Falter: Guten Tag.
Breker: Herr Falter, die SPD rühmte sich lange Zeit, die Partei der sozialen Gerechtigkeit zu sein. Im Rückblick vielleicht nicht zu Unrecht. Nun aber stellt sich die Frage: Was ist heute noch sozial gerecht im Anblick der immensen Arbeitslosigkeit? Brauchen wir, braucht die SPD eine neue Definition von sozialer Gerechtigkeit?
Falter: Soziale Gerechtigkeit war immer auch eine Leerformel, die mit Inhalt gefüllt werden musste. Der Inhalt konnte dann einerseits eine Gleichverteilung oder eine bevorzugte Förderung von denen, denen es besonders schlecht geht, sein. Oder aber soziale Gerechtigkeit in dem Sinne, dass die Tüchtigen einen entsprechenden Lohn erhalten. Es gibt keine klaren eindeutigen Gerechtigkeitsvorstellungen, noch nicht einmal bei der SPD. Da gab es nur so etwas wie ein Grundgefühl. Dieses Grundgefühl war: Wir sind für die Schwachen da, wir müssen den Schwachen helfen, und wir müssen durch den Sozialstaat die notwendigen Umverteilungen leisten. Das galt als sozial gerecht. Aber soziale Gerechtigkeit kann tatsächlich nur greifen, wenn die notwendigen Mittel dazu da sind. Wenn in der Volkswirtschaft also das erwirtschaftet wird, was umverteilt wird. Und das haben wir nicht mehr.
Breker: Muss man denn angesichts der hohen Arbeitslosigkeit neue Kriterien für "sozial gerecht" hinzufügen?
Falter: Man muss vielleicht die alten etwas schärfen. Man muss also sagen, dass es gravierend sozial ungerecht ist, wenn sich jemand in die soziale Hängematte zurückzieht, wenn er auf Kosten anderer ein wenn auch bescheidenes Leben lebt, vielleicht mit Schwarzarbeit noch etwas aufgepäppelt. Das muss verhindert werden. Da sind sich mittlerweile eigentlich alle einig. Das sind aber nicht die normalen Fälle. Das sind Ausnahmefälle, wenn auch möglicherweise in hunderttausendfacher Ausführung. Bei den normalen Fällen haben wir tatsächlich das Problem, dass man in erster Linie dort kürzen muss, wo die Ausgaben sind. Das geht in das Mark sozialdemokratischer Gerechtigkeitsvorstellungen hinein. Zumindest in das der Traditionalisten. Die Reformer haben ja sichtlich andere Gerechtigkeitsvorstellungen. Sie sagen, gerecht ist, was auch die Leistungsfähigen nicht zu stark belastet.
Breker: Herr Falter, Sie haben das selbst angesprochen: Gerechtigkeit ist auch ein Gefühl, eine Emotion. Kann man so etwas einer Partei von oben aufoktroyieren?
Falter: Wenn man politische Führung will, wenn man in einer Situation ist, wo Reformbedarf sehr drängend ist - und er ist auf zwei Ebenen drängend, die ständig miteinander vermischt werden: einerseits der Ebene der Arbeitslosigkeit und der Beschäftigung, andererseits aber auf der Ebene dessen, dass man die demografische Zeitbombe, die immer schneller tickt, benennen könnte, die Tatsache also, dass in zwanzig Jahren unsere Sozialsysteme überhaupt nicht mehr finanzierbar sein werden, dass sie zusammenbrechen, wenn wir heute nicht etwas tun -, wenn also diese Führungsaufgabe da ist - und sie ist klar erkennbar -, dann muss man auch versuchen, einer Partei, die es nicht von unten erarbeitet, von oben die Richtung zu geben. Erst die Köpfe zu gewinnen und über die Köpfe dann vielleicht doch auch die Herzen.
Breker: Sie haben auch den Reformdruck angesprochen, welcher ja eigentlich auch Konsens ist. Er muss nicht als Führungsstärke benannt werden. Vielleicht mangelt es daran, dass nicht gesagt wird, wohin denn die Reise gehen soll.
