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Brasilien vor der Wahl
Was ist von der Protestbewegung geblieben?

Am Sonntag wählt Brasilien ein neues Staatsoberhaupt. Hinter dem Land liegen harte Wahlkampfwochen, die auch von der Protestbewegung beeinflusst waren. Einige Themen der Demonstranten wurden von den Präsidentschaftskandidaten aufgegriffen, um andere machten die Kandidaten einen großen Bogen. Was ist von der Protestbewegung geblieben?

Von Victoria Eglau | 04.10.2014
    Zweikampf in Brasilien: Amtsinhaberin Dilma Rousseff und ihrer Herausforderin Marina Silva
    Zweikampf in Brasilien: Amtsinhaberin Dilma Rousseff und ihrer Herausforderin Marina Silva (AFP PHOTO / Miguel SCHINCARIOL)
    "Das Problem der verbreiteten Unsicherheit, einer der Auslöser der Proteste, ist in diesem Wahlkampf diskutiert worden. Weil die grassierende Kriminalität viele Brasilianer beschäftigt, haben einige Präsidentschaftskandidaten Vorschläge gemacht: etwa eine nationale Sicherheitspolitik auf den Weg zu bringen, oder ein Ministerium für öffentliche Sicherheit zu schaffen."
    Sagt Cláudio Couto, Politologe von der Getulio Vargas-Stiftung. Doch die Demonstranten forderten im Juni 2013 auch bessere staatliche Schulen und Krankenhäuser, aber die Themen Bildung und Gesundheit kamen in den Fernsehdebatten der Präsidentschaftskandidaten kaum vor. Weil im föderalen Brasilien die Bundesstaaten und Kommunen dafür zuständig seien, wo morgen auch gewählt wird, hätten vor allem lokale Kandidaten diese Themen aufgegriffen, sagt Cláudio Couto. Die Mehrheit der Brasilianer sehe aber das niedrige Niveau des Bildungssystems gar nicht als Problem, meint der Soziologe Simon Schwartzmann:
    "Wenn in Meinungsumfragen nach den Problemen Brasiliens gefragt wird, wird die Bildung nicht genannt. Für einen großen Teil der Bevölkerung reicht es, dass ihr Kind in der Schule ist. Es ist ja erst gut zwanzig Jahre her, dass überhaupt alle brasilianischen Kinder zur Schule gehen. Die Eltern waren oft noch Analphabeten. Was eine gute Schulbildung bedeutet, wissen also die meisten nicht."
    Um einige Themen, die in Brasiliens Gesellschaft für Kontroversen sorgen, etwa die Frage einer Legalisierung der Abtreibung oder die Rechte von Homosexuellen, schienen die Kandidaten einen großen Bogen zu machen. Der Grund: die Angst, Wähler zu verprellen. Sich offen für ein Abtreibungsrecht oder die Homo-Ehe auszusprechen, kann bedeuten, dass die evangelikalen Kirchen, deren Einfluss auf die brasilianische Politik groß ist, ihre Millionen von Mitgliedern zum Boykott eines Kandidaten aufrufen. Der Religionssoziologe Reginaldo Prandi:
    "Alles was progressiv und modern ist, ist für die Pfingstkirchen Teufelszeug. Die brasilianischen Politiker sterben vor Angst vor den Evangelikalen. Angst, dass die Prediger den Gläubigen sagen könnten: Wählt den und den nicht, er ist des Teufels."
    Präsidentschaftskandidatin Marina Silva, die für die Sozialistische Partei antritt und selbst einer evangelikalen Kirche angehört, entfernte - offenbar auf Druck aus religiösen Kreisen - aus ihrem Regierungsprogramm eine Passage, die mehr Rechte für Schwule und Lesben vorsah. Unter anderem deswegen werfen ihr viele inzwischen Widersprüchlichkeit vor. Der Shooting-Star, der in den Umfragen zeitweise gleichauf mit Amtsinhaberin Dilma Rousseff gelegen hatte, verlor zuletzt an Zustimmung. Silva hatte sich nach der Protestwelle des vergangenen Jahres öffentlich mit dem Bürgerfrust identifiziert und eine neue Art von Politik versprochen. Politologe Cláudio Couto:
    "Von den Brasilianern, die 2013 auf die Straße gingen, wird ein Teil Marina Silva wählen. Doch ein anderer Teil sieht sie inzwischen mit gewissem Misstrauen, wegen ihrer politischen Widersprüche und Zwiespältigkeit. Es ist nicht mehr auszuschließen, dass statt Silva der Sozialdemokrat Aécio Neves in die zweite Wahlrunde einzieht."
    Die Chancen von Präsidentin Dilma Rousseff auf eine Wiederwahl sind den Umfragen zufolge gestiegen, auch wenn sie es wohl nicht im ersten Wahlgang schaffen wird. Nicht zuletzt diverse Korruptionsskandale haben ihrer Arbeiterpartei geschadet. Doch die 66-Jährige steht, trotz der Probleme ihrer Regierung, darunter einer schwächelnden Wirtschaft, auch für die Sozialprogramme, die ihr Vorgänger Lula da Silva einführte und die sie selbst fortsetzte. Rund dreißig Millionen Brasilianer stiegen dadurch in die Mittelschicht auf.
    "Die Brasilianer wollen zwar Veränderungen, aber sie wollen nicht verlieren, was sie gewonnen haben. Dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Armut deutlich verringert wurde, hat zwar die Ansprüche der Gesellschaft erhöht. Aber zugleich zeigen sich viele Wähler vorsichtig: Sie wollen keine Veränderungen um der Veränderungen willen."