Klischees, schreibt Andreas Wunn, sind nicht unbedingt etwas Schlechtes, denn sie können helfen, ein Land kennenzulernen. Allerdings muss man diese Klischees kritisch beleuchten, wenn man das Land auch verstehen will. Und dieses Ziel verfolgt der Journalist mit seinem Buch "Brasilien für Insider".
"Es gibt verschiedene Kapitel über Samba, Fußball und Strand, aber eben auch über Politik, über Wirtschaft, über den Amazonas, über die Gefühlswelt der Brasilianer, über das Essen. Es soll eine ganzheitliche Betrachtung sein."
Und um es gleich vorweg zu sagen: Die ist ihm gelungen. Flüssig geschrieben, leicht lesbar und unterhaltsam ist das Buch ebenfalls. Andreas Wunn schreibt in der Ich-Form, will heißen, alles, was er beschreibt, hat er selbst erlebt - in Rio de Janeiro, in der Wirtschaftsmetropole São Paulo oder auf seinen Reportage-Reisen durch das Land, das 24 Mal so groß ist wie Deutschland und mit seinen 200 Millionen Menschen mehr als doppelt so viele Einwohner hat. Wunn nimmt Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen zum Anlass, die Besonderheiten Brasiliens vorzustellen. Die Brasilianer und Brasilianerinnen, die er trifft, stammen aus verschiedenen Regionen, sozialen Schichten und Berufen. Ihre Geschichten reichert der Autor mit historischen, politischen oder wirtschaftlichen Daten an.
Die Lebenswelt der Menschen aus den Armenvierteln, in Brasilien Favelas genannt, schildert er unter anderem am Beispiel von Rosangela, seiner Haushaltshilfe. Eines Morgens um halb fünf begleitet er sie im Bus auf ihrer täglichen, zweistündigen Fahrt zur Arbeit ins Copacabana-Viertel, im Herzen von Rio. Er schreibt:
"... mit elf Jahren fing sie an zu arbeiten. Ihre Mutter, die weder lesen noch schreiben konnte, wusch per Hand die Wäsche für sechzehn wohlhabende Familien im Stadtteil Copacabana. Rosangela half, die schmutzige Kleidung in großen Stoffbeuteln abzuholen und die frisch gewaschenen Hemden wieder abzuliefern. Die zehn Kleiderbügel in jeder Hand wurden immer schwerer und schnitten in die Haut, je länger sie im Bus stand. Mehrmals die Woche legte sie so den langen Weg von ihrer Favela weit draußen, in der sie aufwuchs, bis in Rios Südzone zurück. Copacabana kam der kleinen Rosangela wie eine völlig andere Welt vor. Sie fand die Gegend wunderschön und liebte den Anblick des Strandes. Auf den Straßen sah sie Menschen in eleganter Kleidung.
-Woran erinnerst du dich noch, Rosangela?
-Ich erinnere mich an den Geruch von gegrilltem Rindfleisch in Copacabana. Bei uns in der Favela gab es immer nur Fisch."
Nur in wenigen Ländern ist die soziale Ungleichheit ausgeprägter als in Brasilien, dies wird in Wunns Buch immer wieder deutlich. Obendrein ist Brasilien wie kaum ein anderes Land ein Schmelztiegel der Ethnien und Religionen. Wunn schreibt dazu:
"... kein anderes Land dieser Größe ist so bunt gemischt. Ein Brasilianer kann afrikanisch, asiatisch oder europäisch aussehen. Ich habe mal gehört, dass der brasilianische Pass deshalb viel öfter gestohlen wird als andere, weil ihn jeder benutzen kann, egal wie er aussieht. Auf jeden Fall geht oder ging die Integration hier schneller und reibungsloser als anderswo vonstatten."
Fußball als Bindeglied zwischen den sozialen Schichten
Und hier kommt der Fußball ins Spiel. Jeder im Land interessiert sich dafür, jeder Brasilianer, jede Brasilianerin begeistert sich für einen Fußballverein.