Falter: Das ist eines der Hauptprobleme. Es ist bisher nicht gelungen, der bundesrepublikanischen Bevölkerung klarzumachen, dass es uns mit jedem Jahr, das wir warten, in einer sehr nahen Zukunft sehr viel schlechter gehen wird, dass die Versäumnisse von heute sozusagen in einer vervielfachten Verschlechterung in der Zukunft bestehen. Man muss also klar sagen: Der Sozialstaat ist nur zu retten, wenn wir ihn an die demografische Entwicklung anpassen. Wenn wir versuchen, Arbeit anders zu verteilen. Wenn wir sagen: Wir müssen alle den Gürtel ein wenig enger schnallen. Und wenn dahinter so etwas wie ein Gesamtkonzept stünde. Ich glaube aber, dieses Gesamtkonzept haben sehr wenige. Es existiert in der von der FDP vertretenen radikaleren, stark liberalisierten Form. Die SPD hat aber dieses Gesamtkonzept nicht, und deswegen kann Schröder es bisher auch nicht vorgeben.
Breker: Bei der Union gibt es das auch sehr wenig. Kann man sagen, dass insgesamt die Lösungskompetenz der Parteien in den Augen der Bürger schwindet?
Falter: Ja, das lässt sich empirisch wunderbar nachweisen. Wir haben in den letzten anderthalb bis zwei Jahrzehnten einen langsam aber stetig wachsenden Prozentsatz von Leuten, die nicht mehr einer der großen Parteien zutrauen, mit den Zukunftsproblemen und den großen Gegenwartsproblemen fertig zu werden. Das ist ein durchaus bedrohliches Zeichen. Früher sagte man: Wenn die eine Partei es nicht schafft, dann wählen wir eben die Opposition im System, nämlich die andere Partei. Die soll dann beweisen, ob sie es besser kann. Wenn aber immer mehr Wähler glauben, dass sowohl die Regierung als auch die Opposition es im System nicht schaffen, wird das irgendwann für das demokratische System bedrohlich. Möglicherweise kommen dann die großen Vereinfacher, die sagen: Wir werden euch dorthin bringen, wo ihr hinwollt oder euch dorthin zurückbringen, wo ihr euch wohlgefühlt habt. Ich denke an populistische Bewegungen, wie sie zum Beispiel Pim Fortuyn in den Niederlanden vertreten hat. Das drängt die großen Parteien womöglich immer mehr in den 30-Prozent-Turm und macht die Bundesrepublik fast regierungsunfähig.
Breker: Ein wenig ähnelt die Situation bei uns der in Italien in den 80er Jahren, wo man die so genannten "italienischen Verhältnisse" hatte. Die Menschen dort sagten: Eigentlich ist es mir egal, wer mich regiert. Es tut sich sowieso nichts.
Falter: Im Augenblick ist es den Menschen zwar noch nicht egal, wer regiert. Man hat sich doch in einer ganz kleinen Mehrheit der Bevölkerung bei den Sozialdemokraten immer noch besser aufgehoben gefühlt. Das ist allerdings deutlich im Schwinden begriffen, unter anderem von der Regierung selbst mit verantwortet, da nach der Bundestagswahl keine Linie klar erkennbar war. Jetzt tritt aber an diese Stelle nicht die CDU, so dass man sagen könnte: Bei der Union sind wir besser aufgehoben, sondern die Skepsis wächst. Gott sei Dank ist es noch nicht zu einer Ablehnung des Systems gekommen, aber das liegt auch daran, dass bei uns bisher kein Haider aufgetreten ist. Der hätte bestimmt Zulauf.
Breker: Eine Systemkrise haben wir noch nicht, sagen Sie, aber die Freundschaft zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie ist angesichts dieser Reformdiskussion und dieses Vorgehens des Kanzlers doch in Gefahr. Endet hier eine wunderbare Freundschaft von einst?
Falter: Das gab es früher auch schon. Auch unter Helmut Schmidt gab es Spannungen mit den Gewerkschaften. Eigentlich immer dann, wenn die Regierung unpopuläre Maßnahmen einleiten oder der Bundestag unpopuläre Gesetze verabschieden muss, die in den Besitzstand der Gewerkschaften hineingehen. Dann kriselt es. Das betrifft aber nicht alle Gewerkschaften. Einige Gewerkschaften stehen durchaus hinter dem Kurs des Bundeskanzlers. Ich denke zum Beispiel an Herrn Schmoldt, an die IG Bergbau, Chemie. Dort ist klar erkennbar, dass ein anderes Denken vorherrscht. Mit der IG Metall und Teilen von ver.di hat die SPD es sich wohl auf längere Zeit verdorben.
Breker: In den Informationen am Mittag im Deutschlandfunk war das Professor Jürgen Falter. Er ist Parteienforscher an der Universität Mainz. Für Ihre Einschätzung, Herr Falter, bedanke ich mich.
