"Alles ist Regietheater" war einer der am häufigsten geäußerten Lehrsätze des vergangenen Jahres und Schuld daran war Daniel Kehlmann. Der Schriftsteller hatte der großen Festspielstadt Salzburg zu einem kleinen Sturm im Wasserglas verholfen, als er zum Auftakt der Festspiele in deutlichen Worten das zeitgenössische Regietheater in den Boden stampfte. Das Problem dabei war nicht nur, dass Kehlmann sich als jemand outete, der gar nicht ins Theater geht. Den Kritiker Stefan Keim, der auch Mitglied der Theatertreffen-Jury ist und also weit herumkommt, habe ich gefragt: Hat uns diese Debatte irgendwie weitergebracht oder klüger gemacht?
Stefan Keim: Nein, in keiner Weise. Das war wirklich die überflüssigste Debatte dieses Jahres, wenn es diesen Preis gibt, eben deswegen, weil da nur die bereits vorhandenen Argumente noch mal wiedergekäut wurden und das zum größten Teil sogar auf einem niedrigeren Niveau, als es schon vorher getan worden ist. Also, diese Debatte hat uns in keiner Weise irgendetwas Neues gebracht, sie hat nur vielleicht gezeigt, dass die Medien bereit sind, auf diese Debatten über das Theater ganz groß einzusteigen und die Beschäftigung mit dem Theater selbst, mit den Aufführungen – was ja nicht immer über Kritiken sein muss – immer weiter runtergefahren wird. Und das finde ich eine bedenkliche Sache, was unsere eigene Arbeit angeht.
Fischer: Dann lassen Sie uns zu dem heiteren Städte-Hopping kommen, das in diesem Jahr stattgefunden hat. Viele Theater haben neue Intendanten bekommen, in Hannover beim Thalia Theater, in Hamburg, in Leipzig oder Frankfurt, wir können hier nur auf die ganz großen eingehen und ich schätze mal, Stefan Keim, der Neustart von Matthias Hartmann in Wien ist zumindest ein guter Anwärter für den Flop des Jahres?
Keim: Ja, wobei man das ja immer etwas weiträumiger sehen muss, denn was Matthias Hartmann hier in Wien leistet, sind ja nicht nur die eigenen Regiearbeiten, sondern er macht ja wirklich ein Programm, wo er Leute versammelt in einer Vielfältigkeit, wie es das kein Stadttheater in Deutschland zurzeit leistet. Das Burgtheater ist natürlich auch was anderes, aber neue Stücke von Roland Schimmelpfennig, Regie Alvis Hermanis, Thomas Vinterberg, der dänische Filmemacher, inszeniert hier im nächsten Jahr, David Bösch, dieser junge Regisseur, und Kooperationen mit Off-Theatern bis hin zum Nature Theater of Oklahoma aus den USA – das ist einfach eine Bandbreite, wo schon einfach so viele interessante Aufführungen auch herauskommen, dass ich also Matthias Hartmann im Burgtheater auf keinen Fall als Flop werten würde. Denn da ist einfach so viel Substanz da, weil er es eben als großer Kulturmanager, der er ja ist – vielleicht kein großer Regisseur, aber ein großer Manager –, einfach versteht, alles zusammenzuballen, was es eben gerade Interessantes in der deutschen Theaterszene gibt.
Fischer: Dem gegenüber versucht beim Deutschen Theater in Berlin Ulrich Khuon, der aus Hamburg kam, sozusagen mit seinem alten Team zu reüssieren.
Keim: Und das ist genau das, was mich sehr überrascht hat, denn nicht nur, dass das in Berlin nicht ankommt, sondern dass die Qualität auch so gesunken ist. Ich glaube, dass Ulrich Khuon es durchaus schaffen wird, denn die sind ja jetzt nicht alle schlecht geworden, Andreas Kriegenburg und Gotscheff und wen er da alles mitgebracht hat, und Thalheimer, die inszenieren jetzt ja alle bei ihm, also auch da eine Anhäufung der großen Namen. Und er hat ja auch inhaltlich ein interessantes Konzept gehabt, die Auseinandersetzung mit der sogenannten Dritten Welt, das ist ja immer ein schrecklicher Begriff, oder mit dem, was vom Kolonialismus in uns übriggeblieben ist, das ist ja wirklich spannend gewesen, aber doch sehr kurz gedacht, und irgendwo – ich glaube, dieser riesige Erwartungsdruck scheint Theatermacher auch zu lähmen. Ich stelle fest, dass die Sachen, die mir in dieser Saison wirklich etwas gebracht haben, oft die kleinen Formen waren und oft auch aus den kleineren Städten kamen.