"Ich glaube schon, dass der Fußball ein Identität stiftendes Element ist, wie so viele andere Elemente in dieser sehr ungleichen und sehr heterogenen Gesellschaft. Der Strand ist so ein Element, der Fußball, der Karneval, ... das Essen, ich glaube schon, dass es einige Elemente gibt, die ich auch alle in dem Buch angesprochen habe, die dieses Volk zusammenhält, und Fußball ist sicherlich die stärkste Kraft."
Andreas Wunn beschreibt die Sonnenseiten Brasiliens, die unvergleichliche geografische Lage etwa, die Rio de Janeiro zu einer der schönsten Städte der Welt macht, die Freundlichkeit der Brasilianer, die Leichtigkeit, mit der sie durch den Tag zu gehen scheinen, und er schwärmt für das Essen und die Musik. Er geht der Entstehung des berühmten Bossa Nova ebenso nach wie der des Nationalgerichtes feijoada, dessen Grundlage ein Schwarze-Bohnen-Eintopf ist, doch er beschreibt auch die Korruption und den Rassismus:
"Der ist nicht so gut organisiert, wie vieles nicht so gut organisiert ist wie in anderen Ländern. Es gab nie einen politischen Rassismus, es gab nie eine echte Apartheid mit getrennten Trinkbrunnen zum Beispiel, aber es gibt den Rassismus im Alltag, und die Schwarzen sind krass benachteiligt in fast allen sozialen Bereichen, in der Bildung vor allem. Über fünfzig Prozent der brasilianischen Bevölkerung ist schwarz, und nur sechs Prozent der Studenten an den Unis sind schwarz. Es gibt kaum schwarze Akademiker in Brasilien, schwarze Mediziner, schwarze Architekten, schwarze Anwälte, da ist der Rassismus sehr deutlich zu sehen."
Der Fußball ist für Andreas Wunn nicht nur ein Element, das die verschiedenen ethnischen Gruppen verbindet:
"Er ist auch, gerade für schwarze Männer, die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, den es so vielleicht noch in der Musik gibt, aber sonst in vielen Bereichen in der brasilianischen Gesellschaft eben nicht."
Während des Confederations Cup im vergangenen Jahr war es in achtzig brasilianischen Städten zu Sozialprotesten gekommen. Über eine Million meist junger Leute der Mittelschicht hatte gegen teure Fußballstadien protestiert und mehr Investitionen in die Infrastruktur, in Schulen, Universitäten oder Krankenhäuser gefordert. Auch diese Proteste, deren Anliegen Umfragen zufolge von 80 Prozent der Brasilianer unterstützt wird, beschreibt Wunn in seinem Buch.
Seit Jahren bemüht sich die Polizei, die vom bewaffneten Drogenhandel beherrschten Armenviertel, die Favelas, zu befrieden. Diese Versuche sind vielerorts von Erfolg gekrönt, und Wunn schildert, dass die Menschen dieser Viertel nun endlich wieder ohne Angst auf die Straße gehen und ein normales Leben führen können. In etlichen Favelas jedoch war die Polizei bislang noch nicht erfolgreich:
"Gerade vor der WM geht die Polizei sehr rigoros vor, und es sterben oft Unbeteiligte. Die Ausschreitungen in den letzten Wochen war der Protest gegen die Polizeigewalt, weil die Menschen in den Favelas sehr wütend darüber sind."
Wer wissen möchte, wie die Welt jenseits der Fußballstadien aussieht, in denen ab dem 12. Juni die Weltmeisterschaft ausgetragen wird, ist mit "Brasilien für Insider" sehr gut bedient. Und für diejenigen, die noch mehr über das Land der Selecão erfahren möchten, hat Andreas Wunn eine Liste zum Weiterlesen parat.
Andreas Wunn: Brasilien für Insider. Nahaufnahme eines Sehnsuchtslandes. Wilhelm Heyne Verlag, München 2014, 223 Seiten, 14,99 EUR.