Falter: Bitte sehr.
Breker: Herr Falter, die SPD rühmte sich lange Zeit, die Partei der sozialen Gerechtigkeit zu sein. Im Rückblick vielleicht nicht zu Unrecht. Nun aber stellt sich die Frage: Was ist heute noch sozial gerecht im Anblick der immensen Arbeitslosigkeit? Brauchen wir, braucht die SPD eine neue Definition von sozialer Gerechtigkeit?
Falter: Soziale Gerechtigkeit war immer auch eine Leerformel, die mit Inhalt gefüllt werden musste. Der Inhalt konnte dann einerseits eine Gleichverteilung oder eine bevorzugte Förderung von denen, denen es besonders schlecht geht, sein. Oder aber soziale Gerechtigkeit in dem Sinne, dass die Tüchtigen einen entsprechenden Lohn erhalten. Es gibt keine klaren eindeutigen Gerechtigkeitsvorstellungen, noch nicht einmal bei der SPD. Da gab es nur so etwas wie ein Grundgefühl. Dieses Grundgefühl war: Wir sind für die Schwachen da, wir müssen den Schwachen helfen, und wir müssen durch den Sozialstaat die notwendigen Umverteilungen leisten. Das galt als sozial gerecht. Aber soziale Gerechtigkeit kann tatsächlich nur greifen, wenn die notwendigen Mittel dazu da sind. Wenn in der Volkswirtschaft also das erwirtschaftet wird, was umverteilt wird. Und das haben wir nicht mehr.
Breker: Muss man denn angesichts der hohen Arbeitslosigkeit neue Kriterien für "sozial gerecht" hinzufügen?
Falter: Man muss vielleicht die alten etwas schärfen. Man muss also sagen, dass es gravierend sozial ungerecht ist, wenn sich jemand in die soziale Hängematte zurückzieht, wenn er auf Kosten anderer ein wenn auch bescheidenes Leben lebt, vielleicht mit Schwarzarbeit noch etwas aufgepäppelt. Das muss verhindert werden. Da sind sich mittlerweile eigentlich alle einig. Das sind aber nicht die normalen Fälle. Das sind Ausnahmefälle, wenn auch möglicherweise in hunderttausendfacher Ausführung. Bei den normalen Fällen haben wir tatsächlich das Problem, dass man in erster Linie dort kürzen muss, wo die Ausgaben sind. Das geht in das Mark sozialdemokratischer Gerechtigkeitsvorstellungen hinein. Zumindest in das der Traditionalisten. Die Reformer haben ja sichtlich andere Gerechtigkeitsvorstellungen. Sie sagen, gerecht ist, was auch die Leistungsfähigen nicht zu stark belastet.
Breker: Herr Falter, Sie haben das selbst angesprochen: Gerechtigkeit ist auch ein Gefühl, eine Emotion. Kann man so etwas einer Partei von oben aufoktroyieren?
Falter: Wenn man politische Führung will, wenn man in einer Situation ist, wo Reformbedarf sehr drängend ist - und er ist auf zwei Ebenen drängend, die ständig miteinander vermischt werden: einerseits der Ebene der Arbeitslosigkeit und der Beschäftigung, andererseits aber auf der Ebene dessen, dass man die demografische Zeitbombe, die immer schneller tickt, benennen könnte, die Tatsache also, dass in zwanzig Jahren unsere Sozialsysteme überhaupt nicht mehr finanzierbar sein werden, dass sie zusammenbrechen, wenn wir heute nicht etwas tun -, wenn also diese Führungsaufgabe da ist - und sie ist klar erkennbar -, dann muss man auch versuchen, einer Partei, die es nicht von unten erarbeitet, von oben die Richtung zu geben. Erst die Köpfe zu gewinnen und über die Köpfe dann vielleicht doch auch die Herzen.
Breker: Sie haben auch den Reformdruck angesprochen, welcher ja eigentlich auch Konsens ist. Er muss nicht als Führungsstärke benannt werden. Vielleicht mangelt es daran, dass nicht gesagt wird, wohin denn die Reise gehen soll.