Fischer: Lassen Sie uns kurz noch einen Satz zu Zürich sagen, das ist vielleicht am Schluss dieser Reihe der Neustarts noch einen Blick wert.
Keim: Ja, wobei das gerade da interessant ist, denn ... Es ist natürlich auch interessant, was im Schauspielhaus passiert, aber meine letzten Besuche in Zürich galten beide dem Theater am Neumarkt. Gut, einmal hat da Martin Kusej mit Birgit Minichmayr inszeniert, das sind natürlich auch wieder große Namen. Aber Barbara Weber hatte eine völlig irre Filmperformance gemacht, "Baby Jane", nach einem Melodrama aus den 60er-Jahren, in einem abbruchreifen Haus am Stadtrand, wo man mit der Tram hinfährt, mit der Straßenbahn, und das Theater am Neumarkt ist ein gutes Beispiel dafür, wie aus einem viel kleineren Zusammenhang größere Impulse erwachsen.
Fischer: Es geht ja die Rede davon, dass eigentlich wieder mehr Geschichten erzählt werden auf dem Theater, außerdem hat natürlich die Finanzkrise thematisch in diesem Jahr eine große Rolle gespielt. Ja, was für neue Formen haben Sie entdeckt, woher kommen derzeit – jenseits dieser kleineren Bühnen – die Impulse für die Bühne?
Keim: Geschichten erzählen, das macht auf eine ganz aufregende Art für mich der Nachwuchsdramatiker des Jahres, das ist Jan Neumann, das ist ein junger Mann, der als Schauspieler angefangen hat. Als Letztes lief von ihm "Fundament", eine Auseinandersetzung mit Religion und Extremismus, in Stuttgart. Das ist jemand, der mit den Schauspielern zusammen seine Texte erarbeitet, aber am Ende merkt man das nicht, denn er schafft es, in diesen wenigen Wochen eine literarische Qualität zu erreichen, die großartig ist und trotzdem spürt man noch, dass es die Schauspieler mit entwickelt haben, dass es ihre ganz eigene Sache ist. Geschichten erzählen ist die eine Sache, es gibt immer noch neue Formexperimente. Was ich in der Richtung am spannendsten zurzeit finde, ist Herbert Fritsch. Der entwickelt eine Art neue Commedia dell'arte, eine völlig durchgeknallte, unglaublich komödiantische, artistische Form des Theaters, die einen wahnsinnigen Energiepegel von vorne bis hinten durchhält. Und die entwickelt er nicht an den großen Häusern, sondern an Häusern wie Oberhausen, Wiesbaden und Halle.
Fischer: Lassen Sie uns zum Schluss noch den positiven Schlusspunkt setzen. Was war für Sie die beste Inszenierung oder was waren vielleicht zwei beste Inszenierungen des Jahres?
Keim: Für mich die spannendsten Sachen waren zwei völlig unterschiedliche Arten, mit Klassikern umzugehen. Andrea Breths, "Zerbrochener Krug" bei der Ruhrtriennale – ich habe dieses Stück schon so oft gesehen und hier habe ich wirklich jedes Detail plötzlich verstanden. Das ist so liebevoll ausgemalt, wirklich in die kleinsten Kleinigkeiten hineingeleuchtet. Man braucht Sitzfleisch, man braucht auch da eine gewisse Energie, um das auch durchzuhalten und ausgeruht sein und Wachheit, aber das finde ich, was die klassische Klassikerpflege angeht, ein absolutes Highlight. Dagegen von Karin Bayer den "König Lear" – völlig aufgebrochen, nur mit Frauen besetzt, ein ganz wildes Bildertheater, in Köln, sehr rau, sehr ruppig, sich diesem Stück in seiner ganzen Hässlichkeit auch gestellt, das sind zwei ganz verschiedene, gegensätzliche Arten, Klassiker zu inszenieren, die mich beide begeistert haben.
