Das sonntägliche Mittagessen findet bei Familie Passos traditionell vor dem Fernseher statt. Auf dem Couchtisch ihres Häuschens an der Lagune von Jacarepaguá am westlichen Stadtrand von Rio de Janeiro drängen sich Reis, schwarze Bohnen und Gegrilltes. Auf dem Flatscreen läuft eine Fußballübertragung. Da überlässt Inacia ihrem Mann und Sohn nur zu gern die Fernbedienung, betätigt sich ein bisschen in ihrem Vorgarten und genießt dort die seltene Stille:
"In der Woche hörst du den ganzen Tag den Lärm von der Großbaustelle da drüben. Meine Nachbarin kann schon nicht mehr schlafen. Ich denke, es sollte mal jemand von der Stadt kommen, um den Krach zu messen, nicht wahr."
Richtig laut wurde es im Stadtviertel Vila Autódromo früher nur, wenn auf der nahen Rennstrecke Nelson Piquet Formel-1-Boliden unterwegs waren. Heute baut man hier an schicken Apartmentblocks mit Blick in eine Lagunenlandschaft samt Jachthafen. Die Stadtverwaltung will die 300 Familien von Vila Autódromo deshalb umsiedeln. Die Abrissbirne habe bereits viele Lücken geschlagen, erzählt Inacia bei einem Streifzug durch ihr Viertel:
"Hier haben unsere Nachbarn gewohnt, die mochte ich sehr gerne. Aber das Haus ist weg, alle sind gegangen. Schaut doch, wie die Stadtverwaltung die Gemeinde behandelt, sie machen einfach weiter mit der Zerstörung, mittendrin in unserem Alltag."
Doch mürbe machen lässt sich Ignacia von den Schutthaufen ringsum nicht. Auch der Masseur Delton de Oliveira, der ein paar Häuser weiter wohnt, denkt nicht ans Wegziehen. Gerade bringt er einigen Jugendlichen bei, ihre Fahrräder zu reparieren. "Selbermachen" – das wurde hier in Vila Autódromo immer schon groß geschrieben. Bestes Beispiel: Vor zwei Jahren entwickelten die Anwohner einen eigenen Bebauungsplan für Ihr Stadtviertel. Von einer ausländischen Bank gab es dafür sogar einen hochdotierten Preis, von der Stadtverwaltung dagegen erneut eine Absage. Das Argument: Die Siedlung verhindere die Sanierung der Lagune. Delton hält das für eine Ausrede:
"Muss denn die Bebauung genauso verlaufen? Muss eine neue Schnellstraße wirklich quer durch unser Viertel führen? Es gibt ringsum soviel Dickicht, soviel ungenutztes Land, aber nein, die Straße wird genau dort geplant wo die Häuser der Armen stehen. Das ist die Realität."
Im städtischen Wohnungsdezernat herrscht derweil Ratlosigkeit. Wie soll man mit all jenen verfahren, die nicht gehen wollen? Eine Zwangsräumung komme jedenfalls nicht in Frage, versichert Ana Cristina Diegues, Leiterin der Abteilung Wohnungsbeschaffung:
"Niemand wird von uns zum Umzug gezwungen. Die Stadtverwaltung setzt da auf andere Lösungen. Wir bieten Entschädigungen an oder eine Wiederansiedlung im Rahmen des staatlichen Wohnungsprogramms "Mein Haus, mein Leben".
Nur einen Kilometer von Vila Autódromo entfernt lässt sich diese Variante besichtigen. Dort hat die Stadtverwaltung zwischen grünen Hügeln die Modellsiedlung Parque Carioca geschaffen. Vor dem Gemeinschaftsschwimmbad stehen an diesem Nachmittag Jugendliche Schlange. Etwas weiter hat es sich Rosilane das Dores auf einem Spielplatz bequem gemacht, um ihren Säugling zu stillen. Nein, sie habe eigentlich nicht aus Vila Autódromo wegziehen wollen, aber ihr Haus dort sei in einem schlechten Zustand gewesen:
"Wir hatten ständig feuchte Wände, kein Ort, um ein Baby großzuziehen. Als sie mich und meinen Mann fragten, ob wir nicht tauschen wollten mit einem Apartment hier, sagten wir 'ja'. Die neue Wohnung hat zwei Zimmer, Küche, Bad; Schimmel gibt es nicht. Ein Supermarkt und ein Kindergarten sind gleich um die Ecke."
Tatsächlich hat Brasilien im Jahr 2009 mit dem Programm "Mein Haus, mein Leben" ein ehrgeiziges Sozialbauprogramm aufgelegt. Allein in Rio de Janeiro sind dutzende Wohnprojekte entstanden, die zusammengenommen eine Kleinstadt bilden würden. Doch ist damit auch das sogenannte "Recht auf Stadt" erfüllt? Nein, sagt die Stadtforscherin Irene Mello. Zwar garantiere Brasilien das Recht auf Stadt in seiner Verfassung. Aber die konkrete Umsetzung sei problematisch - wie etwa im Fall der Vila Autódromo:
"Die Anwohnerorganisation dort war ein verschworener Haufen. Doch die Stadtverwaltung hat von Anfang an die Strategie verfolgt, die Wohnungsfrage zu individualisieren und einen nach dem anderen zum Umzug zu bewegen. Aber es gibt eben immer noch eine Gruppe, die sich wehrt."
Und diese Gruppe wartet in den kommenden Tagen auf einen wichtigen Termin: Eine Delegation des Verwaltungsgerichts hat sich angekündigt. Und die will verkünden, wann, wer wohin umgesiedelt werden soll. Die meisten Nachbarn wollen allerdings auch diesen Vorschlag ausschlagen und, falls nötig, umgehend Protestaktionen organisieren. Denn ihre Stadt, die befinde sich eben dort, wo sie jetzt lebt, bekräftigt Inacia:
"Wir sind es, die unser Recht einfordern müssen, verstehst du? Wir haben ein Recht auf Land, ein Recht auf Wohnraum. Und genau darum kämpft Vila Autódromo. Und wir werden das Recht bekommen, hier zu bleiben."