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Brasilien
Rousseffs Suspendierung "hat zu einer Schwächung der Demokratie geführt"

Bei der Suspendierung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff handelt es sich laut Kai Kenkel vom GIGA-Institut um einen Missbrauch des Impeachmentverfahrens. Rousseff sei eine der wenigen brasilianischen Politikerinnen, der Korruption nicht persönlich nachgewiesen werden konnte.

Kai Kenkel im Gespräch mit Dirk Müller |
    Die suspendierte brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff
    Die suspendierte brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff (dpa / picture-alliance / Cadu Gomes)
    Rousseffs Partei und Regierung sei "mit Sicherheit in Finanzverschönerung und Korruption verwickelt", so Kenkel. Aber um das Impeachmentverfahren zu rechtfertigen, hätte sie auf persönlicher Ebene korrupt handeln müssen und das sei ihr nicht nachgewiesen worden.
    Schwache Institutionen anfällig für Missbrauch
    Die Mehrheit des brasilianischen Parlaments sei unglaubwürdig. Schon lange habe es "eine imperfekte Demokratie" in Brasilien gegeben, die sehr personenbezogen funktioniere und in der die Institutionen schwach seien. Das sei "keine Demokratie, die sich gut gegen Missbrauch wehren kann." Kenkel sagte, eine politische Reform, die die Institutionen stärke, sei notwendig. Es gebe keine neutrale Instanz mehr und die Verfassung werde nach politischem Bedarf ausgelegt.
    Übergangspräsident Michel Temer wäre laut Kenkel in einer direkten Präsidentschaftswahl nicht wählbar, er habe bei der Kampagnenfinanzierung nicht sauber gearbeitet. Rousseffs Regierung und ihre Vorgänger als Regierungschefs an der Spitze der Arbeiterpartei hätten immerhin Fortschritte bei sozialer Gerechtigkeit erzielt und in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten viele Leute aus der Armut geholt und soziale Gerechtigkeit gefördert. Von Temer sei das nicht zu erwarten.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Empeachment, das kennen die meisten von uns vor allem aus den USA von Richard Nixon zum Beispiel oder auch von Bill Clinton. Ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten, gegen das Staatsoberhaupt. Genau das ist jetzt auch passiert in Brasilien, im größten, bevölkerungsreichsten, ökonomisch stärksten Land Südamerikas. Dilma Rousseff muss ihren Job an den Nagel hängen, vorerst zumindest, für 180 Tage. Der Senat hat mit klarer Mehrheit die umstrittene Staatspräsidentin suspendiert. Vorwurf: Korruption im Amt. Mit Hilfe der höchsten Richter des Landes sollen die Hintergründe jetzt geklärt werden. Das alles mitten in einer ganz großen wirtschaftlichen Krise und drei Monate vor den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro.
    Die Staatskrise in Brasilien, Dilma Rousseff muss ihr Amt aufgeben, vorläufig, für mindestens drei Monate. Der Vorwurf: Korruption. Darüber wollen wir nun mit dem Politikwissenschaftler Kai Kenkel sprechen, Professor am Institut für internationale Beziehungen in Rio de Janeiro. Wir erreichen ihn jetzt in Hamburg. Guten Morgen.
    Kai Kenkel: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Kenkel, hätten Sie auch Dilma Rousseff suspendiert?
    Kenkel: Es ist in diesem Fall, glaube ich, ein Missbrauch des Empeachment-Verfahrens. Sie ist ja eine der wenigen Politiker gewesen auf persönlichem Niveau, der nicht Korruption nachgewiesen werden konnte.
    Müller: Das heißt, Sie hätten sie nicht suspendiert?
    Kenkel: Ich halte es für eine problematische Schwächung der Institution der verfassungsmäßigen Maßnahmen, sie auf diese Art zu suspendieren. Nein, das hätte ich nicht getan.
    Müller: Ein großer Fehler der politischen Eliten?
    Kenkel: Es hat auf jeden Fall zu einer Polarisierung geführt. Es hat zu einer Schwächung der Demokratie geführt. Es wird auch meines Erachtens nicht zu einer Verbesserung der Korruption führen.