Fischer: Der Kritiker Stefan Keim über die Tops und Flops des Theaterjahres. Vielen Dank!
Stefan Keim: Nein, in keiner Weise. Das war wirklich die überflüssigste Debatte dieses Jahres, wenn es diesen Preis gibt, eben deswegen, weil da nur die bereits vorhandenen Argumente noch mal wiedergekäut wurden und das zum größten Teil sogar auf einem niedrigeren Niveau, als es schon vorher getan worden ist. Also, diese Debatte hat uns in keiner Weise irgendetwas Neues gebracht, sie hat nur vielleicht gezeigt, dass die Medien bereit sind, auf diese Debatten über das Theater ganz groß einzusteigen und die Beschäftigung mit dem Theater selbst, mit den Aufführungen – was ja nicht immer über Kritiken sein muss – immer weiter runtergefahren wird. Und das finde ich eine bedenkliche Sache, was unsere eigene Arbeit angeht.
Fischer: Dann lassen Sie uns zu dem heiteren Städte-Hopping kommen, das in diesem Jahr stattgefunden hat. Viele Theater haben neue Intendanten bekommen, in Hannover beim Thalia Theater, in Hamburg, in Leipzig oder Frankfurt, wir können hier nur auf die ganz großen eingehen und ich schätze mal, Stefan Keim, der Neustart von Matthias Hartmann in Wien ist zumindest ein guter Anwärter für den Flop des Jahres?
Keim: Ja, wobei man das ja immer etwas weiträumiger sehen muss, denn was Matthias Hartmann hier in Wien leistet, sind ja nicht nur die eigenen Regiearbeiten, sondern er macht ja wirklich ein Programm, wo er Leute versammelt in einer Vielfältigkeit, wie es das kein Stadttheater in Deutschland zurzeit leistet. Das Burgtheater ist natürlich auch was anderes, aber neue Stücke von Roland Schimmelpfennig, Regie Alvis Hermanis, Thomas Vinterberg, der dänische Filmemacher, inszeniert hier im nächsten Jahr, David Bösch, dieser junge Regisseur, und Kooperationen mit Off-Theatern bis hin zum Nature Theater of Oklahoma aus den USA – das ist einfach eine Bandbreite, wo schon einfach so viele interessante Aufführungen auch herauskommen, dass ich also Matthias Hartmann im Burgtheater auf keinen Fall als Flop werten würde. Denn da ist einfach so viel Substanz da, weil er es eben als großer Kulturmanager, der er ja ist – vielleicht kein großer Regisseur, aber ein großer Manager –, einfach versteht, alles zusammenzuballen, was es eben gerade Interessantes in der deutschen Theaterszene gibt.
Fischer: Dem gegenüber versucht beim Deutschen Theater in Berlin Ulrich Khuon, der aus Hamburg kam, sozusagen mit seinem alten Team zu reüssieren.
Keim: Und das ist genau das, was mich sehr überrascht hat, denn nicht nur, dass das in Berlin nicht ankommt, sondern dass die Qualität auch so gesunken ist. Ich glaube, dass Ulrich Khuon es durchaus schaffen wird, denn die sind ja jetzt nicht alle schlecht geworden, Andreas Kriegenburg und Gotscheff und wen er da alles mitgebracht hat, und Thalheimer, die inszenieren jetzt ja alle bei ihm, also auch da eine Anhäufung der großen Namen. Und er hat ja auch inhaltlich ein interessantes Konzept gehabt, die Auseinandersetzung mit der sogenannten Dritten Welt, das ist ja immer ein schrecklicher Begriff, oder mit dem, was vom Kolonialismus in uns übriggeblieben ist, das ist ja wirklich spannend gewesen, aber doch sehr kurz gedacht, und irgendwo – ich glaube, dieser riesige Erwartungsdruck scheint Theatermacher auch zu lähmen. Ich stelle fest, dass die Sachen, die mir in dieser Saison wirklich etwas gebracht haben, oft die kleinen Formen waren und oft auch aus den kleineren Städten kamen.