Falter: Das ist eines der Hauptprobleme. Es ist bisher nicht gelungen, der bundesrepublikanischen Bevölkerung klarzumachen, dass es uns mit jedem Jahr, das wir warten, in einer sehr nahen Zukunft sehr viel schlechter gehen wird, dass die Versäumnisse von heute sozusagen in einer vervielfachten Verschlechterung in der Zukunft bestehen. Man muss also klar sagen: Der Sozialstaat ist nur zu retten, wenn wir ihn an die demografische Entwicklung anpassen. Wenn wir versuchen, Arbeit anders zu verteilen. Wenn wir sagen: Wir müssen alle den Gürtel ein wenig enger schnallen. Und wenn dahinter so etwas wie ein Gesamtkonzept stünde. Ich glaube aber, dieses Gesamtkonzept haben sehr wenige. Es existiert in der von der FDP vertretenen radikaleren, stark liberalisierten Form. Die SPD hat aber dieses Gesamtkonzept nicht, und deswegen kann Schröder es bisher auch nicht vorgeben.
Breker: Bei der Union gibt es das auch sehr wenig. Kann man sagen, dass insgesamt die Lösungskompetenz der Parteien in den Augen der Bürger schwindet?
Falter: Ja, das lässt sich empirisch wunderbar nachweisen. Wir haben in den letzten anderthalb bis zwei Jahrzehnten einen langsam aber stetig wachsenden Prozentsatz von Leuten, die nicht mehr einer der großen Parteien zutrauen, mit den Zukunftsproblemen und den großen Gegenwartsproblemen fertig zu werden. Das ist ein durchaus bedrohliches Zeichen. Früher sagte man: Wenn die eine Partei es nicht schafft, dann wählen wir eben die Opposition im System, nämlich die andere Partei. Die soll dann beweisen, ob sie es besser kann. Wenn aber immer mehr Wähler glauben, dass sowohl die Regierung als auch die Opposition es im System nicht schaffen, wird das irgendwann für das demokratische System bedrohlich. Möglicherweise kommen dann die großen Vereinfacher, die sagen: Wir werden euch dorthin bringen, wo ihr hinwollt oder euch dorthin zurückbringen, wo ihr euch wohlgefühlt habt. Ich denke an populistische Bewegungen, wie sie zum Beispiel Pim Fortuyn in den Niederlanden vertreten hat. Das drängt die großen Parteien womöglich immer mehr in den 30-Prozent-Turm und macht die Bundesrepublik fast regierungsunfähig.
Breker: Ein wenig ähnelt die Situation bei uns der in Italien in den 80er Jahren, wo man die so genannten "italienischen Verhältnisse" hatte. Die Menschen dort sagten: Eigentlich ist es mir egal, wer mich regiert. Es tut sich sowieso nichts.
Falter: Im Augenblick ist es den Menschen zwar noch nicht egal, wer regiert. Man hat sich doch in einer ganz kleinen Mehrheit der Bevölkerung bei den Sozialdemokraten immer noch besser aufgehoben gefühlt. Das ist allerdings deutlich im Schwinden begriffen, unter anderem von der Regierung selbst mit verantwortet, da nach der Bundestagswahl keine Linie klar erkennbar war. Jetzt tritt aber an diese Stelle nicht die CDU, so dass man sagen könnte: Bei der Union sind wir besser aufgehoben, sondern die Skepsis wächst. Gott sei Dank ist es noch nicht zu einer Ablehnung des Systems gekommen, aber das liegt auch daran, dass bei uns bisher kein Haider aufgetreten ist. Der hätte bestimmt Zulauf.
Breker: Eine Systemkrise haben wir noch nicht, sagen Sie, aber die Freundschaft zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie ist angesichts dieser Reformdiskussion und dieses Vorgehens des Kanzlers doch in Gefahr. Endet hier eine wunderbare Freundschaft von einst?
Falter: Das gab es früher auch schon. Auch unter Helmut Schmidt gab es Spannungen mit den Gewerkschaften. Eigentlich immer dann, wenn die Regierung unpopuläre Maßnahmen einleiten oder der Bundestag unpopuläre Gesetze verabschieden muss, die in den Besitzstand der Gewerkschaften hineingehen. Dann kriselt es. Das betrifft aber nicht alle Gewerkschaften. Einige Gewerkschaften stehen durchaus hinter dem Kurs des Bundeskanzlers. Ich denke zum Beispiel an Herrn Schmoldt, an die IG Bergbau, Chemie. Dort ist klar erkennbar, dass ein anderes Denken vorherrscht. Mit der IG Metall und Teilen von ver.di hat die SPD es sich wohl auf längere Zeit verdorben.
Breker: In den Informationen am Mittag im Deutschlandfunk war das Professor Jürgen Falter. Er ist Parteienforscher an der Universität Mainz. Für Ihre Einschätzung, Herr Falter, bedanke ich mich.
Falter: Bitte sehr.