Sie sind von den Hügeln gekommen und den Außenbezirken – an Rios Postkartenstrand Ipanema. Dort erheben sie die Stimme, zum Sound der Favelas.
Hunderte sind es, die Fotos hochhalten, von jungen, meist schwarzen Männern. Hier, wo Rios Mittelschicht und Touristen flanieren, wollen sie ihren Alltag sichtbar machen, davon erzählen, was Tag für Tag an Rios Rändern passiert: "Parem de Nos Matar", steht auf einem großen Banner: "Stoppt, uns zu töten".
"Mein Sohn ist mit einem Kopfschuss getötet worden. Dabei gab es gar keinen Schusswechsel! Die Polizei kam und schoss ihm in den Kopf - an der Tür des Sozialprojekts, wo er mit seinem Unterricht die Kinder von der Straße geholt hatte."
Sandra Mara trägt sein Foto auf ihr T-Shirt gedruckt: Jean Rodrigo da Silva Aldrovande, getötet am 14. Mai 2019. Selbst Vater von vier Kindern. Er gab Jiu-Jitsu-Unterricht in einem Sozialprojekt des Complexo de Alemao, einer riesigen Favela im Norden Rios. Für seine Mutter war es eine Hinrichtung:
"Die Regierung, der Gouverneur schickt die Polizei, um zu töten. Um zu töten!"
Toter Bandit, guter Bandit
434 Menschen wurden im Bundesstaat Rio in den ersten vier Monaten des Jahres von der Polizei getötet, so viele wie seit 21 Jahren nicht. Der Anstieg fällt zusammen mit dem Amtsantritt von Jair Bolsonaro, der das Waffengesetzt liberalisierte und Dinge sagt wie: "Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit, erst schießen, dann fragen" – damit fing er Stimmen in dem Land, in dem 2017 über 60.000 Menschen ermordet wurden.
Jurema Werneck ist Direktorin von Amnesty International in Brasilien: "In Rio haben werden fast 30 Prozent aller Tötungen von Polizisten im Dienst verübt, das sind etwa sieben Tote pro Tag. Die Situation ist sehr ernst. Und dazu kommen Aussagen von unseren Autoritäten, die als eine Art Genehmigung für solche Praktiken dienen."
Auch Rios neuer Gouverneur, Wilson Witzel, steht in einer Linie mit Bolsonaro – Drogenhändler, findet er, sollten von Scharfschützen abgeschossen werden. Er gehört zu den Befürwortern der geplanten Justizreform: Demnach sei Polizisten Straffreiheit garantiert, wenn sie im Dienst töten. So sollen künftig auch "Angst, Überraschung oder extreme Gefühle" als Begründung ausreichen.
Straffreiheit herrscht de facto bereits heute, sagt Jurema Werneck: "99 von 100 Fällen werden nicht mal untersucht, Brasiliens Justizsystem und speziell das in Rio versagt heillos."
Marcia de Oliveira Silva Jacintho aus der Favela Lins wartet seit 2002 auf Gerechtigkeit. Ihr Sohn Hanry, damals 16, wurde mit einem Schuss aus zehn Zentimeter Entfernung getötet, mitten ins Herz – Schusswechsel mit einem Drogendealer, sagt die Polizei. Marcia begann selbst, nachzuforschen – und fand immer mehr Hinweise, dass es eine Hinrichtung war, die Polizei danach den Tatort manipulierte:
"Sie haben nicht erwartet, dass ich, diese schwarze Mutter aus der Favela, ihnen nachspüren würde. Stets haben sie gemordet, haben stets die Leichen durch die Gegend geschleppt, und nie ist ihnen deswegen was passiert. Warum? Weil die Familien der Ermordeten ja immer schon damit gerechnet hatten, dass ihre Kinder eines Tages erschossen werden. Das ist ja normal so. Und sie glauben, dass die Polizei das Recht hat zu töten. Selbst wenn sie unbewaffnet sind und sich ergeben. Die Polizei hatte ihr Alibi schon: Selbstverteidigung. Wer würde denn da schon dem nachgehen? Denn sie verbreiten ja Terror und Angst in der Favela."
Viele Polizisten stammen aus den Favelas
Vor der WM hieß das Konzept für Rios Favelas: Befriedung. Dabei ging es ursprünglich auch um soziale Projekte, Investitionen für Gegenden, in denen der Staat nie präsent war und Drogengangs einen Parallelstaat aufbauen konnten – doch erst fehlte der politische Wille, dann das Geld. Die Gewalt kam zurück.
Marcia weiß auch, dass viele Polizisten dabei unter enormem Druck stehen. Die meisten kommen selbst aus den Favelas, werden schlecht bezahlt – in den Institutionen herrscht Korpsgeist, aber es gibt kaum Vorbereitung auf den Einsatz im sogenannten Krieg gegen die Drogengangs. Im Jahr 2018 wurden im Bundesstaat Rio 92 Polizisten ermordet, 24 im Dienst.
"Die sprechen sich untereinander ab, manche müssen als Sündenböcke herhalten, wir wissen mittlerweile auch, dass Polizisten, die bei diesem Schema nicht mitmachen, von ihren Kollegen umgelegt werden."
Dabei ist Rio nur das Schaufenster Brasiliens – noch stärker treffe die Gewalt den Norden und Nordosten Brasiliens, sagt Jurema Werneck von Amnesty. "Was wir beobachten ist, dass die Regierung diese Angst der Bevölkerung zwar aufnimmt, die herrscht aufgrund der enorm angespannten Sicherheitslage im Land, aber sie manipuliert, in dem sie so tut, als gäbe es eine einfache Lösung: die der harten Hand, der Gegengewalt, des Hasses. Aber ich glaube, dass ein Großteil der Bevölkerung das ablehnt und andere Antworten fordert als die der Waffengewalt."
Unter der Regierung von Bolsonaro werde der Kampf für Gerechtigkeit noch schwieriger, sagt Marcia de Oliveira Silva Jacintho aus Rio – es sind Mütter wie sie, die Druck machen und Brasilien mit einer brutalen Realität konfrontieren, die verdrängt, ignoriert, verschwiegen wird.
"Es gibt hier keine Todesstrafe. Trotzdem tötet man jeden Tag Arme und Schwarze, Favela-Bewohner, das ist offensichtlich."