    Müller: Herr Kenkel, jetzt haben wir aber über Monate, die vergangenen Wochen und Tage natürlich vermehrt jeden Tag lesen können, sie soll korrupt sein. Sie sagen, sie ist nicht korrupt?
    Kenkel: Ihre Partei, ihre Regierung hat sich mit Sicherheit in Finanzverschönung und in Korruption verwickelt. Sie persönlich allerdings hätte, um dieses Empeachment-Verfahren zu rechtfertigen, auf persönlichem Niveau für schuldig befunden werden müssen.
    "Es ist ihr auf jeden Fall nicht nachgewiesen worden"
    Müller: Auch agieren müssen, und das, sagen Sie, ist zumindest nicht nachweisbar, oder halten Sie das für unmöglich, dass sie es gemacht hat, dass sie es angewiesen hat?
    Kenkel: Nein, ich halte es nicht für unmöglich. Es ist ihr auf jeden Fall nicht nachgewiesen worden. Man hat natürlich jetzt auch das Problem, dass diejenigen, die sie bewerten dort, diejenigen, die dieses Verfahren angeleitet haben, selber zu 60 Prozent im gesamten Parlament Verfahren wegen Korruption am Laufen haben.
    Müller: Ist die Mehrheit des Parlaments unglaubwürdig in Brasilien?
    Kenkel: Das auf jeden Fall. Die politische Klasse im Moment in Brasilien in allen drei Gebieten ist sehr problematisch, ja.
    Müller: Sie sind ja seit vielen Jahren in Brasilien, analysieren, beobachten das ganz genau. Sie sagen, im Moment. Ist das ein Ergebnis von ein paar Jahren, oder war das immer so?
    Kenkel: Es hat im Grunde schon seit Längerem eine sehr imperfekte Demokratie in Brasilien gegeben. Es hat bestimmte Maßnahmen gegeben schon in der Umstellung zur Demokratie nach der Militärdiktatur, die diese demokratischen Institutionen sehr schwach belassen haben und sehr personenbezogen, und in diesem Sinne ist es schwer zu sagen, dass man dort jetzt eine Demokratie hat, die sich gut gegen einen solchen Missbrauch wehren kann.
    Müller: Das heißt, der Neue, Michel Themer, der jetzt an die Stelle von Rousseff gerückt ist, zumindest jetzt für 180 Tage - auch gegen ihn gibt es Korruptionsvorwürfe -, der kann, meine Frage, die Sache jetzt auch nicht besser machen?
    Kenkel: Nein! Er wäre auch in einer direkten Präsidentschaftswahl nicht wählbar, denn er hat selber auch bei der Campagnenfinanzierung sich schuldig gemacht. Ich glaube auch nicht, dass er die Polarisierung, die jetzt entstanden ist in der brasilianischen Gesellschaft, auch durch den angekündigten Dialog wird sanieren können.
    "Es gibt ein sehr großes Misstrauen gegenüber der gesamten politischen Klasse"
    Müller: Reden wir über die politische, über die wirtschaftspolitische Kompetenz der Präsidentin. Da hat es immer sehr, sehr viel Kritik gegeben. Aber ist es vielleicht etwas einseitig zu sagen, dass nur die Konservativen jetzt wollen, dass Rousseff endlich verschwindet?
    Kenkel: Nein. Es gibt auch eine breite Schicht in der Bevölkerung, die Dilma Rousseff jetzt nicht mehr gerne im Amt sieht. Allerdings hört man generell, wie Sie schon sagten, es gibt ein sehr großes Misstrauen gegenüber der gesamten politischen Klasse. Das heißt, es gibt keine wirklich vereinende Figur, es gibt keine Figur, die jetzt diese Polarisierung überwältigen wird.
    Müller: Herr Kenkel, hat die jetzt geschasste, suspendierte Präsidentin Verdienste in der Politik? Hat sie Brasilien in irgendeiner Form, auf irgendeinem Feld weitergebracht?
    Kenkel: Sie selbst auf persönlichem Niveau vielleicht nicht, aber ihre Regierung hat sehr große Fortschritte bei der sozialen Gerechtigkeit gehabt. Innerhalb der letzten 12, 15 Jahre der Arbeiterpartei hat man 40 Millionen Leute aus der absoluten Armut geholt und die soziale Gerechtigkeit gestärkt. In dem Sinne ist es sehr anders als das, was der jetzige Präsident Themer auf dem Programm hat.