Fischer: Lassen Sie uns kurz noch einen Satz zu Zürich sagen, das ist vielleicht am Schluss dieser Reihe der Neustarts noch einen Blick wert.
Keim: Ja, wobei das gerade da interessant ist, denn ... Es ist natürlich auch interessant, was im Schauspielhaus passiert, aber meine letzten Besuche in Zürich galten beide dem Theater am Neumarkt. Gut, einmal hat da Martin Kusej mit Birgit Minichmayr inszeniert, das sind natürlich auch wieder große Namen. Aber Barbara Weber hatte eine völlig irre Filmperformance gemacht, "Baby Jane", nach einem Melodrama aus den 60er-Jahren, in einem abbruchreifen Haus am Stadtrand, wo man mit der Tram hinfährt, mit der Straßenbahn, und das Theater am Neumarkt ist ein gutes Beispiel dafür, wie aus einem viel kleineren Zusammenhang größere Impulse erwachsen.
Fischer: Es geht ja die Rede davon, dass eigentlich wieder mehr Geschichten erzählt werden auf dem Theater, außerdem hat natürlich die Finanzkrise thematisch in diesem Jahr eine große Rolle gespielt. Ja, was für neue Formen haben Sie entdeckt, woher kommen derzeit – jenseits dieser kleineren Bühnen – die Impulse für die Bühne?
Keim: Geschichten erzählen, das macht auf eine ganz aufregende Art für mich der Nachwuchsdramatiker des Jahres, das ist Jan Neumann, das ist ein junger Mann, der als Schauspieler angefangen hat. Als Letztes lief von ihm "Fundament", eine Auseinandersetzung mit Religion und Extremismus, in Stuttgart. Das ist jemand, der mit den Schauspielern zusammen seine Texte erarbeitet, aber am Ende merkt man das nicht, denn er schafft es, in diesen wenigen Wochen eine literarische Qualität zu erreichen, die großartig ist und trotzdem spürt man noch, dass es die Schauspieler mit entwickelt haben, dass es ihre ganz eigene Sache ist. Geschichten erzählen ist die eine Sache, es gibt immer noch neue Formexperimente. Was ich in der Richtung am spannendsten zurzeit finde, ist Herbert Fritsch. Der entwickelt eine Art neue Commedia dell'arte, eine völlig durchgeknallte, unglaublich komödiantische, artistische Form des Theaters, die einen wahnsinnigen Energiepegel von vorne bis hinten durchhält. Und die entwickelt er nicht an den großen Häusern, sondern an Häusern wie Oberhausen, Wiesbaden und Halle.
Fischer: Lassen Sie uns zum Schluss noch den positiven Schlusspunkt setzen. Was war für Sie die beste Inszenierung oder was waren vielleicht zwei beste Inszenierungen des Jahres?
Keim: Für mich die spannendsten Sachen waren zwei völlig unterschiedliche Arten, mit Klassikern umzugehen. Andrea Breths, "Zerbrochener Krug" bei der Ruhrtriennale – ich habe dieses Stück schon so oft gesehen und hier habe ich wirklich jedes Detail plötzlich verstanden. Das ist so liebevoll ausgemalt, wirklich in die kleinsten Kleinigkeiten hineingeleuchtet. Man braucht Sitzfleisch, man braucht auch da eine gewisse Energie, um das auch durchzuhalten und ausgeruht sein und Wachheit, aber das finde ich, was die klassische Klassikerpflege angeht, ein absolutes Highlight. Dagegen von Karin Bayer den "König Lear" – völlig aufgebrochen, nur mit Frauen besetzt, ein ganz wildes Bildertheater, in Köln, sehr rau, sehr ruppig, sich diesem Stück in seiner ganzen Hässlichkeit auch gestellt, das sind zwei ganz verschiedene, gegensätzliche Arten, Klassiker zu inszenieren, die mich beide begeistert haben.
Fischer: Der Kritiker Stefan Keim über die Tops und Flops des Theaterjahres. Vielen Dank!