einem Panzer oder einer kleinen Gruppe von Soldaten möglich wäre, den Kongress zu schließen. Das ist hier in der Region in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten immer wieder passiert und kann auch nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden. Da ist es auch immer dann wichtig, wie sich die Militärs natürlich positionieren. Und weil jetzt die Führer des Heeres und der Luftwaffe und so weiter neu sind, die alten sind jetzt alle zurückgetreten, muss man jetzt so ein bisschen sehen in den nächsten Tagen, wie die sich positionieren, gerade wenn Bolsonaro wieder etwas sagt, was, sag ich mal, der Grundlage der Demokratie widerspricht. Da muss man einfach sehen, wie stark seine Kontrolle jetzt über die Armee ist.
Sawicki: Was schätzen Sie, wie groß ist da die Unterstützung jetzt im Militär für Bolsonaro, und inwieweit hat sich das Machtgefüge insgesamt da verändert durch die neue Führung?
Stuenkel: Die Generäle stehen Bolsonaro eher kritisch gegenüber. Er war ja selbst auch in der Armee, ist dann relativ früh ausgeschieden wegen Disziplinarproblemen. Er ist sehr populär bei den jüngeren Soldaten, und je weiter man dann nach oben geht, desto skeptischer, denke ich, ist insgesamt die Situation. Er hat aber – und das sieht man immer wieder hier in Lateinamerika, auch in Venezuela in den letzten Jahrzehnten – den Militärs unheimlich viele Privilegien gegeben, zum Beispiel bei der Rentenreform, bei vielen Kürzungen in den letzten Jahren mussten die Militärs keine Einbußen akzeptieren.
Es gibt mittlerweile 6.000 Leute aus der Armee, die innerhalb der Regierung arbeiten, die verdienen dann quasi doppelt. Viele staatliche Firmen, unter anderem Petrobras, und auch Ministerien werden mittlerweile von Generälen geführt. Es sind mehr Militärs in der Regierung heute in Brasilien als während der Militärdiktatur. Das sind natürlich viele Privilegien, und sich solch einem Präsidenten zu widersetzen, hat dann auch persönlich finanzielle Konsequenzen. Insofern habe ich persönlich Sorge, dass viele Generäle dann, obwohl sie nicht mit allem, was Bolsonaro sagt, einverstanden sind, vielleicht dann noch zweimal nachdenken, bevor sie sich ganz klar vom Präsidenten distanzieren.

Bolsonaro aktuell für einen tatsächlichen Staatsstreich zu schwach

Sawicki: Also Stand heute, wie gefährlich ist die politische Situation in Brasilien?
Stuenkel: Es gibt zwei grundsätzliche Gefahren: Das Erste ist ein klassischer Putsch, so wie man das aus der lateinamerikanischen Geschichte ja leider auch sehr gut kennt, wie zum Beispiel 1992 in Peru, wo Fujimori gesagt hat, die Gefahren, die wir von Linksradikalen in unseren Städten konfrontieren, ist so groß, wir müssen den Kongress jetzt einfach zumachen. Dann sind wirklich tatsächlich Panzer zum Kongress gefahren und die Diktatur von Fujimori begann. Die andere Gefahr ist eine langsame Erosion der Demokratie, wie das in den letzten zwei Jahrzehnten in Venezuela stattgefunden hat, wo ja heute letztendlich die Militärs die Kontrolle haben, aber wo es kein spezifisches Datum gibt, an dem die venezolanische Demokratie, die ja sehr stabil war bis in die 90er-Jahre, wo die aufgehört hat zu existieren. Heute ist Venezuela aber keine Demokratie mehr.
Ich denke, die Gefahr, die erste Gefahr ist relativ gering. Das liegt auch daran, dass Bolsonaro heute zu schwach ist, um tatsächlich einen Staatsstreich durchzusetzen. Es gibt keine Frage, dass der das gerne möchte, er hat es auch im letzten Jahr versucht und wurde dann von seinen Generälen davon abgebracht in letzter Sekunde, den Obersten Gerichtshof zu schließen. Die zweite Gefahr ist, denke ich, größer, und das liegt daran – das kann man ja auch in Ungarn sehen, in der Türkei, auf den Philippinen –, dass das viele kleine Schritte sind und dass auch die Reaktion der internationalen Gemeinschaft dann natürlich nie so groß ist, weil das immer einfach viele kleine Schritte sind, die die Qualität der Demokratie verringern. Die Zahl der Militärs immer stärker anwächst, der Druck auf Journalisten immer größer wird, wo dann auch viele Forscher vielleicht sagen, okay, jetzt hab ich ein Angebot aus dem Ausland, ist vielleicht ganz attraktiv, nicht so sicher ist, was hier passiert. Diese Gefahr in Brasilien ist relativ groß, denke ich, und die wächst dann natürlich noch mehr, sollte Bolsonaro es schaffen, wiedergewählt zu werden. Dann hätte er noch weitere vier Jahre, um diesen Prozess fortzusetzen.

Lula könnte Bolsonaro herausfordern

Sawicki: Stichwort Wiederwahl, eine letzte Frage würde ich Ihnen gerne noch stellen: Nun ist ja Expräsident Lula da Silva aus dem Gefängnis herausgekommen, kann er Bolsonaro bei den kommenden Wahlen ernsthaft herausfordern?
Stuenkel: Ja, also es ist so, in den letzten zwei Jahren hatte Bolsonaro so gut wie keine Opposition. Das liegt daran, dass die brasilianische Regierung – also er hat auch starken Einfluss auf die Wirtschaft, das sind große staatliche Unternehmen –, dass viele kleine Parteien, die ideologisch nicht klar dastehen, in der Regel erst mal die Regierung unterstützen, weil es einfach auch aus finanzieller Sicht für die Parteien großen Sinn macht. Und Bolsonaro war so ein ungewöhnlicher Präsident, der einfach täglich Skandale produziert hat, dass die Parteien, die sich ihm widersetzt haben, nicht in der Lage waren, eine klare Strategie zu entwickeln, wie man gegen Bolsonaro vorgehen kann, und natürlich dann auch die größte Oppositionsfigur Lula erst im Gefängnis und dann ohne politische Rechte hat das sehr schwer gemacht.
Jetzt kann Lula wieder Kandidat sein, er ist aus dem Gefängnis raus, wird das, denke ich, auch machen und ist ganz klar der große Herausforderer und der Einzige, der in der Lage wäre, den Präsidenten zu schlagen in der Wahl im Oktober nächstes Jahr. Die Konsequenzen sind ganz interessant: Bolsonaro hat sich zum Teil schon etwas moderiert, hat zum Beispiel nie eine Maske getragen und wurde dann stark kritisiert bei dem ersten Diskurs von Lula, hat gesagt, das ist völlig unverantwortlich. Und dann ist am nächsten Tag tatsächlich Bolsonaro zum ersten Mal mit einer Maske aufgetreten, hat also Angst. Und ich denke, es gibt eine ernsthafte Möglichkeit, es ist sehr wahrscheinlich sogar, dass Lula und Bolsonaro sich dann im zweiten Wahldurchgang gegenüberstehen. Und dann kommt es auf viele kleine Faktoren an, die man in den nächsten Monaten sehen muss, wer dann die Oberhand gewinnt in dieser Stichwahl.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.