    Müller: Aber das wird, Herr Kenkel, doch jetzt, wenn Sie das sagen, viele wundern. Wir haben alle oder viele von uns jedenfalls noch die Bilder im Kopf, vor Augen. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 hat es ja massive Proteste gegen Rousseff gegeben. Das waren ja ärmere Leute, die da demonstriert haben und gesagt haben, wir sind nicht mehr Teil des Systems.
    Kenkel: Das ist generell gesehen die Mittelklasse gewesen, die 2013/2014 auf der Straße war, und es ist genau diese Mittelklasse in Brasilien, die sich in ihren Rechten und in ihren Errungenschaften bedroht sieht durch die Politik der Arbeiterpartei.
    Müller: Weil es eine Politik nur für die Ärmeren war, für die Arbeiter und nicht für die Mittelklasse?
    Kenkel: Nicht nur für die Arbeiter, aber auf jeden Fall mehr auf diese gerichtet und auf die armen, auf die sehr armen Schichten gerichtet als auf die Mittelklasse, ja. Es hat dort schon von vielen Eliten gesehen - einen Angriff auf die Mittelklasse gegeben.
    "Es ist auf jeden Fall eine politische Reform nötig"
    Müller: Jetzt werfen Sie ja dunkle Schatten auf das Land, Herr Kenkel. Sie haben gesagt, die Mehrheit des Parlaments sind korrupt und die Politiker, die zur Verfügung stehen, die nachfolgen könnten, die sind meistens auch korrupt. Das hört sich so an, als könnte Brasilien eher mal dicht machen und braucht einen kompletten Wandel, einen kompletten Wechsel?
    Kenkel: Es ist meines Erachtens auf jeden Fall eine politische Reform nötig, die diese Institutionen stärkt. Es gibt ja jetzt keine neutrale Instanz mehr. Es wird die Verfassung je nach politischem Bedarf ausgelegt, von beiden Seiten, und es ist nun nicht so, dass das Land sich so schnell wieder aus dieser Krise herausarbeiten wird. Die politischen und wirtschaftlichen Krisen sind sehr eng miteinander verflochten.
    Müller: Ich hatte zu Beginn meiner Themenübersicht gesagt, gefährdet das Ganze auch die Olympischen Spiele. Die Frage möchte ich nicht vergessen. Hat das Ganze jetzt Auswirkungen auf die Organisation, auf die Logistik, auf den Erfolg der Olympischen Spiele?
    Kenkel: Ich glaube, dass die Probleme, die das Land bei der Ausrichtung haben wird, nicht unbedingt nur mit der politischen Krise verbunden sind. Es handelt sich ja auch nur um eine Stadt, um Rio, und nicht um das ganze Land, und diese Stadt ist übrigens auch unter der Kontrolle eines Bürgermeisters von derselben Partei wie Michel Themer, der PMDB, Eduardo Paes.
    Müller: Der jetzt nicht korrupt ist, oder ist der auch korrupt?
    Kenkel: Ich hätte jetzt nicht dem eine weiße Weste gegeben, nein.
    Müller: Aber die Spiele werden trotzdem funktionieren, sagen Sie?
    Kenkel: Ich glaube, dass man das Nötige tun wird, dass sie in dem Moment gut funktionieren werden. Es sind bestimmte Bauarbeiten, bestimmte Infrastrukturarbeiten nicht vollendet worden. Es wird auf jeden Fall bestimmte Schwierigkeiten geben in der finanziellen Krise, diese auch sehr schnell zu beenden. Allerdings glaube ich, dass es bei der Sicherheit generell noch nicht zu Problemen kommen wird. Es werden natürlich weniger Gäste kommen wegen Sika und Dengue und auch zum Teil wegen der Verschmutzung der Bucht bei den Segelwettbewerben.
    Müller: Vielen Dank, dass Sie Zeit gefunden haben für uns heute Morgen - der Politikwissenschaftler Kai Kenkel, Professor am Institut für internationale Beziehungen in Rio de Janeiro. Vielen Dank und Ihnen noch einen schönen Tag.
    Kenkel: Gleichfalls.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.